Fan-Fiction's

Fanfiction Übersicht - Epik

Titel: Retelling a Story
Autor: Ulrich-Alexander Schmidt
Kurzbeschreibung: Retelling a Story lässt sich nur schwer zusammen fassen. Es ist eine der besten, wenn nicht die beste deutsche Fanfiction die es gibt.

Der Autor führt euch in eine Welt, aus der ihr nicht raus kommt, ehe ihr sie komplett durch gelesen habt.

Allerdings muss ich euch warnen. Mit insgesammt 322176 Wörtern (bei Schriftgröße 10 entspricht dies 857 Seiten) ist sie auch eine der längsten Fanfiction.


Retelling a Story 0:1
Vorwort:
Dies ist der erste Teil einer längeren NGE-FF.
Vier weitere Teile werden folgen und dabei jeweils etwa 6 Episoden der Serie abdecken.
Der fünfte und letzte Teile wird die Episoden 25/26, bzw. EoE behandeln.
Wie der Titel schon andeuten mag, handelt es sich um eine Nacherzählung der ursprünglichen Handlung - da dies allein jedoch ziemlich langweilig und uninteressant wäre, werden die Ereignisse unerwartete Wendungen nehmen, die teilweise im ersten Teil bereits angedeutet werden..
Viel Spaß beim Lesen, ich hoffe auf Kritik und Kommentare.
mailto: ulrich12@gmx.de



Neon Genesis Evangelion - FanFiction


Retelling a Story

0:1

(Episode 01 - 06)

(Abzweigung 04)



von Ulrich-Alexander Schmidt
Fassung vom 02.02.2002




Legal Boilerplate:
NGE und die Charaktere sind Eigentum von GAINAX, etc.pp.



Sämtliche Fehler in der Charakterisierung sind ganz allein mir selbst zuzurechnen.


Dieser FanFic enthält:
Spoiler, endlose langweilige Dialoge, Warm and Fuzzy Feelings, Asuka in Bestform, Sex und sinnlose Gewalt

Ach ja, dies ist die FSK 16 - Version (oder so).
Nein, es gibt keine anderen Versionen.

Alle Figuren, die nicht Eigentum von GAINAX sind, sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder sonstigen Personen ist unbeabsichtigt und daher rein zufällig. Mich verklagen zu wollen, würde nichts bringen, zum einen habe ich kein Geld und zum anderen verfüge ich selbst über Kenntnisse des Rechts.

Zu riesigen Problemen essen Sie bitte die Packungsbeilage und fragen Sie den Arzt Ihres Apothekers.




Einleitung:

Seifenblasen, zahllose Seifenblasen, große und kleine.
Jede dieser Blasen stellt eine Realität, eine mögliche Wirklichkeit, eine Version der Wahrheit dar.

Dies ist das Geheimnis der Kreuzwege...

Etwa 80% der Seifenblasen streben auf einen gemeinsamen Punkt zu, viele sind bereits dabei, sich gegenseitig zu durchdringen und als Ergebnis anzuwachsen. In diesen Realitäten hat ein Third Impact stattgefunden, in diesen Welten sind nur noch Shinji Ikari und Asuka Langley übriggeblieben. - Gut, es gibt auch eine Wirklichkeit, in welcher Touji Suzuhara von Rei-Lilith auserwählt wurde, die Zukunft zu gestalten, aber die fällt nicht weiter ins Gewicht.

In etwa weiteren 10% der möglichen Realitäten ist die Erde menschenleer, auf die eine oder andere Art und Weise haben ihre Einwohner es geschafft, sich noch vor der Jahrtausendwende selbst auszulöschen, oder ist es den Engeln gelungen, Lilith oder Adam zu erreichen, eventuell hat sich dort auch nie eine Menschheit entwickelt - in einer Handvoll Möglichkeiten sind die Dinosaurier nicht ausgestorben und haben sich zu beherrschenden intelligenten Spe-zies der Erde entwickelt, oder wurde die Welt von den Affen übernommen.

Bei weiteren 5% der Wahrscheinlichkeiten hat es nie einen Second Impact gegeben.

In 2% der Realitäten wurde die Erde von Außerirdischen erobert, bzw. einfach überrannt.

Die übrigen 3% jedoch sind jene, in denen Gendo Ikaris Szenario gescheitert ist, in denen der Third Impact abgewendet wurde. Dies ist keine davon...



Prolog:

Der Second Impact hatte das Angesicht der Welt verändert.

Küstenlinien hatten sich verändert, als durch die geschmolzenen Wassermassen, die zuvor als Eis die Antarktis bedeckt hatten, der Meeresspiegel angehoben wurde. Ganze Inselgruppen versanken im Ozean, ganze Nationen wurden binnen eines Herzschlages ausgelöscht.

Die Erde selbst erbebte, als sich in folge der Explosion, welche sich im Südpol ereignet hatte, das Magnetfeld verschob.
Weltweit brachen aktive und längst inaktiv geglaubte Vulkane aus und schleuderten glutflüssiges Gestein kilometerweit durch die Luft. Asche- und Funkenregen fielen auf die Städte
und Dörfer der Menschen.
Stille Bäche schwollen zu reißenden Flüssen an und rissen mit sich, was sie zu fassen bekamen.
Stürme rasten über das Land, wirbelten fort, was sich in ihrem Weg befand.
Häuser stürzten ein, in die Schluchten der Großstädte fielen tödliche Regen aus feinen Glasscherben und Betontrümmern.
Gewaltige Feuer fraßen ganze Stadtviertel, ganze Städte verschwanden vom Angesicht der Welt.
Milliarden von Menschen fielen auf die Knie und beteten zu ihren Göttern.

Armageddon war gekommen...

Doch die Welt ging nicht unter, sie veränderte sich nur.

Die Erdachse hatte sich soweit verschoben, daß das Klima verrückt spielte, als die Natur sich auf die Folgen des Second Impact einzustellen versuchte.
Vier verschiedene Jahreszeiten gab es nicht mehr, nur noch Sommer und Winter, fast ohne Übergangszeiten.

An einem Tag starben mehr Tier- und Pflanzenarten aus, als während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts. Und mit ihnen starben über drei Milliarden Menschen, begraben unter Asche und Lava, verschüttet in den Trümmern ihrer Häuser, ertrunken in den herantosenden Was-sermassen, fortgetragen und achtlos fallengelassen und rasenden Winden, erschlagen von fallenden Trümmerstücken.
Ihre Schreie hallten um Welt, waren an manchen Orten noch Jahre später zu hören...

Für die Generationen, die vor dem Second Impact geboren waren worden, hatte sich die Welt in eine Hölle verwandelt.
Die Zeit nach dem Second Impact sah gewaltige Flüchtlingsströme, die sich aus unbewohnbar gewordenen Gebieten in erträglichere Regionen der Welt wälzten, sah Kriege um diese Regionen und die verbliebenen Rohstoffe, sah weiteres Sterben, sah mehrere Selbstmordwellen, die um den Globus zu rasen schienen, sah vormals fromme Menschen ihren Gott verfluchen...

Der Mensch hatte dies selbst über die Welt gebracht, als er Dinge antastete, für die er vielleicht noch nicht reif war.
Aber die Menschheit bestand fort, paßte sich an, setzte eine neue Generation in diese Welt, begann mit dem Wiederaufbau...

Und irgendwo weinte ein Gott bittere Tränen um das Schicksal seiner Schöpfung...


*** NGE ***


Wenige Tage zuvor:

Niemand würde im Stande sein, über die Ereignisse an jenem verhängnisvollen Tag in der Antarktis zu berichten, die einzige Überlebende der Katsuragi-Expedition würde für Jahre in einen katatonischen Schockzustand verfallen und den Großteil ihrer Erinnerungen verdrängen...

Das Eisfeld nahe des Südpols war zu einem Schlachtfeld geworden.
Das Experiment mit dem schlafenden Giganten war fehlgeschlagen, ein winziges Abweichen vom Plan hatte genügt, den schlafenden Engel ADAM zu erwecken.
Endlos lange Minuten hatten die Menschen der Expedition verharrt und zu dem Riesen emporgeblickt, der sich so unvermittelt aufgesetzt hatte, der sich zu orientieren schien.
Doch mehr als dieser kurze, ungenügende Moment war ihnen nicht vergönnt gewesen...
Plötzlich wurde der polarsommerliche Himmel in grelles Licht getaucht. Und mit einem donnernden Laut fiel ein zweiter Riese vom Himmel, eine weiße humanoide Gestalt mit rotglühenden Augen.
LILITH, der zweite Engel, hatte die Erde erreicht...

Panik erfaßte die Menschen, fluchtartig strebten sie fort von der Ausgrabungsstelle.

ADAM richtete sich auf, wandte sich dem Neuankömmling zu, beugte den Oberkörper nach vorn wie ein Stier, der seinen Gegner erwartet. Um ihn, wie auch um den anderen Giganten, baute sich ein Feld knisternder Energie auf, welches bei Kontakt Eis und Schnee und den darunterliegenden Fels einfach zerschmolzen, welches blitzendes Wetterleuchten hervorrief.

Einer der Wissenschaftler hielt in seiner Flucht inne, wandte sich den Riesen mit einem Meßgerät in den Händen zu, warf einen einzigen Blick auf die Anzeigen und ließ das Gerät fallen.
Ein anderer Mann rief ihm zu, er solle laufen, doch er schüttelte nur den Kopf. Flucht war sinnlos, zwischen den beiden Wesen bauten sich mächtige gegenpolige Kraftfelder auf, die bei Kontakt genügend Energie freisetzen würden, um die Erde zu zerreißen...

Und dann betrat mit einem zuckenden Lichtblitz ein dritter Riese das Feld, ein weitaus menschenähnlicheres Wesen in purpur und grün mit glühenden Augen. Es schien eine schwere Panzerung zu tragen und aus der Stirn ragte ein einzelnes Horn.
Auf den Unterarmschienen der Panzerung war ein Schriftzug zu lesen:
EVANGELION-01-TESTMODELL...



Kapitel 01 - 2005

Mit leerem Blick saß der Junge auf der Schaukel und starrte dem dunklen Wagen hinterher, der in der Ferne verschwand, den Wagen, in dem sein Vater saß, welcher gerade einen seiner seltenen - und in Zukunft immer seltener werdenen - Besuche bei ihm beendet hatte..
Langsam schwang er vor und zurück, die Kette quietsche jedesmal vernehmlich.

Sein Name war Shinji Ikari, er war fünf Jahre alt. Und vor etwas über einem halben Jahr hatte er mitansehen müssen, wie seine Mutter bei einem Experiment die Steuerkapsel eines Mechas bestiegen hatte, ohne diese jemals wieder zu verlassen.
An diesem einen Tag hatte er seine Mutter verloren - und kurz darauf seinen Vater, der ihn mit den Worten, er könnte ihn nicht gebrauchen, bei Pflegeeltern zurückließ...

Shinji fühlte sich allein, furchtbar allein. Er begriff nicht, was mit seiner Mutter geschehen war. Er verstand nicht, weshalb sein Vater ihn im Stich gelassen hatte. Er wußte nicht, warum sein Vater sich ihm gegenüber derart kalt und abweisend verhielt...


*** NGE ***


Das Mädchen in dem Glaszylinder beobachtete mit wachem Blick die Aufzeichnung, welche einer der Bildschirme zeigte. Dabei sah es über die Schulter eines dunkelhaarigen bärtigen Mannes, welcher trotz der herrschenden Lichtverhältnisse eine dunkle Brille trug.

Der Name des Mädchens war Rei Ayanami. Äußerlich schien sie etwa fünf Jahre alt zu sein, tatsächlich jedoch betrug ihr Alter kein halbes Jahr. Und dabei war sie bereits die zweite Rei, welche den großen Klontank in den Eingeweiden des Terminal Dogma in der Geofront verlassen hatte, der zweite Körper mit blasser Haut, blauen Haaren und roten Augen...
Es würde noch einige Wochen dauern, bis sie den mit LCL-Flüssigkeit gefüllten Glaszylinder verlassen konnte, bis das genetische Verbesserungsprogramm abgeschlossen war, welches diesen Körper von seinem Vorgänger unterscheiden sollte.
Dunkel erinnerte sie sich an das Schicksal, welches die erste Rei erlitten hatte, die Bilder waren nur verschwommen - und doch nur allzu real...

Ihr war langweilig, furchtbar langweilig.

Längst hatte sie die Kunst gemeistert, ihre Umgebung bis ins kleinste Detail wahrnehmen zu können, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen.
Die einzige Abwechslung in der ewigen Monotonie war der Kommandant, der sie wenigstens einmal am Tag besuchte, selbst wenn er sie die meiste Zeit ignorierte und an seinen Projekten arbeitete. Rei fragte sich, ob dies die normale Art war, in welcher Menschen miteinander interagierten.

Der Bildschirm zeigte den Kommandanten, den bärtigen Mann, der sich nun die Aufzeichnung ansah, sowie einen dunkelhaarigen Jungen. Die beiden wechselten nur wenige Worte, verhiel-ten sich wie Fremde. - Dabei waren sie Vater und Sohn.
Ihr Verhalten war ein weiterer Baustein in Rei Ayanamis Theorie zur zwischenmenschlichen Interaktion.

Der Kommandant hielt die Aufzeichnung an, das Standbild zeigte das Gesicht seines Sohnes.
Gendo Ikari seufzte leise, dann stand er auf und verließ für einen Moment das Labor.
Während seiner Abwesenheit blickte Rei wie gebannt in das Gesicht auf dem Bildschirm, das Gesicht Shinji Ikaris. Und sie fragte sich, weshalb der Sohn des Kommandanten nicht bei sei-nem Vater war, vielleicht hätte sie in ihm sogar einen guten Spielgefährten gefunden...


*** NGE ***


Mit unbewegter Miene blickte das rothaarige Mädchen auf das frische Grab.
Es fühlte nur Wut und Enttäuschung.

Es hieß Asuka Soryu Langley und das Grab, vor dem es stand, war das Grab seiner Mutter.
Asuka fühlte sich alleingelassen.

Ihr Vater rief ihren Namen, doch sie reagierte nicht, auch nicht, als er sie erneut rief.
Vor einem guten halben Jahr hatte ihre Mutter einen schweren Nervenzusammenbruch gehabt. Danach war es nur noch abwärts gegangen, jeden Tag war Kyoko Soryu mehr in den Wahnsinn abgerutscht, bis sie sich schließlich vor einer knappen Woche das Leben genommen hatte. Und Asuka hatte sie gefunden...

Wieder rief ihr Vater sie, wieder ignorierte sie ihn, sie wünschte sich, er würde ohne sie fahren, würde sie in Ruhe lassen. Sie brauchte ihn nicht, schließlich war er nicht dagewesen, als ihre Mutter und sie ihn gebraucht hatten, hatte stattdessen die Krankheit ihrer Mutter als Grund für die Scheidung angegeben, um für seine Geliebte frei zu sein, welche selbst jetzt im Wagen saß. Sie spürte heiße Wut in sich aufsteigen, wollte sich umdrehen und ihren Vater anbrüllen, er solle verschwinden. Doch sie konnte nicht sprechen, ihr Hals war wie zugeschnürt, während ihre Augen feucht wurden. Trotzdem drehte sie sich um, als sie hörte, wie ein Automotor angelassen wurde.
Sie blinzelte, sah, wie der Wagen ihres Vaters langsam vom Parkplatz rollte, erwiederte den traurigen Blick ihres Vaters mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Er ließ sie tatsächlich allein...

Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Asuka blickte auf, sah in das Gesicht ihrer Patentante.
\"Tante Ann...\"

Die dunkelblonde Frau nahm sie schweigend in den Arm, ignorierte die schwache Gegenwehr des Mädchens.

Neben der Frau stand ein hochgewachsener schwarzhaariger Mann, dessen Augen seltsam leblos wirkten.
\"Dein Vater war damit einverstanden, daß du fürs erste bei uns bleibst, Asuka\", flüsterte er.

Das rothaarige Mädchen nickte nur.



Kapitel 02 - 2015: Ankunft in Tokio-3

\"Komm. Gendo.\"
Nur zwei Worte...
Nur neun Buchstaben...
Mehr enthielt der Brief von seinem Vater, das erste Lebenszeichen seit über einem Jahr, nicht.
Nur zwei Worte...

Shinjis Hände begannen zu zittern, während seine Augen wieder und wieder über das Papier huschten, vergeblich nach weiteren Worten suchten. Nervös wendete er das Papier in seinen Händen.
Dann blickte er auf, sah die beiden älteren Leute an, die sich in den letzten zehn Jahren um ihn gekümmert hatten, seine Pflegeeltern, entfernte Verwandte seiner verstorbenen Mutter. - Allein der Gedanke an seine Mutter versetzte ihm immer noch einen Stich mitten ins Herz.
In den Gesichtern seiner Pflegeeltern stand Erwartung zu lesen... und Hoffnung...
Shinji wurde klar, daß sie den Inhalt des Briefes von seinem Vater kannten... und daß sie hofften, er würde seinem Ruf folgen... Sie wollten ihn loswerden...
Er preßte die Lippen zusammen, zerknüllte das Blatt Papier in der Hand, drehte sich um und rannte aus dem Haus...


*** NGE ***


Zwei Tage später:

Shinji Ikari stand auf Bahnsteig Nummer 4 vom Hauptbahnhof in Tokio-3 in der warmen Frühlingssonne.
Vor fünf Minuten war der Zug, mit dem er gekommen war, abgefahren. Der Bahnsteig war mittlerweile bis auf ihn menschenleer.
Nachdem er sich zum wiederholten Mal umgesehen hatte, holte er den zerknitterten Umschlag aus der Tasche hervor, dessen Eintreffen vor zwei Tagen sein Leben völlig aus der Bahn geworfen hatte, zog den Inhalt heraus. Die zerknüllte und eingerissene Nachricht seines Vaters stopfte er achtlos zurück in den Umschlag, ebenso das entwertete Zugticket, besah sich stattdessen das Photo, welches sich ebenfalls in dem Umschlag befunden hatte. Es zeigte eine junge recht gutaussehende - jedenfalls nach den Maßstäben eines pubertierenden vierzehnjährigen Jungen - Frau mit purpurnen Haar. Sie trug Shorts und eine ärmellose tiefausgeschnittene Bluse, aufgrund ihrer vorgebeugten Körperhaltung war der Ansatz ihres Busens zu erkennen, was noch durch einen Pfeil mit den Worten: \'Sieh dir das an!\' untermalt wurde. Um den Hals trug sie ein silbernes Kreuz.
Kurz zuckten Shinjis Mundwinkel. Dann drehte er das Photo um, las die Nachricht auf der Rückseite: \'Anbei die Zugfahrkarte. Hole dich vom Bahnhof ab. Misato Katsuragi.\'
Natürlich kannte er die Worte inzwischen auswendig, während der mehrstündigen Zugfahrt hatte er sie immer wieder gelesen und sich darüber Gedanken gemacht, wer diese Misato Katsuragi mehr war, und in welchem Verhältnis sie zu seinem Vater stand. Das letzte, was er wollte, war zu erfahren, daß sein Vater vielleicht eine neue Frau oder Lebensgefährtin hatte, daß er das Andenken an seine Mutter beschmutzen könnte...

In der Ferne donnerte es.
Dann flog eine Staffel Kampfflugzeuge über ihn hinweg. Automatisch folgte er ihnen mit den Augen. Und selbige weiteten sich bis zum Anschlag, als er sah, daß die Kampfflieger Raketen auf einen schwarzen Riesen abfeuerten, der gerade hinter den Hügeln in der Ferne aufgetaucht war.

\"Was...?\" flüsterte Shinji.
Der Anblick eines riesigen Urzeit-Dinosauriers hätte ihn möglicherweise nicht derart überrascht, wie das Erscheinen dieses dunklen menschenähnlichen Wesens, selbst auf die Entfer-nung hin konnte er erkennen, daß das Wesen lange affenartige Arme und keinen Kopf hatte, dafür befand sich ein vogelartiges Gesicht mitten auf der Brust.
Ein schwaches Flimmern umgab den Giganten.

Im nächsten Moment explodierten mehrere der Flugzeuge in der Luft. Zugleich erschien ein gutes Dutzend Panzer in Shinjis Sichtfeld und schoß eine weitere Fliegerstaffel heran.

Der Junge stand nur da und starrte. Dann setzte der Fluchtreflex ein. Er warf sich herum - und sah das Mädchen...

Es stand nur da, ein Mädchen in seinem Alter. Es hatte hellblaues Haar und blasse Haut, seine Augen schienen einen gewissen Rotschimmer zu haben, es trug eine Schuluniform aus weißer Bluse und dunkelblauer Jacke und Rock, dazu weiße Socken und blaue Schuhe. Das Mädchen schien ihn direkt anzusehen.

Shinji erstarrte in der Bewegung. Irgendetwas an dem Mädchen schien ihm seltsam vertraut. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um der anderen zuzurufen, was dort in der Ferne vor sich ging...
Ein Schwarm von Tauben flog durch sein Blickfeld, verbarg einen Sekundenbruchteil lang das Mädchen vor seinen Augen. Als die Vögel wieder verschwunden war, war auch das Mädchen fort.

Shinji blinzelte, sah sich rasch um, ohne das Mädchen wiederzufinden.
Dafür konnte er erkennen, daß der Riese sich langsam der Stadt näherte, dabei weitere Kampfflieger zum Absturz oder zur Explosion brachte, Panzerstellungen einfach zerstampfte.

Mit quietschenden Reifen kam ein blauer Sportwagen neben dem Bahnsteig zum Stehen.
Die Fahrerin nahm ihre Sonnenbrille ab.
\"Shinji Ikari, das bist doch du, oder?\"

Der Junge drehte sich um, sah sie an.
Es war dieselbe Frau wie auf dem Photo, nur trug sie jetzt eine rote Jacke und ein schwarzes Barett.
\"J-ja.\" stammelte er. \"Das bin ich.\"

Sie blickte an ihm vorbei zu dem Riesen in der Ferne.
\"Schnell, spring rein, wir haben nicht viel Zeit!\"

\"Ich... ah...\"

\"Los!\"

Im nächsten Moment hatte er seinen Koffer schon auf die Rückbank geworfen und saß auf dem Beifahrersitz. Noch bevor er den Gurt angelegt hatte, gab die Fahrerin bereits Gas und raste los. Glücklicherweise war die Straße leer, inzwischen bemerkte Shinji die Alarmsirenen, die laut heulten, fragte sich, weshalb sie ihm nicht vorher aufgefallen waren.

\"Misato Katsuragi... Captain Misato Katsuragi.\" fand die Frau endlich Zeit, sich vorzustellen.

\"Ahm... sind Sie bei der Armee?\"

\"UN-Friedenstruppen. Ich arbeite für NERV...\"

Dieser Begriff sagte ihm etwas, wenn auch nur wenig. Er wußte, daß sein Vater damit in Verbindung stand. Im nächsten Moment bestätigte sie seine Überlegungen.

\"... für deinen Vater.\"

\"Vater... so...\"
Er fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen. - Und Übelkeit, denn Misato Katsuragi fuhr wie ein Henker...
Immer wieder warf er einen Blick zurück über die Schulter. Und jedesmal mußte er feststellen, daß der schwarze Riese nähergekommen war.
\"Was ist das?\"

\"Der Feind.\" antwortete die Frau mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre ganze Aufmerksam-keit war der Straße gewidmet, die zahlreiche Schlaglöcher und Dellen aufwies; hätte Shinji Gelegenheit gehabt, diese näher in Augenschein zu nehmen, wäre er möglicherweise zu der Erkenntnis gelangt, daß auf dieser Straße zumindest ein Teil der Panzerfahrzeuge, die er zuvor gesehen hatte, gegen den Riesen ausgerückt waren.

\"Er kommt näher!\"

\"Er will zum Hauptquartier.\"
Sie fuhr eine scharfe Kurve, die ihn fast aus dem Wagen schleuderte.

\"Ah...\"
Wieder riß er die Augen auf - eine zweite riesenhafte Gestalt erschien zwischen den Hügeln am Stadtrand, menschenähnlicher als die andere, ein Gigant in weiß und orange mit nur einem großen Auge auf der Stirn.
\"Da... da ist noch einer!\"

Katsuragi blickte nicht hinüber, sah nur auf die Straße vor ihnen, auf welcher jetzt zahlreiche verlassene Pkws standen, fuhr Slaloms um die Wagen herum.
\"Der gehört zu uns.\"

\"Ah... Ist das ein Roboter?\" war alles, was Shinji zustandebrachte.

Der einäugige Riese näherte sich dem anderen mit hoher Geschwindigkeit, holte dabei zum Schlag mit einem entsprechend proportionierten Messer aus. Der andere bemerkte den Angriff, trat zur Seite, fing den Angriff ab, schleuderte seinen Angriff lässig zur Seite.
Der weiß-orange landete auf allen vieren, kam schwankend wieder hoch, griff erneut an, wurde wieder abgeblockt. Der schwarze Riese landete mehrere Schläge in der Leibesmitte seines Kontrahenten, jeder Schlag wurde von einer grellen Lichtexplosion begleitet.

\"Ein EVANGELION...\" Jetzt sah auch Misato Katsuragi zu den Kämpfenden hinüber, der einäugige Riese war klar im Nachteil, steckte nur noch ein, flog in diesem Augenblick nach einem gewaltigen Schwinger rückwärts in einen Hügel hinein, wo er einen Ganzkörperabdruck in der Topographie hinterließ.
\"Mein Gott... Rei...\" flüsterte Misato.

\"W-Was?\"

Der orange-weiße Riese rappelte sich wieder auf, bewegte sich dabei wie ein Betrunkener, führte fahrige Schläge in die Luft, welche weit, sehr weit, danebengingen. Mit einem fast lässigen Schlag mit der flachen Hand gegen den Kopf schleuderte der dunkle Gigant ihn wieder zurück.

\"Er macht sie fertig... holt sie doch endlich zurück...\" stieß Katsuragi hervor.

In diesem Moment schossen erneut Kampfflugzeuge heran und nahmen den schwarzen Riesen mit dem Vogelgesicht unter Beschuß, gaben seinem besiegten Gegner Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Torkelnd verschwand der Gigant in weiß und orange zwischen den Hügeln.
Der schwarze beachtete die Flugzeuge nicht, die ihn wie Insekten umschwirrten, sondern setzte seinen Weg in der ursprünglichen Richtung - auf die Stadt zu - fort.

\"Was ist das für ein Ding?\" rief Shinji panisch.

\"Ein Engel... man kann ihm mit konventionellen Mitteln nichts anhaben... die Küstenverteidigungslinien der UN sind bereits durchbrochen - halt dich fest!\"
Wieder trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Raketen schossen über ihnen durch die Luft, explodierten kurz, bevor sie den Giganten trafen, so als umgebe ihn eine unsichtbare Schutzschicht. Eine vom Kurs abgekommene Rakete traf eines der Gebäude in der Nähe, in der nächsten Sekunde raste Misato durch einen Trümmerha-gel. Immer wieder warf sie jetzt einen nervösen Blick nach oben.
Dann sah sie, wonach sie Ausschau gehalten hatte.
\"Sie wagen es tatsächlich... Runter, Shinji!\"
Noch während sie in die Bremsen stieg, warf sie sich zur Seite und über den Jungen.
Der Wagen war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da ging die Welt in einem grellen Blitz, dem ein dumpfes Grollen und ein leichtes Beben folgten, unter...


*** NGE ***


Es war noch nicht zu Ende, dies stellte Shinji jedenfalls fest, als er die Augen wieder öffnete.
Der Sportwagen lag auf dem Dach, Misato Katsuragi kroch gerade durch das Fenster ins Freie.
Shinji tat es ihr nach, nachdem er sich aus den Gurt befreit hatte.

\"Mein schöner Wagen!\" Misato schien den Tränen nah. \"Mein Baby! Mein armer Liebling! Dabei ist er noch ganz neu!\"

Shinji blickte wieder in die Richtung hinüber, in welcher der Riese sich befunden hatte.
Er war noch da! Allerdings bewegte er sich nicht mehr, sondern stand nur da, steif wie eine Statue.
\"Er... ah... er rührt sich nicht mehr!\"

Misato blickte erst ihn an, dann zu dem Riesen hinüber, nahm langsam die Sonnenbrille ab.
\"Sie haben es tatsächlich getan...\"

Der Riese stand mitten in einem großen Krater, in welchem sich auch der Stadtrand befunden hatte. Die Erde um ihn herum war verbrannt, von den Gebäuden am Stadtrand, die sich im Radius der von den Streitkräften eingesetzten Waffe befunden hatten, standen nur noch die Grundmauern. Auch weiter in die Stadt hinein hatten die Gebäude Schaden genommen.

\"... sie haben tatsächlich eine N2-Aombe eingesetzt... Verdammt, ich müßte jetzt in der Kom-mandozentrale sein...\"

\"Ist er... ist der Engel...\"

\"Tot? - Nein, nur vorläufig aufgehalten, aber der erholt sich wieder. Wir sollten sehen, daß wir ins Hauptquartier kommen.\"
Sie besah sich den Wagen.
\"Komm, faß mit an, den kriegen wir wieder hin.\"

\"Uhm... ja, Misato-san.\"

Tatsächlich gelang es ihnen, den Wagen erst auf die Seite und dann auf die Räder zu drehen, er war aufgrund seiner windschnittigen Bauweise vergleichsweise leicht. Die Windschutzscheibe war gesplittert, die Seite eingebeult und der Seitenspiegel abgerissen.
Mit mißmutigem Gesicht begutachtete Misato den Schaden, schlug kräftig auf die verbeulte Motorhaube, um sie unten zu halten, woraufhin sich die Stoßstange scheppernd löste und sie nur mit Mühe einen Wutschrei unterdrückte.

\"Uhm, Misato-san...\" melde sich Shinji aus dem Wageninneren.

\"Ja?\"

\"Hier piept etwas.\"

\"Was?\"
Sie lief um den Wagen herum und schwang sich ins Innere.
\"Mein Handy...\"
Der Verschluß des Handschuhfaches klemmte, was sie mit einem Faustschlag behob. Zusammen mit dem Handy ergoß sich eine wahre Flut aus Zetteln, Nagellackfläschchen, Lippenstiften, einer leeren Bierdose und diversem anderen Zeug über Shinji.
Misato schnappte sich das immer noch piepende Handy.
\"Ja? - Ja, wir sind noch unterwegs. Ich brauche einen Car-Train an Eingang 4. - Ja, bis gleich.\"
Sie unterbrach die Verbindung und warf das Handy in den Fußraum zu dem anderen Zeug.
\"Und los geht\'s!\"
Beim dritten Versuch sprang der Motor an, es klapperte und schepperte an verschiedenen Stellen des Wagens, als Misato anfuhr.

\"Ah, schaffen wir es denn überhaupt?\"

\"Ja, sicher, der nächste Eingang ist ganz in der Nähe.\"
Sie steuerte den Wagen in einen Tunnel in eine Bahnstation, wo bereits ein Zug auf sie wartete, danach ging es auf dem Autozug weiter, der Tunnel führte abwärts.
Und als sie den Tunnel wieder verließen, stand Shinjis Mund vor Überraschung offen.
Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Höhle, ein kuppelförmiger Hohlraum unter der Erde, einer eigenen kleinen Welt mit eigenem Himmel und Horizont nicht unähnlich. Durch ver-schiedene Schächte fiel von der Oberfläche Licht in den Hohlraum. Von der Decke hingen zahlreiche Gebäude.
Shinjis Blick richtete sich von der Decke auf den Boden des riesigen Hohlraumes. Im Zentrum der Höhle erhob sich eine obsidianschwarze Pyramide, vor welcher der Schienenstrang im Bo-den verschwand.

\"Das... das ist die Geofront...\" stieß er aufgeregt hervor.
Natürlich hatte er bereits von diesem Ort gehört, über welchem die Stadt Tokio-3 errichtet worden war, so seltsam es in einer von Erdbeben erschütterten Regio wie Japan war, es han-delte sich um einen natürlichen Hohlraum von mehreren Kilometern Durchmesser.

\"Ja, die letzte Schutzburg der Menschen, unsere Festung gegen die Engel. Von hier aus beginnt der Wiederaufbau - wenn es uns gelingt, die Engel aufzuhalten.\"

Wieder verschwand der Zug unter der Erde, nur um kurz darauf in einen Endbahnhof einzufahren.

\"Endstation.\" erklärte Misato und stieg aus, warf ihrem Wagen einen letzten traurigen Blick zu, ehe sie sich dem Ausgang zuwandte. \"Komm mit, dein Vater wartet sicher schon.\"

Es ging durch scheinbar endlose Gänge und Flure, über lange Rolltreppen und dann wieder durch ein Labyrinth von Gängen.

\"Seltsam\", murmelte Misato. \"Eigentlich...\"

\"Haben Sie sich verlaufen, Captain Katsuragi?\" erklang eine Frauenstimme hinter ihnen.

Misato drehte sich um, vor den offenstehenden Türen einer Aufzugskabine stand eine Frau ih-res Alters mit wasserstoffblondem Haar, sie trug einen knielangen Rock und etwas, das wie das Oberteil eines Taucheranzuges wirkte, unter einem langen Laborkittel.
\"Ah, Ritsuko, du kommst wie gerufen!\"

\"Der Kommandant wartet bereits auf dich und den Jungen - das ist er doch, der dritte Kandi-dat, oder?\"

\"Ja, Ritsuko, das ist Shinji Ikari. - Shinji, Doktor Ritsuko Akagi, unsere Chefwissenschaftlerin.\"

\"Dritter Kandidat?\" fragte Shinji.

\"Der Kommandant wird es dir erklären.\" wich Misato ihm aus.

Sie traten in den Aufzug.


*** NGE ***


Rei sah nur verschwommen.
Alles war Schmerz...
Die Leuchtkörper unter der Decke jagten dahin, schienen zu einem einzigen zu verschmelzen.
Dumpf erinnerte sie sich, daß sie sich auf einer Trage befand.
Undeutlich drangen die Stimmen der Sanitäter und Ärzte an ihr Ohr, welches die Trage schoben, oder neben ihr herliefen.

\"Vermutlich Milzriß.\" - \"Mehrfach gebrochener Arm.\" - \"Gehirnerschütterung.\" - \"Hoher Blutverlust...\"

Jemand drückte ihr eine Sauerstoffmaske auf das zerschrammte Gesicht.
Das Atmen fiel ihr etwas leichter, schmerzte aber immer noch.

\"Verdacht auf mehrere gebrochene Rippen.\" - \"Die Kleine hat nur knapp überlebt.\"

Die Trage rumpelte über eine Türschwelle, der eigentlich schwache Ruck schickte eine Welle von Schmerz durch ihren Körper.

\"OP ist bereit!\" - \"Blutkonserven...\"

Abrupt wurde die Trage gestoppt.
Rei Ayanami stöhnte unterdrückt vor Schmerz auf.

\"Pilotin Ayanami kann noch nicht in den OP gebracht werden.\" erklärte die Stimme eines älteren Mannes. \"Sie muß möglicherweise noch einmal in den Einsatz.\"

\"Sir, das...\" setzte einer der Ärzte an. \"Das ist unverantwortlich - sie hätte gar nicht erst aus ihrem Krankenbett geholt werden dürfen!\"

Das Gesicht eines grauhaarigen Mannes schob sich in Reis Blickfeld.
\"Rei, das Third Children ist eingetroffen, aber der Kommandant ist nicht sicher, ob es auch bereit ist. Du mußt vielleicht noch einmal raus, verstehst du?\"

Sie hob langsam den Arm, der weniger schmerzte, entfernte die Sauerstoffmaske. Sofort glaubte sie wieder, flüssiges Feuer zu atmen.
\"Ja, Sub-Kommandant... verstehe...\"

\"Es tut mir leid, Rei.\"

\"... ist... meine... Pflicht...\"

Der ältere Mann nickte, wandte sich dann wieder den Medizinern zu.
\"Geben Sie ihr etwas gegen die Schmerzen. Aber sie darf nicht einschlafen.\"

\"Ja, Sub-Kommandant Fuyutsuki.\" murmelte einer der Umstehenden. Die Art, wie er den Namen des Mannes betonte, wirkte, als meinte er in Wirklichkeit den Leibhaftigen...


*** NGE ***


Mit wuchtigen Schlägen und Tritten bearbeitete Asuka Soryu Langley den Sandsack vor ihr.
Das rothaarige Mädchen trug einen Trainingsanzug und Kickbox-Handschuhe und -Fußbekleidung, der Anzug wies an Nacken und Achseln große Schweißflecken auf, ihr ebenfalls verschwitztes Haar wurde von einem Stirnband zurückgehalten.
Jeder ihrer Schläge war Ausdruck der Wut, die in ihr steckte.

Heute war der Todestag ihrer Mutter, sie war gerade vom Besuch am Grab Kyoko Soryus zurückgekehrt, den sie in Begleitung ihres Vaters gemacht hatte, so wie er darauf bestanden hatte. Und natürlich war seine zweite Frau dabeigewesen, die es glücklicherweise längst aufgege-ben hatte, von Asuka \'Mutter\' genannt werden zu wollen, dabeigewesen.
Jetzt befand sie sich im Ausbildungszentrum des deutschen NERV-Zweiges in der Arkologie von Wilhelmshaven und baute ihren Frust ab.
Selbst nach all den Jahren versuchte ihr Vater immer noch, wenn ihm der Sinn danach stand, eine Verbindung zu seiner Tochter aufzubauen, auch wenn er inzwischen Asukas Patentante die Vormundschaft über das Mädchen übertragen hatte.

Mittlerweile schmerzten ihre Hände von den Schlägen, doch sie machte mit zusammengebisse-nen Zähnen weiter.
An jenem Tag, an dem ihre Mutter sich erhängt hatte, war sie vom MARDUK-Institut als Pilotin eines EVANGELIONs ausgewählt worden, das Training war ihre Art gewesen, den Tod der Mutter zu verdrängen. Doch unterschwellig waren all die Gefühle noch vorhanden, Wut, Enttäuschung, Haß...

\"Asuka.\"

Die Stimme riß sie aus ihrem tranceartigen Zustand.
Sie ließ die Fäuste sinken, drehte sich langsam um.
Ihre Augen leuchteten auf, als sie den hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann sah, der neben der Eingangstür stand, einen unrasierten Japaner mit Drei-Tage-Bart. Er wirkte ungewohnt ernst.
\"Kaji!\" rief sie und wollte auf den ihr zugeteilten Sicherheitsexperten zulaufen, stoppte aber, als sie seiner ernsten Miene gewahr wurde.
\"Kaji, was ist?\"

\"Dein Onkel hat gerade angerufen - deine Tante wurde ins Krankenhaus gebracht.\"

Asuka wurde blaß.
\"Was ist mit Tante Ann?\"

\"Asuka, sie ist krank, sehr krank...\"


*** NGE ***


Der Mann saß mit vorgebeugtem Oberkörper auf einem Plastikstuhl auf dem Krankenhausflur, das Gesicht in den Händen verborgen. Er trug einfache Jeans und ein kariertes Hemd, neben ihm lag achtlos hingeworfen eine leichte Jacke. Er hatte schwarzes Haar und kantige Gesichts-züge.
Und er wünschte, imstande zu sein, weinen zu können...

Schritte kamen den Gang hinab.

Er sah auf, sah Kaji und Asuka auf ihn zukommen. Das Mädchen trug noch immer den ver-schwitzten Trainingsanzug.

\"Onkel Wolf, was ist geschehen?\" rief Asuka und beschleunigte ihre Schritte. \"Wo ist Tante Ann?\"

Er deutete auf die Tür, neben der er gewartet hatte.
\"Sie untersuchen sie noch... Asuka, deine Tante liegt im Koma. Sie hat... sie hat...\"
Er preßte die Lippen zusammen.
\"Es ist ein Gehirntumor...\"

\"Nein...\"

\"Sie wußte es schon seit einiger Zeit, aber...\"

\"Mein Mitgefühl, Commander Larsen.\" murmelte Ryoji Kaji.

\"Danke, Major Kaji.\" erwiderte der Mann dumpf, ohne den anderen anzusehen.

Schweigend warteten sie.

Das Erscheinen eines weiteren Mannes unterbrach die Stille, doch es war keiner der Ärzte, nie-mand, der etwas über den Zustand Ann Larsens aussagen konnte, sondern ein Mann in grauem Anzug, schütterem ergrautem Haar und ungesund gelbstichiger Gesichtfarbe, der einen starken Nikotingeruch mit sich brachte.

\"Commander Larsen, endlich finde ich Sie.\"

\"Sir, kann das nicht...\"

Der andere schüttelte den Kopf.
\"Tut mir leid, das kann es nicht. In Tokio-3 ist ein Engel aufgetaucht.\"

\"Oh, verdammt... und was tut NERV?\"

\"Die UN-Truppen sind weltweit in Alarmbereitschaft, das gleiche gilt für sämtliche ODIN-Agenten. Wir haben versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Handy...\"

\"Ich habe es abgestellt.\" antwortete Larsen ohne Gefühlsregung. \"Es beginnt also... was ist nun mit NERV?\"

\"Die UN hat NERV das Oberkommando über die Aktion zugewiesen, nachdem auch der Einsatz einer N2-Miene keinen Erfolg gebracht hat. Der EVANGELION-Prototyp ist im Nah-kampf hoffnungslos unterlegen.\"

\"Also werden sie EVA-01 einsetzen, das Testmodell... wissen Sie inzwischen näheres?\"

\"Nein, noch nicht, keine Ahnung, weshalb unsere Freunde immer derart unruhig werden, sobald sie über Einheit-01 sprechen.\"

\"Und Asuka?\"

\"Man wird sie wahrscheinlich in Bälde anfordern.\"

Larsen senkte den Kopf.
\"Ich will sie nicht auch noch verlieren...\"



Kapitel 03 - Das Wiedersehen

Unter der Führung Ritsuko Akagis erreichten sie sehr bald eine gewaltige Halle, die Shinji an einen großen Wassertank erinnerte, denn anstelle auf festem Boden bewegten sie sich nun über mehrere miteinander verbundene Stege zwischen seltsamen Käfigkonstruktionen, die größtenteils in einer leicht rötlichen Flüssigkeit versenkt waren.

Und schließlich standen sie einem weiteren Riesen gegenüber, nur befand dieser sich völlig reglos bis zu den Schultern in der Flüssigkeit. Der Schrecken über die plötzliche derart direkte Konfrontation mit dem Riesen fuhr Shinji in die Glieder, zugleich stellte ein Teil seines Denkens völlig unkritisch fest, daß das Wasser - oder worum auch immer es sich bei der Flüssigkeit handelte - recht tief sein müßte, während ein wiederum anderer Teil zu der Erkenntnis kam, daß dieser größtenteils versenkte Gigant mit keinem der beiden von draußen identisch war.
Shinji blickte direkt in zwei große leblose Augen, der Riese schien einen Helm mit einem ein-zelnen Horn zu tragen, die dominierenden Farben an dem von ihm sichtbaren Teil waren Purpur und Grün. Unterhalb des Helmes konnte Shinji ein kräftiges Gebiß erkennen.
Die Schultern verbargen sich unter massiv erscheinender Panzerung.

\"Noch ein Roboter...\" keuchte der Junge.

\"Eigentlich ist es kein Roboter\", erklärte Akagi in schulmeisterlichem Tonfall, \"sondern eine von Menschenhand geschaffene Kampfmaschine auf der Basis eines kybernetisch verstärkten biologischen Organismus - der Humanoid EVANGELION. Unser letzter Trumpf. Dies hier ist Einheit-01, das Testmodell. Du hast draußen den Prototypen gesehen.\"

\"Ich... ah... ja... Der Engel hat ihn...\"

\"EVA-00 wurde schwer beschädigt, das ist korrekt, aber sein Einsatz hat uns die nötige Zeit verschafft.\"

\"Gehört... gehört das alles hier auch zur Arbeit meines Vaters?\"

\"So ist es.\"
Es war keine der beiden Frauen gewesen, die ihm geantwortet hatte, sondern eine tiefe Männerstimme bar jeder Emotion.

Shinjis Blick wanderte nach oben. Dort, hinter einer Öffnung in der Wand, war die Silhuette eines Mannes vor hellem Lichtschein zu erkennen. Der Mann tat einen Schritt auf die Kante des Beobachtungsdecks zu, so daß Shinji ihn erkennen konnte.

\"Es ist lange her.\"

\"Papa...\" flüsterte der Junge.

Gendo Ikari verzog keine Miene, seine Augen wirkten kalt, während er seinen Sohn fixierte.
\"Shinji! Hör gut zu, was ich dir jetzt sage: Du wirst in diese Maschine einsteigen und gegen den Engel kämpfen...\"

Shinji glaubte, einen Faustschlag in die Magengrube erhalten zu haben.
Das konnte sein Vater nicht ernst meinen...
Sein Unterkiefer klappte herunter.
\"Was...?\"

\"Warten Sie, Kommandant!\" rief Misato Katsuragi, die nicht weniger überrascht zu sein schien. \"Er ist gerade erst angekommen, er ist völlig untrainiert - selbst Rei hat über ein halbes Jahr gebraucht, um überhaupt Minimalsynchronisation zu erreichen!\"

\"Er muß nur einsteigen, mehr verlange ich nicht.\"
Der ältere Ikari sprach von seinem Sohn in einem Tonfall, als wäre dieser gar nicht anwesend.

\"Aber...\"

\"Captain Katsuragi, muß ich Sie daran erinnern, daß der Kampf gegen den Engel absoluten Vorrang hat? Das Ziel Satchiel konnte zwar durch den Einsatz der N2-Mine vorerst gestoppt werden, ist aber bereits dabei, die Schäden zu regenerieren! Wir müssen einen Menschen in den EntryPlug setzen, dessen Synchronisation mit dem EVA zumindest möglich ist - oder haben Sie eine andere Lösung?\"

Misato biß sich auf die Lippe, senkte den Blick, fühlte sich klein und schwach unter dem kalt brennenden Blick des Kommandanten. Zögerlich blickte sie zur Seite, sah Shinji ab, bewegte lautlos die Lippen zu einem \"Ich habe es versucht...\"

Ritsuko Akagi schob Shinji auf eine Metalleiter zu.
\"Also, komm her, Shinji...\"

Shinji Ikari hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, zu stark zitterten seine Knie. Zugleich konnte er nur langsam verarbeiten, was sein Vater von ihm wollte, daß er ihn nach all der Zeit nur zu sich gerufen hatte, um ihn als... Versuchskaninchen zu verheizen...
\"Das... das kann nicht dein Ernst sein... ich kann... ich kann das nicht!\"

\"Oh, doch! Du bist geeignet, sogar besser als jeder andere Kandidat.\"

\"Warum?\"
Unbewußt öffnete und schloß er die Faust wieder und wieder.
Noch immer zitterten seine Knie. Sein Herz raste. Seine Lippen bebten.
\"Ich verstehe das alles nicht!\" schrie er ohne zu seinem Vater aufzusehen, ohne ihm in die kalten Augen zu blicken, die fast so sehr spiegelten wie die dunkle Brille, welche er sonst immer bei ihren Begegnungen getragen hatte.
\"Ich verstehe nicht!\" wiederholte er, rang nach Atem.

\"Das mußt du auch nicht. Steige ein und kämpfe!\"
Bei Gendo Ikari klang dies fast so, als fordere er seinen Sohn auf, den Müll \'rauszutragen.

Shinji sah wieder in die leblosen Augen des Wesens namens EVANGELION und eine tiefe kreatürliche Angst überkam ihn. Der Riese kam ihm bekannt vor, erweckte die schlimmsten Erinnerungen seiner Kindheit zu neuem Leben. Um keinen Preis der Welt würde sich diesem... Ding auch nur weiter nähern!
Und das sagte er seinem Vater auch:
\"Nein, ich... ich will nicht! Ich kann das nicht... ich werde... ich werde auf keinen Fall einsteigen!\"
Sein Herz pochte sogar noch schneller. Eine eiserne Klammer schien um seine Brust zu liegen.

Eine Antwort blieb aus, sah man von dem eisigen Blick ab, den der Vater auf seinen Sohn richtete.

\"Hast du mich nur deshalb hergeholt?... Damit ich sterbe?... Damit du mich endgültig los bist?\"

Wieder herrschte erdrückendes Schweigen.
Dann antwortete der Mann über ihnen.
\"Wenn du es nicht tust, wird die Menschheit ausgelöscht. Unser aller Leben hängt von dir ab!\"

\"Nein! Ich... ich glaube das... nicht! Ich will nicht!\"
Mittlerweile liefen Tränen über Shinjis Wangen.

Die Temperatur in der gewaltigen Halle schien zu fallen, während Gendo Ikari auf seinen Sohn herabsah.
\"Gut. Ich habe verstanden... Du kannst gehen, einen wie dich kann ich nicht gebrauchen, du bist nur ein nutzloser Feigling, der meine Zeit vergeudet.\"

Shinji preßte die Lippen zusammen.
Feigling...
Sein Vater hatte ihn nie verstehen wollen, es nie versucht...
Feigling...
Und doch traf ihn dieses eine Wort mit unvorstellbarer Zielgenauigkeit mitten ins Herz, ließ nicht zu, daß er Erleichterung verspürte, nicht in die menschenähnliche Maschine steigen zu müssen, erlaubte nicht einmal den Hauch von Befriedigung, ihm gegenüber seinen Willen durchgesetzt zu haben.

Gendo Ikari drehte sich halb um, wandte sich einem Monitor des Interkomsystems des Stützpunktes zu.
\"Fuyutsuki, bring Rei.\"

\"Ihr Zustand ist kritisch, die Verletzung sind teilweise wieder...\"

\"Sie ist noch nicht tot, oder?\"

\"Nein.\"

\"Dann schick sie mir!\"

Der ältere Mann am anderen Ende der Verbindung nickte nur, seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, daß er nur mit schwerem Herzen handelte.

Ritsuko Akagi trat von Shinji zurück, warf ihm einen Blick zu, mit dem man einen Haufen Exkremente begutachtet, in welchen man gerade hineingetreten ist, ehe sie die Metallleiter hinauf-lief und in Richtung eines großen Plexiglasfensters, hinter dem sich undeutliche menschliche Umrisse bewegten, rief: \"Schreibt das Betriebssystem wieder auf Rei um! Schnell, wir haben schon genug Zeit verloren!\"

Shinji stand nur da, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände gegen die Oberschenkel gepreßt, und gab undeutliche schluchzende Geräusche von sich.

Misato Katsuragi legte beruhigend ihm die Hand auf die Schulter, erzielte aber keine Reaktion.
Diese trat allerdings ein, als zwei Männer in Ärztekitteln im Laufschritt eine Rolltrage hereinschoben, auf welcher ein Mensch lag, ein zerbrechlich wirkendes Mädchen in Shinjis Alter mit blasser Haut und blauem Haar. Es trug einen hauteng wirkenden weißen Anzug mit tiefblauen Absätzen, bei dem die Ärmel und ein Bein fehlten. Beide Arme waren verbunden, der eine ein-schließlich der Schulter, während der andere zusätzlich in einem dicken Gips steckte. Ebenfalls verbunden war das Bein vom Oberschenkel bis zum Fuß. Eine weitere Bandage war um ihre Stirn gewickelt, bedeckte dabei das linke Auge. Das andere starrte trüb vor Schmerz zur Decke, es hatte eine tiefrote Farbe.

\"Das...\" flüsterte Shinji leise, konnte den Satz aber einfach nicht vollenden.
Er hatte das Mädchen wiedererkannt, er hatte es bereits gesehen, vorhin auf dem Bahnsteig... vorhin... oder vor einer Ewigkeit...

Gendo Ikari ignorierte seinen Sohn vollkommen, sprach das Mädchen auf der Trage an, aus deren Arm einer der begleitenden Mediziner gerade die Infusionsnadel entfernte.
\"Rei... Wir können deinen Ersatzmann nicht gebrauchen... Du mußt noch einmal \'raus.\"
Diesesmal klang seine Stimme nicht kalt und fordernd, stattdessen schwang in ihr sogar ein Hauch von Sorge mit.

Das Mädchen bewegte die Lippen, preßte ein \"Gut\" hervor, ballte die Rechte zur Faust, ver-suchte dann, sich aufzusetzen und von der Trage aufzustehen. Der Versuch scheiterte schon im Ansatz, sie schaffte es gerade, sich auf die Seite zu drehen.
Ihre Finger gruben sich in den Bezug der Trage, sie biß die Zähne zusammen, verschluckte einen Schmerzensschrei, als sie glaubte, etwas in ihrem Inneren würde zerreißen. Auf ihrem verzerrten Gesicht stand eine dicke Schweißschicht, durch welche heiße Tränen tiefe Bahnen gruben.

Shinji stand nur da und blickte sie an, konnte keinen Muskel rühren.
Der Anblick des Mädchens, welches um jeden Zentimeter kämpfte, während die beiden Mediziner nur teilnahmslos neben der Trage standen, fraß sich tief in sein Herz und sein Denken.
Dieses Mädchen sollte für ihn kämpfen, obwohl es nicht einmal im Stande war, allein aufzustehen... In diesem Moment fühlte er sich wirklich wie Abschaum, wollte sich zu seinem Vater hin umdrehen, als die Halle erzitterte. Shinji blickte zur Decke hinauf, ebenso Misato und Gen-do.

Wieder wurde die Halle erschüttert, diesesmal heftiger.
Etwas krachte.

\"Er... er will durchbrechen...\" vermutete Misato und meinte damit den Engel an der Oberfläche.

Weitere Erschütterungen folgten, heftiger und rascher hintereinander.

Shinji bemerkte, daß die Mediziner eilig die Halle verließen, während das blauhaarige Mädchen immer noch versuchte, sich von der Trage zu schieben.
Die Trage wackelte heftig unter den Erschütterungen, schien auf dem Steg tanzen zu wollen, stürzte dann um.

\"Vorsicht!\" brüllte Shinji im gleichen Moment und löste sich - endlich - aus seiner Erstarrung, lief zu dem Mädchen hinüber, welches nun auf dem Boden lag und einen Schmerzenlaut nicht mehr unterdrücken konnte. Dennoch versuchte es sich weiterhin aufzusetzen, was ihm auch halbwegs gelang, bevor es kraftlos zurücksackte - genau in Shinjis Arme.
Er starrte in ihr Gesicht, während ihn eine weitere Erkenntnis überkam - der Name des Mädchens war Rei, und genau mit diesem Namen hatte Misato den anderen EVANGELION angefeuert - also mußte das Mädchen, dessen Gesicht eine einzige Maske von Schmerz war, das ihn nicht einmal wahrzunehmen schien, der Pilot gewesen sein...

\"Shinji...\" zögerlich näherte sich ihnen Misato Katsuragi. \"Shinji, wir brauchen dich! Du mußt...\" Sie schluckte. \"Shinji, du wußtest, daß es kein freudiges Wiedersehen mit deinem Vater werden würde, oder? Willst du seine Worte einfach so hinnehmen? Wenn du nicht handelst, dann muß... dann wird Rei einsteigen... Bist du wirklich ein solcher Feigling?\"

Shinji antwortete nicht.

\"Lassen Sie ihn, Captain.\" befahl Gendo Ikari, bevor er sich an seinen Sohn wandte. \"Shinji, wenn du gehen willst, dann verschwinde endlich!\"

Langsam hob Shinji den Blick, traf den seines Vaters, wollte ihn zur Hölle wünschen, als ein Teil der Deckenkonstruktion herunterkam...


*** NGE ***


Shinji sah die fallenden Trümmer und handelte instinktiv, indem er sich schützend über das blasse Mädchen warf.

Doch der erwartete Schmerz, die Treffer, mit denen er gerechnet hatte, blieb aus.

Er blickte nach oben, dorthin, wohin auch ein völlig überraschte Misato Katsuragi blickte, welche gerade langsam die schützend über den Kopf gehobenen Arme wieder sinken ließ.

Wie ein schützendes Dach schwebte über ihnen der Unterarm des EVANGELIONs, der die Trümmerstücke abgelenkt hatte. Vom Arm baumelten noch Teile der Käfigkonstuktion, welche ihn in aufrechter Stellung hielten.

\"Das... das...\" haspelte Misato. \"Er hat reagiert, obwohl er gar keine Energie hat... wie ist das...\"

Shinjis Aufmerksamkeit wurde von dem Mädchen in seinen Armen in Anspruch genommen, welches ein dumpfes Stöhnen von sich gab und ihn jetzt direkt ansah, Reis nicht verbundenes Auge war klar und wach.

\"Bist du... bist du in Ordnung?\" fragte Shinji und hätte sich im nächsten Moment mit der Hand gegen die Stirn schlagen können. Natürlich war sie nicht in Ordnung. Nichts war in Ordnung!

Ihre Lippen zitterten, im nächsten Moment wurde ihm klar, daß sie etwas sagte: \"Ikari... Shinji Ikari...\"

Er blinzelte heftig.
Sie kannte seinen Namen... woher?
Ehe er sie fragen konnte, spürte er, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte, zugleich spürte er klebrige Nässe an der Hand, mit der er ihren Rücken stützte.
Langsam zog er die Hand hervor, stellte mit Entsetzen und aufsteigender Übelkeit fest, daß es sich um Blut handelte.
\"Misato-san...\" flüsterte er.

Die Angesprochene warf den Kopf herum und eilte zu ihm.

Vorsichtig legte er Rei in ihre Arme.
\"Sie... sie braucht einen Arzt, sofort...\"
Dann richtete er sich langsam auf und sah seinen Vater an.
\"Ich soll einsteigen?\"
Er ballte die Fäuste derart fest, daß es schmerzte.
\"Du willst es immer noch?\"

Gendo Ikari gab keine Antwort.

\"Gut, ich werde es tun...\"
Damit wandte er sich ab und ging schlurfend und mit hängenden Schultern auf Ritsuko Akagi zu.

\"Na also\", murmelte die Wissenschaftlerin. \"Komm, ich erkläre dir das Steuerungssystem, wir haben nicht viel Zeit...\"

Noch einmal blieb Shinji stehen, warf einen Blick zurück über die Schulter.
\"... aber ich tue es nicht für dich...\"

Den anderen Ikari schienen seine Worte nicht zu berühren, denn seine Mundwinkel zuckten zu einem kurzen triumphierenden Lächeln...



1. Zwischenspiel:

\"Meine Mutter ist tot, sie starb, als ich vier Jahre alt war. Mit meinem Vater habe ich wenig Kontakt, und das ist gut so. Ich lebe bei meiner Patin, Tante Ann, und ihrem Mann, Onkel Wolf. Onkel Wolf ist mir all die Jahre ein besserer Vater gewesen, als mein Erzeuger je hätte sein können, deshalb schreibe ich über ihn und Tante Ann, anstatt über meine Eltern.
Onkel Wolf arbeitet für ODIN, ODIN ist eine Organisation, die im Jahre 2003 zur Bekämpfung des Terrorismus gegründet wurde. Heute ist ODIN der wichtigste Geheimdienst der Vereinten Nationen. Onkel Wolf gehört zu den Außendienstagenten, Tante Ann und ich hoffen, daß er bald in den Innendienst versetzt wird, damit er mehr Zeit zuhause verbringen kann. Wenn das Direktorium von ODIN zu dem Schluß kommt, daß ein böser Mensch dem Weltfrieden gefährlich werden kann, beauftragen sie Onkel Wolf und sein RABEN-Team, sich der Sache anzunehmen. Er tötet den bösen Mann oder die böse Frau dann...\"

Auszug aus einem als Hausarbeit verfaßten Aufsatz zum Thema \"Was meine Eltern tun\" von Asuka Soryu Langley, Sommer 2007. Nichtüberarbeitete Erstfassung.



Kapitel 04 - Die Bestie

Es war eng in der Steuerkapsel des EVANGELIONs, sie war ausgefüllt mit Monitoren und einem einzelnen Sitz, von dem aus man Zugriff auf die Steuerung hatte. Für Shinji war gerade ausreichend Platz, um sich in den Sessel zu schieben, ohne größere Verrenkungen zu unter-nehmen.

Als er in dem Sessel Platz genommen hatte und seine Hände die pistolengriffartigen Steuerelemente umfaßten, fühlte er sich plötzlich ganz ruhig, war die Angst verflogen, hatte dem Willen Platz gemacht, es seinem Vater zu zeigen, ihm zu beweisen, daß er sich irrte, daß er kein Feigling war, daß er kein Recht hatte, ihn so zu nennen... Sicher würde er das einsehen, wenn er für ihn gegen den Engel kämpfte...

Engel...
Wie konnte man nur auf eine solche Bezeichnung kommen?
Jeder, der das dunkle Wesen bei seinem Marsch auf die Stadt gesehen hatte, konnte es nur für einen Dämon halten, ein Ungeheuer, das einem Alptraum entsprungen war...

Ein Rucken verriet, daß die Kapsel bewegt wurde, zugleich erhellte sich ein kleiner Bildschirm seitlich des Hauptmonitors, einer von insgesamt sechs, das Bild zeigte Ritsuko Akagi zusam-men mit der Bildunterschrift: NERV-Kommandozentrale. ComLink Aktiv. Live-Übertragung.
\"Der Plug wird jetzt in den Steuernerv des EVA eingeführt.\"

Shinji nickte nur, starrte an ihr vorbei auf den immer noch dunklen Hauptbildschirm.

Der Sitz mitsamt der Steuerung bewegte sich leicht, paßte sich dem neuen Winkel der Kapsel an. Ein letzter Ruck, das Geräusch schließender Verankerungen und der EntryPlug hatte seine neue Position eingenommen.

Noch war der Bildschirm dunkel.

Akagis Gesicht war nicht mehr der Kamera zugewandt, sondern irgendwelchen Anlagen im Hintergrund.
Eine junge Frauenstimme meldete, daß die Fixierung des Plugs abgeschlossen war.
Akagi nickte.
\"EntryPlug fluten!\"

\"Ah...\" setzte Shinji zum Protest an. Fluten - das klang gar nicht gut, das klang in seinen Ohren überhaupt nicht gut, zumal plötzlich aus dem Bodengitter eine klare, wenn auch leicht rötlich schimmernde Flüssigkeit aufzusteigen begann.
\"Was... ich... wollt ihr mich ertränken?\" schrie er, der erneut erwachenden Panik nachgebend.

\"Keine Angst\", kam es ruhig von Akagi, die nicht einmal auf den Bildschirm sah, \"wenn deine Lunge mit LCL gefüllt ist, kann sie den Sauerstoff direkt aus der Flüssigkeit aufnehmen.\"

Wieder setzte Shinji zum Protest an, schließlich hatte niemand etwas gesagt, daß er irgendwel-che Flüssigkeiten atmen sollte - außerdem war er kein Fisch, wie sollte er diese klare Brühe atmen können, das war doch völlig unmöglich! Doch die schnell ansteigende Flüssigkeit schlug über seinem Kopf zusammen.

Prustend versuchte er, den Kopf über Wasser zu halten, aber da machte ihm der Kreuzgurt einen Strich durch die Rechnung, der ihn an den Sitz fesselte.
Shinji konnte nicht schwimmen, hatte es nie lernen wollen, sein stärkster Kontakt mit Wasser fand in der Badewanne statt - und eine der Sachen, die er am meisten haßte, war es, mit dem Kopf unterzutauchen.
Doch ihm blieb keine andere Wahl...

\"Halt durch! Du gewöhnst dich schnell daran!\" versuchte Misato ihm Mut zu machen, welche Akagi zur Seite geschoben hatte.

Shinji blähte die Backen auf.
Kleine Luftblasen quollen ihm aus Mund und Nase.
Seine Lungen schrien förmlich nach Sauerstoff, zugleich fingen seine Augen an zu brennen.
Und schließlich gab er nach, konnte den Atem nicht länger anhalten, ergab sich den seiner An-sicht nach ertränkenden Wassermassen.
Die von Ritsuko Akagi als LCL bezeichnete Flüssigkeit drang ihm in den Mund, flutete Nase und Mundhöhle.
Er würgte, wollte die Flüssigkeit ausspucken, hatte einen Geschmack wie von alter feuchter Pappe im Mund... konnte atmen...
Der erste Atemzug geschah geradezu unbemerkt, der zweite machte ihm klar, daß er so schnell noch nicht sterben würde, daß die Flüssigkeit tatsächlich atembar war.

Nur mit halbem Ohr lauschte er den Durchsagen aus dem Kommandoraum.
\"Steuerungsprogramm umgeschrieben.\" - \"Hauptstromquelle angeschlossen, interne Akkus ge-laden!\" - \"A-10 Nervenverbindungen geschlossen. Keine Komplikationen!\" - \"Alle Primärkontakte online.\" - \"Synchronisationsfehler unterhalb von 0,3%!\"

\"Phantastisch...\" murmelte Akagi. \"Und gleich auf Anhieb...\"

Shinji spürte einen anwachsenden Druck in seinem Kopf, einen Druck, der sich direkt auf seinen Geist ausübte wie von einer Klammer. Er fühlte sich seltsam vergrößert, so als ob sein Körper plötzlich um ein Vielfaches gewachsen wäre, spürte nicht nur die LCL-Flüssigkeit, die seinen Körper, sondern auch den des EVAs bis zu den Schultern umgab, spürte das Metallgit-ter, auf dem der Koloß auf dem Boden der gefluteten Halle stand, spürte das Gewicht der Panzerung, spürte jeden einzelnen der Kontakte, wo der EVA noch mit dem Haltegerüst verbun-den war, Kontakte, die einer nach dem anderen gelöst wurden.
Der Hauptmonitor leuchtete auf, doch dies war eigentlich gar nicht nötig, denn Shinji glaubte, durch die Augen des EVAs zu blicken.

Es war atemberaubend, die Fülle an Eindrücken, die auf ihn einstürmte, unbeschreiblich.
Die Menschen im Testzentrum, die Techniker, die sich auf den verschiedenen Stegen befanden, alle wirkten wie Zwerge aus dem Blickwinkel des EVAs.

Auf dem ComLink-Monitor war deutlich zu erkennen, wie Misato Katsuragi schluckte. Dann erklärte sie mit fester Stimme: \"Einheit EVANGELION-01, vorbereiten zum Start!\"

Shinji spürte, wie unter ihm Maschinen anliefen, ein weiterer kleiner Monitor neben dem Hauptbildschirm, aber auf der anderen Seite als die ComLink-Monitore, verkündete in großen Lettern:
STARTVORBEREITUNGEN ABGESCHLOSSEN. ENERGIEVORRAT --:--:--

Die Segmente des Käfigs, der EVA-01 bisher gehalten hatte, öffneten sich.
Shinji fühlte sich angehoben, sah nach unten, sah durch die Augen des EVAs, daß dieser auf einer Liftplattform aus dem großen LCL-Becken gehoben und schräg nach oben zu einem von mehreren senkrecht nach oben führenden Schächten transportiert wurde.

Versuchsweise ballte er eine Hand zur Faust, verfolgte, wie der EVA ohne Verzögerung seinen geistigen Befehlen nachkam.
Doch da war noch etwas...
Einen Moment lang hatte er das Gefühl, nicht allein in der Steuerkapsel zu sein, glaubte er, einen huschenden Schatten wahrzunehmen.
\"Mi-Misato-san...\" flüsterte Shinji, während seine Augen suchend hin- und herhuschten, ohne eine zweite Person in der Kapsel zu finden.

Katsuragi bemerkte seine Probleme nicht, denn sie blickte gerade zu Gendo Ikari hinauf, der von seinem höhergelegenen Kommandoposten aus das Geschehen in der Zentrale beobachtete.
\"Sir, EVA-01 befindet sich in Gate 5 auf Stand-By. Starten?\"

\"Natürlich.\" erklärte der ältere Ikari, der mit gefalteten Händen hinter seinem Tisch saß, die Ellenbogen auf die Platte gestützt, und durch seine dunkle Brille über den Grat seiner Fingerknöchel blickte. \"Wenn wir den Engel nicht vernichten, gibt es für uns keine Zukunft.\"

Misato nickte, wandte sich den Wissenschaftlern und Offizieren zu.
\"Start!\"

Und EVA-01 schoß in die Höhe, der Oberfläche entgegen...


*** NGE ***


Shinji wurde von den entstehenden Andruckkräften in den Sitz gepreßt, die ihm sogar das LCL aus den Lungen drückten.
Der Bildschirm links neben dem Hauptmonitor zeigte ihm die rasch schrumpfende Entfernung zur Oberfläche und den in wenigen Sekunden meßbaren Zeitraum, den er für die verbleibende Strecke noch benötigte.

Dann endete der Höllenritt ebenso abrupt, wie er begonnen hatte, als EVA-01 aus einer riesigen Toröffnung, welche sich im Boden einer der von Bäumen gesäumten Hauptverkehrsadern von Tokio-3 geöffnet hatte, schoß.

EVA-01 stand aufrecht mitten in der nächtlichen Stadt, über ein Versorgungskabel an seinem Rücken erhielt er Energie, das Licht der Sterne reflektierte sich in seiner Rüstung - und etwas tiefer das Licht der Staßenlaternen, denn EVA-01 überragte die meisten Gebäude von Tokio-3

Leider galt letzteres auch für den Engel, dem der EVANGELION sich gegenübersah...

Shinjis erster Reflex, auf der Stelle kehrtzumachen und aus der Stadt zu flüchten, wurde von den letzten Sicherheitssperren vereitelt. Selbst jetzt, wo er sich auf einer Höhe mit dem dunklen Giganten befand, wirkte dieser nicht minder furchteinflößend.

\"Shinji, alles klar?\" drang Misatos Stimme aus dem in die Kopflehne integrierten Lautsprecher.

Dem Jungen liefen trotz der Tatsache, daß er sich völlig in der LCL-Flüssigkeit befand, dicke Schweißperlen über das Gesicht, als er nickte und ein \"J-j-ja\" stammelte.

\"Letzte Sperren lösen! EVANGELION-01: Lift off!\" kam es aus dem Lautsprecher. Und dann leiser, viel leiser: \"Viel Glück, Shinji-kun...\"


*** NGE ***


Durch die Augen des EVA starrte Shinji den Engel an, bei dem es sich laut Computermittei-lung auf dem taktischen Schirm unterhalb der Energieanzeige um \'Ziel: Satchiel\' handelte.

Der taktische Schirm war in viele kleine Felder unterteilt, von denen jedes eine andere Körper-partie des Engels in Vergrößerung zeigte, bei der es sich um einen Schwachpunkt handeln konnte.

Ebenso schien der andere ihn zu mustern, ihn einzuschätzen zu versuchen.

Längst stand der EVA nicht mehr so kerzengerade wie zu dem Zeitpunkt, als er den Schacht verlassen hatte. Nach dem Lösen der letzten Klammern hatte er ohne Shinjis Zutun den Oberkörper vorgebeugt und erinnerte von einer Haltung her jetzt eher an einen Affen als an einen Menschen.

In der Vergrößerung wirkte der Engel noch bedrohlicher, unterhalb des mitten auf der Brust befindlichen Vogelschädels war der Brustkorb geteilt, zwei dicke Knochen, die mit rippenar-tigen Querverbindungen versehen waren, umschlossen ein pulsierendes Etwas, welches der Computer mit dicken roten Symbolen markierte, demnach handelte es sich mit 63,8%iger Wahrscheinlichkeit um das Herz des Engels.

Seit Auftauchen des EVAs hatte sich der Engel nicht gerührt, stand nur da, dunkel, schwei-gend und furchteinflößend, schien auf eine Reaktion des anderen zu warten, war sich vielleicht sicher, auch mit diesem Gegner leichtes Spiel zu haben, so wie mit dem anderen in den Hügeln.

\"Shinji\", meldete sich Misato wieder, riß den Jungen damit aus seiner Betrachtung des Engels, \"Du mußt loslaufen!\"

\"Laufen?\" wiederholte Shinji.
Der ungewohnte Körper des EVAs schien zu schwanken, die veränderte Perspektive flößte ihm fast noch mehr Angst ein, als der Engel. Es war eine Sache, durch die Augen des Giganten zu blicken, ebenso wie es eine Sache war, einzelne Finger zu bewegen, oder eine Faust zu bal-len - aber laufen?
\"Wie... wie mache ich das?\"

Misato wechselte einen kurzen Blick mit Akagi, welche Shinji wahrscheinlich eine viel bessere und detaillierte Erklärung hätte geben können, sich aber zurückhielt, so daß der Captain impro-visieren mußte.
\"Du brauchst es nur zu denken. Konzentriere dich und denke \'Laufen\'!\"

Shinji nickte abgehackt, kniff die Augenlider zusammen.
Laufen...
Keine Reaktion...
Laufen...
Etwas geschah!
Der EVA bewegte sich, hob einen Fuß an, setzte ihn vor, verharrte in dieser Haltung wie ein Sportler, der auf den Startschuß für ein Rennen wartet.
\"Es... es klappt!\"
Der EVA drückte das Bein durch, zog den anderen Fuß nach, setzte nun diesen vor, tat den nächsten Schritt.
Für Shinji war es fast unglaublich, es kam ihm vor, als wäre er selbst es, der gerade die ersten Schritte tat.

Doch noch mehr beeindruckt waren die beiden Frauen im Kommandostand, Misato Katsuragi und Ritsuko Akagi, die eine, weil sie tief in ihrem Inneren an einem Erfolg gezweifelt hatte, die andere aus Befriedigung, daß ihre Schöpfung funktionierte wie geplant.

Der EVA tat einen Schritt nach dem anderen, wurde dabei immer schneller, aus schrittweisem Schleichen wurde ein normaler Gang, daraus ein zügiges Ausschreiten, welches zu einem schnellen Lauf wurde, in dem der EVANGELION auf seinen Gegner zuraste.

Shinjis Hände krampften sich um die Steuerung. Er fühlte sich außerstande, den EVA anzu-halten. Da war es wieder, das Gefühl, nicht allein zu sein, doch diesesmal äußerte es sich in einer Art Gedankenecho, das aus einer tiefen Schlucht zu kommen schien. Er fühlte Wut, Wut auf seinen Vater, die sich nun gegen den Engel richtete. Er fühlte Zorn, selbstzerstörerischen Zorn, der ihn den EVA weiter auf den Engel zustürmen ließ. Er spürte ein schier unglaubliches Gefühl von Freiheit, als er zwischen den Häuserreihen auf den dunklen Giganten zustürmte. Und er spürte Haß, unendlichen Haß, der sich in sein Denken fraß, Den Haß eines anderen auf alles Leben, der in diesem Augenblick zu seinem eigenen wurde, eine kalte Dunkelheit, die nach seinem Herzen zu greifen schien, die ihn Misatos Aufforderung abzuwarten, ignorieren ließ, ihn stattdessen noch schneller rennen ließ.
Er wollte den Engel besiegen. Er wollte ihn töten, nicht, weil er dadurch die Stadt retten konnte, sondern weil er den Gegner verletzen, weil er ihn zerreißen wollte...

Ein lauter Wutschrei kam über seine Lippen, ein Kampfschrei, der eher zu einem urzeitlichen Vorfahren des Menschen gepaßt hätte, als zu einem vierzehnjährigen Jungen.

Die Entfernung zu dem Engel verringerte sich, nur nebenbei nahm er die taktischen Anzeigen wahr, ignorierte das rote Warnleuchten.
Jetzt war er fast auf Armeslänge heran, grub in seiner Vorstellung bereits die Finger in die Hautmembran, die das Herz des Engels überzog, um es ihm herauszureißen, um es... zu... verspeisen... glaubte bereits, den Geschmack heißen Blutes auf den Lippen spüren zu können und das letzte pulsierende Zucken seiner Beute...

Und wurde gestoppt, als er gegen das unsichtbare Schutzfeld prallte, welches den Engel um-gab.
Schützend riß Shinji instinktiv die Arme vor das Gesicht.
Der EVA kam aus dem Rhythmus, stolperte, stürzte seitlich an dem Engel vorbei.
Zugleich verlor die Verbindung zwischen Maschine und Piloten an Kraft, wurde Shinji sich wieder seines eigenen Körpers in der Steuerkapsel gewahr.

EVA-01 stürzte nach vorn, rührte aus eigener Kraft keinen Finger, um den Sturz abzufangen, während der Junge im EntryPlug noch völlig unter dem Bann desssen stand, was er eben erlebt hatte.
Der Sturz endete schlagartig, als der Engel zupackte und den EVA in die Höhe riß. Der Hauptmonitor zeigte kein vollständiges Blick mehr, da eine Pranke des Engels teilweise die Augen bedeckte. Mit einer Hand stemmte der Engel den EVA an der Kopfpanzerung nach oben, begann, Druck auf den Schädel auszuüben.

Shinji schrie auf, vermeinte, sein eigener Kopf befände sich in einer langsam zudrückenden Schraubzwinge. Ein greller Blitz erhellte den EntryPlug, als aus der Hand des Engels ein Energieblitz schloß und in die Schädelpanzerung einschlug, blendete den Jungen.
Der taktische Bildschirm zeigte einen Schadensreport zusammen mit einer Darstellung der ent-sprechenden Region. Der Kopfschutz zeigte Risse...

\"Lauf weg! Shinji, du mußt... Bitte, hör zu, lauf weg!\" schrie Misato.

Shinji wollte den Arm heben, wollte EVA-01 dazu bringen, den Arm zu heben, um gegen den Griff des Engels vorzugehen. Doch dieser bemerkte die ruckartige Bewegung und griff seinerseits zu, packte den Unterarm des EVANGELIONs, brach ihn mit einer spielerisch anmuten-den Geste.

Ein mentaler Schrei hallte in Shinjis Kopf wieder, der Schmerz des EVAs durchfuhr den Jungen, pflanzte sich durch dessen Körper fort, schien von seinem eigenen Arm auszugehen. Shinji war unfähig, die Hand zu bewegen, der ganze Arm schien in Flammen zu stehen, obwohl dem Arm nichts derartiges anzusehen war, glaubte Shinji zu spüren, wie gebrochene Knochen an-einanderrieben.
Und jetzt brüllte auch er vor Schmerz.

\"Shinji, beruhige dich! Was er festhält, ist nicht dein Arm, es scheint dir nur so wegen der Synchronisation! Du mußt da weg!\"

Shinji hörte sie, doch er verstand die Worte nicht, die Schmerzen bildeten eine Mauer um seinen Geist, welche Misato nicht durchdringen konnte.
Dann wurde es erneut hell im EntryPlug, als der Engel seinen Energieblitz einsetzte.
Der Junge glaubte, mit einem Vorschlaghammer gegen die Stirn getroffen worden zu sein, preßte jene Hand, in der er noch Gefühl hatte, deren Arm er noch bewegen konnte, gegen die Stirn.

EVA-01 wurde schlaff im Griff des Engels.
Und wie ein Kind, welches kein Gefallen mehr an seinem Spielzeug fand, schleuderte dieser den EVANGELION wie eine Puppe, deren Schnüre durchtrennt wurden, fort. Mit voller Wucht flog der EVA in ein Gebäude hinein, sackte in sich zusammen.


*** NGE ***


Einen Moment lang herrschte völlige Stille in der Zentrale.
Der Engel hatte die einzige, die letzte Waffe der Menschheit besiegt, ohne sich dabei sonderlich anzustrengen...

Jemand begann leise zu beten, während ein anderer die Schadensmeldungen herunterrasselte, die über die Verbindung zum taktischen Computer der Einheit hereinkamen.
\"Schaden am Kopfbereich. Art: unbekannt. Schwere: unbekannt.Stromkreise im linken Arm unterbrochen. Kontrollnerven gestört. Synchronrate fällt rapide. Zustand des Piloten im kritischen Bereich, Puls fängt an zu stocken. Lebenserhaltung ausgefallen. Keine Reaktion auf Steuerungssignale. Keine Reaktion auf versuchte Fernsteuerung durch MAGI. Signale werden abgelehnt. EVA-01 ist völlig still!\"

Misato hörte nur mit einem Ohr den Meldungen zu, für sie war die Lage bereits aus dem Bild auf dem gewaltigen, aus vielen Einzelbildschirmen bestehenden Monitor in der Kommandozentrale ersichtlich, welches den regungslosen EVA-01 zwischen den Trümmern des Gebäudes, in welches er wie eine Bombe hineingeschlagen war, zeigte.
\"Operation abbrechen! Der Einsatz ist gescheitert! Wir müssen versuchen, den Plug zu bergen!\"

Ritsukos wissenschaftliche Assistentin wandte sich ihr zu.
\"Unmöglich, Captain! Der EVA reagiert nicht, er ist völlig außer Kontrolle!\"

\"Was?\"
Dann sah sie es selbst...


*** NGE ***


EVA-01 bewegte sich!

Die gerade erst scheinbar für immer erloschenen Augen glühten auf, heller und kräftiger als zuvor.
Die Kiefer öffneten sich, entblößten ein kräftiges Gebiß.
Dann stieß der EVANGELION einen langanhaltenden Schrei aus, der ebenso von Schmerz wie auch von Wut und Haß kündete.
Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung richtete er sich auf. Der verletzte, zerquetschte und gebrochene Arm zuckte. Unter der Oberfläche schien sich etwas zu bewegen, dann fügte sich der Knochen von selbst zusammen, regenerierte sich der Schaden schneller, als das menschliche Auge es verfolgen konnte.
Der nicht vom Helm verborgene Teil des Gesichtes von EVA-01 schien sich zu einem breiten Grinsen zu verziehen, als wollte der EVA seinem Gegner zeigen, daß er bereit war zur zweiten Runde...

Der Junge jedoch, welcher den Koloß eigentlich in den Kampf steuern sollte, saß teilnahmslos mit glasigem Blick in seinem Sitz, anstatt auf der Steuerung lagen seine Hände in seinem Schoß und zitterten unkontrolliert...

Der EVANGELION beugte sich vor wie ein tollwütiger Stier, senkte den Kopf mit dem Horn, und rannte los, als wollte er den Engel aufspießen.

Der Engel wandte sich ihm zu, schien durch seine Haltung zu signalisieren, daß er bereits war, den Angriff anzunehmen, schien Siegesgewißheit auszudrücken, schließlich hatte er den purpur-grünen Gegner doch gerade erst regelrecht ohne nennenswerte Gegenwehr in den Boden gerammt.

Wieder raste EVA-01 auf seinen Gegner zu, schien dem gleichen Angriffsmuster zu folgen, wie beim ersten Mal.

Der Vogelkopf des Engels schien vor Erwartung leicht zu zittern, als der dunkle Riese sich leicht vorbeugte, um dem Ansturm des anderen besser begegnen zu können.

Doch unvorhersehbar für den Engel änderte der EVA seine Taktik, sprang plötzlich hoch in die Luft, flog, die zu Klauen gespreizten Finger seiner Hände voran, auf seinen Feind zu, Blutdurst in den Augen.
Wieder traf er auf das Schirmfeld des Engels, doch diesesmal prallte er weder ab, noch ließ er sich aus dem Takt bringen oder stürzte gar, diesesmal trieb er die Klauen direkt in das Feld hinein, schuf eine Lücke, die er kraftvoll erweiterte, indem er selbst ein ähnliches Feld projizierte. Dann hatte er die Barriere überwunden, griff den Engel selbst an.

Dessen Versuch einer Gegenwehr ging völlig in dem raschen, ebenso entschlossenen wie machtvollen Angriff des EVA unter. Mit einem kräftigen Tritt zerschmetterte EVA-01 das rechte Knie seines Gegners, so daß dieser zur Seite knickte und einen hellen zwitschernden Schmerzenslaut ausstieß, während der EVA selbst ein dumpfes Grollen von sich gab und noch einmal nachtrat, so als wollte er sich für die ihm zuvor zugefügten Schmerzen revanchieren.
Dann stieß er mit beiden Händen gleichzeitig zu, stieß sie in den Leib des Engels, stieß sie direkt in sein Herz.

Der Engel zuckte heftig, während die Hände des EVAs in seinem Inneren wüteten, warf sich mit einem letzten Kraftaufwand in die Höhe, schien seinen Gegner umarmen zu wollen, während er zugleich von innen heraus zu leuchten begann.

Dann endete der so plötzlich von einem Ungleichgewicht zum anderen herumgeschwenkte Kampf in einer von einem Lichtblitz begleiteten Explosion...


*** NGE ***


Misato Katsuragi blickte wie gebannt auf den Bildschirm, beobachtete den Kampf des wiederauferstandenen EVA-01 gegen seinen Gegner, nahm voller Überraschung die Regeneration des beschädigten Armes zur Kenntnis, wie auch Ritsuko Akagis Kommentar, daß Shinji eigentlich gar nicht der Lage sein dürfte, angesichts seiner kaum noch vorhandenen Synchronisation mit dem EVA irgendwelche Bewegungen, geschweige denn Kampfmanöver, zu vollziehen.

Dann prallte der EVA auf das Schirmfeld des Engels, noch immer übertrug der taktische Com-puter die gesammelten Daten zur Auswertung an den Hauptcomputer in den Eingeweiden des CentralDogma, dem Hauptquartier von NERV.

\"Existenz des AT-Feldes bestätigt\", raunte einer der Brückenoffiziere, ein langhaariger noch recht junger Mann.

\"Absolute Terror Field...\" murmelte Misato. \"Der ultimative Schutzschild der Engel...\"

\"Captain, EVA-01 scheint... die Einheit baut ebenfalls ein AT-Feld auf!\"

\"Ritsuko?\"

\"Es stimmt, Misato... Und das ohne Training. Er baut ein AT-Felder mit dem des Engel gegen-läufiger Polarität auf!\"

\"Kann er... kann er das Feld des Engels durchbrechen?\"

\"Können? Er tut es bereits.\"

Der Kampf näherte sich in rasender Eile dem Ende, EVA-01 schlug seinen Gegner regelrecht zusammen, stoppte jede Gegenwehr im Keim. Dann riß er ihm das Herz aus der Brust.

\"Er hat den Kern des Engels separiert!\" - \"Starker Energieanstieg festgestellt! MAGI warnen... Der Engel hat ein Art Selbstzerstörung aktiviert!\"

\"Shinji, weg! Er sprengt sich selbst...\"

Noch bevor Misato ihre Warnung beenden konnte, explodiert der Engel.
Erneut tobte eine Druckwelle durch die Straßen von Tokio-3, ließ Fenster zerbersten, entlaubte und entwurzelte Bäume, brachte nahe Häuser zum Einsturz und atominisierte die nächstgelegenen. Dort, wo die beiden Giganten eben noch gegeneinander gekämpft hatte, tobte ein flammendes Inferno, die Flammen schlugen teilweise höher als die umliegenden Häuser.
Der mit dem städtischen Beobachtungssystem verbundene Hauptcomputer vermeldete einen Totalausfall der Kameras im betroffenen Block und schaltete auf weiter entfernte Geräte um.

\"Oh, mein Gott... der arme Junge...\" flüsterte Misato.

Das Feuer wütete unkontrolliert, der Computer schätzte die Temperaturen im Zentrum, dort wo der Engel sich gesprengt hatte, vorsichtig auf hoch genug, daß selbst bester Stahl wie But-ter in der Sonne schmelzen würde.

Misato schluckte.
Sie hatten gesiegt... nein, der Junge hatte für sie gesiegt... doch das konnte er nicht überlebt haben...
Kurz blickte sie zu Kommandant Ikari auf, der immer noch nach vorn gebeugt an seinem Pult saß, immer noch über den Grat seiner gefaltenen Hände auf das Geschehen hinabblickte. Seinem Gesicht war keine Regung zu entnehmen, kein Muskelzucken, weder Triumph über den Sieg, noch Bedauern über das Schicksal seines Sohnes.

\"Captain Katsuragi...\" versuchte einer der Offiziere ihre Aufmerksamkeit zu erringen.

\"Ja, Leutnant Hyuga?\"

\"Wir empfangen immer noch Signale vom taktischen Computer von Einheit-01... Der EVANGELION muß noch immer irgendwo in dieser Flammenhölle sein.\"

\"Wirklich?!\"

\"Misato, da!\"
Ritsuko Akagi deutete auf den Bildschirm.

Ohne Anweisung zoomte die Kamera näher heran auf ein Objekt, das sich hinter der Flammenwand bewegte, welches direkt aus der Hölle zu kommen schien.
Die Flammen brachen auf, wurde beiseite geschoben wie ein Vorhang von Geisterhand. Aus ihnen hervor trat EVA-01, dessen Haltung nur eines auszudrücken schien: Triumph!



Kapitel 05 - Schwarze See

Die Wellen schlugen über ihm zusammen.

Shinji versank in den LCL-Massen, doch es war keine klare Flüssigkeit mehr, sondern eine ölige schwarze Brühe, in der undefinierbare Dinge schwammen und welche nach Fäulnis und Tod schmeckte.

Er konnte die Flüssigkeit herauswürgen, so wie es sein revoltierender Magen verlangte, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
Er wollte mit panischen Bewegungen an die Oberfläche zurückgelangen, doch auch dies gelang ihm nicht.
Tiefer und tiefer sank er, verlor bald den letzten Lichtschimmer, der die Schwärze noch hatte durchdringen können, aus den Augen, verlor mit ihm jede Orientierung und Zeitgefühl.
Oben wurde zu unten, schon bald wußte er nicht mehr, ob er noch sank oder vielleicht auf einer Störung aufwärts getragen wurde.

Dann veränderte sich etwas, es wurde heller!
Das mußte die Oberfläche sein...
Doch statt der erwarteten Rettung schälte sich nur ein einzelnes Objekt aus dem ewigen Dunkel, es war ebenfalls völlig schwarz, schien auf eine gewisse Art sogar noch dunkler zu sein als die Flüssigkeit, dabei aber von innen heraus zu leuchten.
In der Umgebung des Objektes verfärbte sich der schwarze Ozean blutrot.
Das Objekt hatte menschliche Ausmaße und Proportionen, schien auf Shinji zuzutreiben.
Konnte es vielleicht... ein Mensch sein?
Ein anderer Mensch, der ebenfalls in dieser Brühe festsaß...?

Dumpf erinnerte der Junge sich, daß er sich in der Steuerkapsel befunden hatte, daß er dort allein gewesen war... allerdings war in der Kapsel auch nicht genügend Platz für einen sol-chen Ozean gewesen...

Jetzt konnte er Einzelheiten ausmachen - zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, ein Gesicht... das Gesicht!
Er kannte dieses Gesicht!

\"Mutter!\" stieß er hervor.
Vor seinem geistigen Auge tauchte ein Erinnerungsfetzen auf, eine Erinnerung an das letzte Mal, daß er sie gesehen hatte, daran, wie sie noch einmal lächelnd über die Schulter zu-rückgeblickt hatte, bevor sie die Kapsel bestiegen hatte... bevor sie gestorben war... bevor seine Welt zerbrochen war...
Das Wesen vor ihm hatte das Gesicht seiner Mutter! Es hatte ihre Augen!
\"Mutter, ich bin es...\"

Etwas geschah...
Die Gesichtszüge seiner Mütter gerieten in Bewegung, begannen zu zerfließen...
Die Haut löste sich auf, schwamm in staubigen Flocken davon.
Das Fleisch löste sich in dicken rasch verwesenden Brocken von den Knochen, enthüllte stäh-lerne Knochen, enthüllte ein anderes Gesicht...
Das Gesicht des EVAs...
Wo eben noch eine glatte Stirn gewesen war, wuchs jetzt ein einzelnes Horn, wo eben noch die gütigen Augen seiner Mutter gewesen waren, glommen jetzt dämonische Augen...

Shinji schrie...
Immer noch konnte er seine Arme und Beine nicht bewegen, immer noch näherte er sich dem Wesen, kam er dem Monstrum immer näher...
Es schien zu wachsen, wurde mit jedem Herzschlag größer und größer...

In der tiefschwarzen Haut des anderen bildeten sich weißglühende Linien, welche geometri-sche Muster formten. Aus der Brust schossen plötzlich schlangengleich zahllose Kabel, welche auf Shinji zukamen, sich um ihn legten, ihn zu zerdrücken schienen, ihn fast völlig um-schlossen, ihn zu der Bestie heranzogen, auf die breite Öffnung zu, die sich in ihrer Brust auf-getan hatte...


*** NGE ***


Japsend schoß Shinji Ikari in die Höhe, sah sich mit flackerndem Blick um.
Er befand sich nicht unter Wasser, weder in klarem, noch schwarzem oder blutrotem...
In seiner Nähe war auch kein Monster mit dem Gesicht seiner Mutter oder dem des EVANGELION...
Es gab nur ihn selbst, seinen keuchenden Atem und sein rasendes Herz, welches sich langsam beruhigte.

\"Ein Traum... es war nur ein Traum...\" flüsterte er leise.
Jetzt endlich nahm er sich die Zeit festzustellen, wo er sich befand.

Er saß in einem Bett mit blütenweißen Laken, das Zimmer, in dem er sich befand, hatte alle Merkmale eines Krankenhauszimmer, vom Linoleumboden bis hin zum Geruch von Desinfektionsmitteln. Der Raum hatte kein Fenster, ein rechteckiger Leuchtkörper unter der Decke erhellte das Zimmer mit sterilem Licht, das einzige Möbelstück neben dem Bett war ein Stuhl, auf dem ein zusammengefalteter Pyjama lag.
Erst jetzt stellte er fest, daß er nackt war. Jemand mußte ihm die Sachen ausgezogen haben...
Seine Haut juckte an den verschiedensten Stellen, eine Überprüfung ergab, daß eine leicht rötliche Flüssigkeit eingetrocknet sein mußte, wahrscheinlich die LCL-Flüssigkeit. Sie bildete kru-stige Flecken von einer Farbe, die etwas dunkler war als seine Haut. Unwillkürlich begann er sich nach einer Dusche zu sehnen.

Die Erinnerung an den Kampf kam wieder in ihm hoch.
Rasch betrachtete er seinen linken Arm. Seine Augen wurden groß, als er oberhalb des Handgelenkes dicke tiefrote Abdrücke wie von langen Fingern sah. Das Arm ließ sich aber ohne Schmerzen bewegen, auch mit den Fingern gab es keine Probleme.
Vorsichtig taste er über seine Stirm, fühlte eine dicke schmerzhafte Beule.
Es war also real gewesen...
Aber an den Ausgang des Kampfes mit dem Engel fehlte ihm jede Erinnerung. Allerdings war die Tatsache, daß er noch am Leben war, wohl ein Zeichen dafür, daß er ihn besiegt hatte. Sicherheit allerdings darüber würde er in diesem Krankenzimmer wohl kaum gehalten.

Der Raum hatte nur eine Tür.

Shinji holte noch einmal tief Atem, schüttelte dann kräftig den Kopf, um die letzten Erinne-rungen an seinen Alptraum zu verbannen, bevor er schnell aus dem Bett kletterte, den Pyjama ergriff und sich überzog. Unter dem Stuhl stand ein Paar Krankenhauspantoffeln in seiner Größe, in die er rasch schlüpfte.
Der Aufzug war in seinen Augen nicht optimal, aber immer noch besser, als nackt herumzulaufen.

Langsam ging er zur Tür und zog sie auf.
Auf der anderen Seite lag ein Korridor, der sich nach links und rechts erstreckte. Auf hier gab es keine Fenster, sondern nur die kalten Leuchtkörper unter der Decke.
Shinji trat auf den Gang hinaus, sah in beide Richtungen.
An beiden Enden des Ganges waren breite Schwingtüren.
Von der einen Seite her kam eine Gruppe weißgekleideter Leute mit einer Rolltrage.
Shinji trat bis an die Wand, um sie durchzulassen.

Niemand sprach ihn an, niemand würdigte ihn eines Blickes, überhaupt war es seltsam still, sah man von den klappernden Geräuschen ab, welche die Trage von sich gab, und den hastigen Schritten der Erwachsenen.
Auf der Trage lag das verletzte Mädchen aus dem Hangar... wie hieß sie doch gleich... Rei!
Als die Trage Shinji passierte, hatte er für eine kurze Sekunde Blickkontakt, konnte dem Ge-sicht des blauhaarigen Mädchens aber nicht entnehmen, ob es ihn wiedererkannte. Wenigstens schien sie keine Schmerzen zu spüren.
Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, der Trage zu folgen und jemanden anzusprechen, vielleicht sogar das blasse Mädchen, doch dieser Gedanke löste sich in Wohlgefallen auf, als er sah, daß am anderen Ende des Ganges sein Vater stand.
Shinji stand stocksteif da, während Gendo Ikari ihn gar nicht wahrzunehmen schien.

Die Trage wurde auf der Höhe des NERV-Oberbefehlshabers gestoppt, er beugte sich vor, sagte etwas, das Shinji aufgrund der Entfernung nicht verstand. Das Mädchen drehte leicht den Kopf, bewegte die Lippen.
Gendo Ikari sah auf, blickte zu Shinji hinüber, drehte sich dann abrupt um und ging... wie schon so oft.
Und wie jedesmal zerbrach etwas in der Brust des Jungen.
Kurz hatte er die Hoffnung gehegt, sein Vater würde mit ihm sprechen, ein paar Worte wechseln, nur ein paar, ihm sagen, daß er kein Feigling war, daß er stolz auf ihn war, daß...

\"Kein einziges Wort...\" murmelte jemand Shinji. \"Wie gemein...\"

Der Junge wandte sich um.
\"Misato-san!\"

Die junge Frau lächelte.
\"Ich wollte dich abholen.\"

\"Ja.\"

\"Du hast keine schlimmen Verletzungen, nur ein paar blaue Flecken hier und da. - Und natürlich diese dicke Beule auf der Stirn.\"

\"Ja... Ist... ist der Engel... habe ich es geschafft?\"

\"Du weißt es nicht?\"

\"Ich... nein... ich kann mich nicht erinnern.\"

\"Hm, vielleicht sollte Ritsuko dich noch einmal untersuchen... Ah, also, du hast den Engel besiegt.\"

\"Dann... werde ich nicht mehr gebraucht?!\"

\"Shinji, das war nicht der einzige.\"

\"Es... es gibt noch mehr?\"

Misato nickte nur.
\"NERV hat dir hier im Hauptquartier ein Zimmer vorbereitet. - Du könntest natürlich auch bei deinem Vater wohnen, wenn...\"

\"Will er das denn?\"

Misato blickte Shinji an, sah in dessen traurige Augen.
\"Ich weiß es nicht.\" gestand sie.

\"Ich komme wahrscheinlich allein besser zurecht.\" murmelte der Junge.

Misato sah ihn noch einmal an, sah ein menschliches Häuflein Elend, wo ein selbstbewußter Sieger hätte stehen sollen... aber wo hätte solches Selbstbewußtsein auch herkommen sollen, wenn nicht einmal der eigene Vater ihm zu seinem Sieg gratulierte...
\"Warte hier!\" entschied sie. \"Ich hole deine Sachen aus der Reinigung. Und dann werde ich mich mit deinem Vater unterhalten! Wird nicht lange dauern!\"

\"Ahm...\"

Sie deutete auf eine Reihe Plastikstühle an der Wand.
\"Warten!\"

\"Ja.\" murmelte er, blickte ihr nach, bis sie durch die nächste Tür verschwunden war und schlurfte dann zu einem der Stühle.


*** NGE ***


Auf der anderen Seite der Welt, in einem großräumigen Büro im Hauptquartier des ODIN-Geheimdienstes in der Arkologie Wilhelmshaven, steckte Wolf Larsen gerade sein Handy zurück in die Jackentasche.

\"Und? Gibt es Neuigkeiten?\" fragte der ältere Mann, der ihn aus dem Krankenhaus geholt hatte.

\"Nein, Sir. Sie ist immer noch nicht aufgewacht. Die Ärzte geben ihr keine große Chance mehr... vielleicht ist es besser so...\"

Der grauhaarige Mann erhob sich aus seinem Sessel hinter seinem breiten Schreibtisch, ging um den Tisch herum und legte dem anderen die Hand auf die Schulter.
\"Geben Sie nicht auf, das paßt nicht zu Ihnen. Wir haben Sie damals auch nicht aufgegeben.\"

Larsen erwiderte nichts darauf.
Stattdessen machte er einige rasche Handbewegungen, auf welche der andere mit ebenso raschen Gesten zu antworten schien.

*Abhörgeräte?*

*Lüftungsschacht. Lampenschirm.*

*Kameras?*

*Keine.*

\"Wolf, ich weiß, es kommt mehr als ungelegen - und glauben Sie mir bitte, ich habe versucht, Einspruch einzulegen - aber Sie haben einen neuen Auftrag.\"

\"Sir, ich kann jetzt nicht weg!\"
*Wer?*

\"Direktor Cedrick hat Sie und Ihr Team für diese Mission angefordert.\"
*Himmelfahrtskommando.*

\"Was für eine Mission?\"

*Decker?*

\"Aus einem militärischen Labor der Amerikaner ist ein neuartiger Nano-Virus verschwunden - mitsamt dem Entwickler.\"
*Arbeitet an der Sache.*

\"Verstehe. Was für ein Virus?\"

\"Einer von der Sorte, der binnen 24 Stunden eine Millionenstadt entvölkern kann. Hoch viru-lent, aber mit eingeschränkter Lebensdauer, eine taktische Biowaffe. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß sich verschiedene Terrorgruppen für den Virus interessieren. Im kurdischen Bergland ist in einer guten Woche eine große Auktion geplant.\"

\"Ja. Kann ich mir mein Kommando selbst zusammenstellen?\"
*Weiß er es?*

\"Natürlich.\"
*Er ahnt etwas.*

\"Gut. Ich werde sofort mit den Einsatzvorbereitungen beginnen.\"

*Ich ebenfalls.*

*Ist Kaji sicher?*

\"Ihnen stehen unsere besten Leute zur Verfügung, genau für solche Einsätze wurde ODIN gebildet.\"
*Ja.*

\"Ja, Sir.\"
Larsen senkte den Blick.
\"Versprechen Sie mir nur, daß ich informiert werde, wenn etwas geschieht...\"

\"Keine Sorge. Unsere besten Ärzte werden sich um ihre Frau kümmern.\"

\"Danke.\"

Der Mann mit der gelbstichigen Haut kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück und schob dem anderen eine Mini-Disk über den Tisch.
\"Die Disk enthält alle verfügbaren Informationen.\"
*Sie haben sich getroffen.*

Jede noch so kleine Geste, jede kurze Bewegung, sei es ein einzelnes Fingerglied, ein Finger oder die ganze Hand, alles hatte zusammen mit den gewechselten Worten eine eigene Bedeu-tung, die sich nur den beiden Männern erschloß.

\"Ich werde sie auf dem Flug nach Istanbul auswerten. Ich nehme an, der Auftrag umfaßt nicht nur, den Virus zurückzuholen, sondern auch den Wissenschaftler, sowie die Beseitigung möglichst vieler Käufer.\"

\"Genau, Commander.\"

\"Haben wir Informationen, ob ein anderer Geheimdienst ähnliches plant? Ich möchte nicht schon wieder mit der NSA oder irgendwelchen Doppel-Null-Agenten des MI6 zusammenstoßen, das ganze Kompetenzengerangel ist irgendwo deprimierend.\"
*SEELEs Reaktion auf den Sieg?*

\"Uns ist nicht bekannt. Ich habe auch eine entsprechende Bitte an die Kollegen geschickt.\"
*Zwiespältig. EVA-01 ist beschädigt.*

\"Gut. Betrachten Sie den Auftrag als erledigt.\"
*Geschieht ihnen recht.*

\"Seien Sie vorsichtig. Sie wissen - wenn Sie oder ein Mitglied Ihres Teams getötet oder gefangen werden, wird die Organisation jede Kenntnis von Ihnen oder dem Einsatz abstreiten.\"
*Kann ich noch auf Sie zählen?*

Larsen trat an das breite Fenster des Büros seines direkten Vorgesetzten, blickte hinaus, sah auf die Grünfläche vor dem Gebäude, blickte dann schräg nach oben zum Himmel, wo sich die Plexiglaskuppeldecke der Arkologie über Wilhelmshaven wölbte und das fast schon arktisch zu nennende Klima von der Stadt fernhielt.
\"Das ist nicht die erste BlackOps, die ich leite.\"
*Ich bin dabei.*

\"Passen Sie trotzdem auf sich auf.\"


*** NGE ***


Misato zögerte kurz, ehe an der Tür, hinter der Gendo Ikaris Büro lag, klopfte.
Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob ihre Idee wirklich so gut war.
Dann klopfte sie dennoch an.

Es dauerte einen Augenblick, bis von drinnen ein \"Herein\" kam, es klang nicht gerade freund-lich.

Misato preßte die Lippen zusammen, drücke das Kreuz durch und betrat Ikaris Büro.

Wie jedesmal raubte der Raum ihr den Atem - es war kein Raum, sondern eher ein Saal. Decke und Boden zeigten kabbalistische Zeichen und Symbole, an den Wänden hingen Tafeln mit Auszügen aus verschiedenen religiösen Texten: hebräische Bibelzitate, arabische Suren aus dem Koran...
Und mitten in diesem Raum stand der mächtige hufeisenförmige Schreibtisch aus dunkler Eiche, hinter dem Gendo Ikari residierte, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt und ihr in seiner typischen Körperhaltung entgegensah, einen Gutteil seines Gesichtes von den gefalteten Händen verborgen, während die Augen hinter der dunklen Brille nicht zu erkennen waren.
Er war nicht allein, bei ihm war Ritsuko Akagi, welche Misato den Rücken zukehrte, als diese eintrat.

Noch einmal schluckte Misato, sie hatte das Gefühl, bei etwas zu stören.

\"Captain?\" fragte Ikari nach einem scheinbar endlosen Moment des Schweigens. \"Was führt Sie hierher?\"

Misato wagte ein paar Schritte in das einschüchternde Büro hinein. Hätte man ein paar Wände eingezogen, hätte es genug Platz für eine zehnköpfige Familie zum Leben geboten - mit einem eigenen Zimmer für jeden.
\"Kommandant... es geht um Ihren Sohn.\"

Auf Ikaris Stirn bildete sich eine leichte Furche.
\"Was ist mit Shinji?\"

\"Ich nehme an, Shinji wird bei Ihnen wohnen, Kommandant?\"

\"Nein, Captain Katsuragi. Ich bin die Gesellschaft anderer nicht gewohnt, und er auch nicht.\"

Misato Katsuragi blinzelte, wagte, dazu einen Kommentar abzugeben.
\"Aber er ist Ihr Sohn...\"

\"In erster Linie ist er der Pilot von Einheit-01. Es ist besser so.\"
Die Stimme des bärtigen Mannes deutete darauf hin, daß er dieses Thema nicht weiter zu diskutieren wünschte.

\"Dann bitte ich um die Genehmigung, ihn bei mir aufnehmen zu dürfen.\"

Ikaris Brauen wanderten nach oben, verrieten seine Überraschung.
\"Sie wollen sich um ihn kümmern?\"

\"Er ist neu in Tokio-3, er kennt hier niemanden.\"

\"Hm... Ihr Vorschlag hat seine Vorteile, so können Sie ihn im Auge behalten.\"

\"Kommandant, ich...\"

\"Ich genehmige Ihr Ersuchen. Sie können ihn mitnehmen, wenn er aus dem Lazarett entlassen wurde. Doktor Akagi wird sich um die nötigen Unterlagen und Genehmigungen kümmern.\"

Ritsuko, die bisher unbeteiligt neben dem Schreibtisch gestanden hatte, zuckte heftig zusammen, nickte dann.

\"Danke, Kommandant.\"
Katsuragi ging zwei Schritte rückwärts, aus irgendeinem Grund wollte sie dem Kommandanten hier, in der Höhle des Löwen, nicht den Rücken zuwenden. Doch dann zögerte sie.

\"Ist noch etwas, Captain?\"

\"Was ist mit Rei? Ich könnte mich auch um sie kümmern.\"

Ikaris Stimme war eiskalt, verdeutlichte Misato, daß sie im Begriff war, mit beiden Händen bis zu den Schultern in ein Wespennest zu greifen.
\"Rei ist nicht Ihre Angelegenheit. Sie können gehen, Captain Katsuragi.\"

\"Ja, Sir.\"
Sie salutierte knapp, ehe sie das Büro mit einer Geschwindigkeit verließ, die nur sehr knapp nicht die Bezeichnung \'fluchtartig\' verdiente...


*** NGE ***


Shinji wartete immer noch dort, wo Misato ihn zurückgelassen hatte. Als sie ihn ansprach, blickte er auf.

\"Hier.\"
Sie reichte ihm seine Sachen, die sie wie versprochen aus der Reinigung geholt hatte, dann checkte sie den nächsten Raum ab.
\"Da ist niemand drin, du kannst dich dort umziehen.\"

Kommentarlos verschwand er in dem Zimmer, kehrte kurz darauf umgezogen zurück.
\"Was jetzt?\"

\"Jetzt fahren wir zu mir.\"

\"W-wie?\"

\"Dein Vater hat gerade genehmigt, daß du bei mir einziehst, damit jemand dich besser im Auge behalten kann.\"
Sie zwinkerte.
\"Also, los, ich denke, das muß gefeiert werden, oder?\"

\"Ah... uhm... so ganz, ohne mich zu fragen?\"

Sie verdrehte die Augen.
\"Los, jetzt setz dich in Bewegung, oder willst du deinem vorgesetzten Offizier widersprechen?\"


*** NGE ***


Misatos Wagen war in einem deutlich besseren Zustand als zu dem Zeitpunkt, als sie ihn nach der Ankunft im Hauptquartier in der Bahnstation zurückgelassen hatten, was sie freudestrahlend zur Kenntnis nahm.
\"Ich könnte die Mechaniker, die mein Baby wieder hergerichtet haben, küssen!\" verkündete sie, ehe sie sich hinter das Steuer schwang. An der Sonnenblende hing sogar ihre Sonnenbrille, deren Bügel wieder geradegebogen waren. \"Steig schon ein!\"

Shinji saß noch nicht richtig auf dem Beifahrersitz, da gab sie schon Gas. Die Beifahrertür schlug beim Anfahren von selbst zu.
Zurück blieben zwei Mechaniker, die auf Misatos Worte hin freudestrahlend herbeigeeilt waren, sich jetzt aber enttäuscht anblickten.

Der blaue Wagen fuhr durch einen langen kurvigen Tunnel, der schließlich an der Oberfläche am Stadtrand mündete. Anstatt in die Stadt hineinzufahren, fuhr Misato auf einer Serpentinenstraße durch die Hügel.
Shinji blickte auf die Stadt. Die Schäden, die während des Kampfes entstanden waren, waren deutlich zu erkennen. Überall waren Konstruktionstrupps unterwegs.
\"Misato-san...\"

\"Ja?\"

\"Uhm... Was ist mit dem Mädchen? Ich meine... äh... Rei...\"

\"Rei... Ach, du meinst Rei Ayanami, deine Kollegin... was soll mit ihr sein?\" fragte Misato ausweichend. Die Reaktion des Kommandanten, als sie über Rei hatte sprechen wollen, steckte ihr immer noch in den Knochen.

\"Ja, uhm, was ich sagen wollte - wie geht es ihr?\"

Misato seufzte.
\"Sie kommt durch.\"

\"Ist sie schwer verletzt?\"

Sie nickte.
\"Aber das war nicht allein der Engel, die meisten - und schweren - Verletzungen stammten von einem Unfall vor ein paar Wochen.\"

\"Uhm... was ist zwischen ihr und... meinem Vater? Ich meine, ich habe gesehen, wie...\"

\"Ich weiß es nicht.\"
Misato hob die Schultern. Dann wurde sie plötzlich knallrot.
\"Äh... aber die beiden haben nichts miteinander, ich glaube, daß dürfte sicher sein... ich meine, man kann über den Kommandanten wohl einiges sagen, aber mit Kindern...\"

Shinji starrte sie an, lief ebenfalls rot an.
\"Ah... Nein, das... das meinte ich gar nicht.\"

\"Oh. Gut.\"
Misato lachte.
\"Gut. Ja. Okay. Dann vergessen wir das ganz schnell wieder, ja? - Also, ehrlich, ich weiß selbst nicht genau, warum er sich ihr gegenüber so verhält. Laut meinen Unterlagen ist der Komman-dant Reis gesetzlicher Vormund, aber sie wohnt nicht bei ihm.\"

\"So.\"
Shinji kniff die Augen zusammen.
Einen Moment lang hatte er geglaubt, den Grund für das abweisende Verhalten seines Vaters zu kennen...

Unvermittelt hielt Misato an.

\"Misato-san, was ist?\"

Der Wagen stand an einem Aussichtspunkt.

Misato warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
\"Genau richtig... Ich will dir \'was zeigen!\"
Sie stieg aus, ging zu dem Metallgeländer an der Hügelkuppe.

Shinji folgte ihr, stellte sich neben sie.
Es dämmerte bereits.
Von ihrem Standort aus hatten sie einen uneingeschränkten Blick auf die Stadt, eine Stadt, die während des Kampfes tiefe und schwere Wunden davongetragen hatte.
\"Wa-warum zeigen Sie mir das? So viele zerstörte Gebäude...\"

\"Wart\'s ab!\"

Sirenen heulten auf.

Shinji sah sich erschrocken um, rechnete bereits mit dem Auftauchen eines weiteren Engels.

\"Kein Grund zur Panik.\" erklärte Misato. \"Schau...\"
Sie deutete auf die Stadt.

Dort bewegte sich etwas.
An zahlreichen leeren Plätzen, die Shinji erst jetzt auffielen, öffneten sich Tore im Boden, die Einblick in tiefe Schächte gaben. An anderen Stellen kam Bewegung in Schutt und Trümmer.
Aus den Schächten schoben sich rechteckige Gebilde, die langsam weiter und weiter wuchsen, schließlich als Gebäude zu erkennen wurden.

\"Die... die Gebäude wachsen aus dem Boden...!\"

Binnen Minuten verwandelte sich das Trümmerfeld in eine leuchtende Metropole.

\"Ja. Das ist das wahre Tokio-3, die Stadt, die du heute gerettet hast.\"

\"Das...\"
Gebannt blickte auf die jetzt hell erleuchteten Straßenzüge und Plätze, welche sich allmählich mit Menschen zu füllen begannen.
Seine Augen wurden feucht.
\"Misato-san... ich habe das nicht für die Menschen getan... auch nicht für das verletzte Mädchen, als ich in den EVA stieg...\"

\"Ich weiß. Shinji, ich weiß. Und ich weiß, daß ich nicht ganz die richtige Person bin, um es dir zu sagen, aber... das hast du großartig gemacht. Du hast dich phantastisch geschlagen.\"

Shinji schluckte.
Dann brachen die Tränen durch.
Wie sehr hatte er sich gewünscht, diese Worte von seinem Vater zu hören...



Kapitel 06 - Mitbewohner

Der Apartmentgebäudekomplex, in dem NERV-Captain Misato Katsuragi wohnte, war ein moderner zwölfstöckiger Neubau mit einem Dutzend Wohnungen pro Etage, entsprechend pompös fiel bereits das Klingelschild am Eingang aus, welches Shinji studierte, während Misato in den Taschen ihrer Jacke nach dem Haustürschlüssel suchte. Ihm fiel auf, daß die meisten Wohnungen leerstanden, nur etwa 10% des Hauses waren bewohnt.

Katsuragis Wohnung lag im vierten Stock; während Shinji die Treppen hochschlurfte, lief sie vor ihm die Stufen hoch, als machte sie dies jeden Tag. Doch er beschwerte sich nicht, zum einen war ihm bereits der Aufzug aufgefallen, mit dem das Gebäude ausgestattet war, zum anderen hatte er einen recht guten Blick auf ihre langen Beine in Bewegung.

An der Wohnungstür angekommen, wiederholte sich die Suche nach dem Schlüssel.
\"Shinji-kun, ich hoffe, ein wenig Unordnung macht dir nichts aus, ich bin selbst gerade erst eingezogen und noch nicht dazugekommen, alles auszupacken. Also - sei nachsichtig, ja?\"

\"Uhm... okay, Misato-san.\"

\"Und hör auf, mich zu siezen, schließlich sind wir jetzt Mitbewohner!\"

\"Ah... ja, gut.\"

Die Wohnungstür schwang auf - und Shinji, dessen Bild man im Lexikon unter dem Begriff \'penibler Ordnungswahn\' hätte finden können, so es solch einen Eintrag gegeben hätte, hätte am liebsten wieder kehrtgemacht.
Was Misato unter ein wenig Unordnung verstand, hätten nach Shinjis Ansicht selbst der Engel und EVA-01 nicht ausrichten können, hätte sie ihr Kampf zufällig durch eben dieses Apartment geführt. Die gestapelten Umzugskartons fielen dabei gar nicht ins Gewicht, auf diese war er schließlich vorbereitet gewesen, allerdings lag deren Inhalt teilweise über den Boden verstreut, hingen Kleidungsstücke, welche eigentlich in Schränke und Schubladen gehört hätten, über Stuhllehnen, standen die Reste mehrerer Mahlzeiten auf dem Tisch und sammelte sich weiteres Geschirr in der Spüle.
Vorsichtig schielte er zu Misato hinauf, die sich an dem Chaos nicht zu stören schien, fragte sich, weshalb gerade er an die wahrscheinlich einzige Frau in Tokio-3 ohne auch nur minimalen Ordnungssinn geraten war.

\"Ist doch ganz nett hier, oder? Das war jedenfalls mein erster Gedanke, als der Hausverwalter mir die Wohnung gezeigt hat - da waren selbstverständlich noch keine Möbel hier, aber...\"

Shinji schaltete für einen Augenblick ab.
In diesem Chaos sollte er wohnen?
Hier mußte ersteinmal jemand kräftig aufräumen, saubermachen und generell Ordnung schaffen! - Und mit einer die folgende Erkenntnis begleitenden leichten Depression kam er zu dem Schluß, daß er wohl dieser jemand sein würde...
\"Ja, uhm, ganz... nett hier.\" murmelte er, während er seine Reisetasche abstellte, die Schuhe auszog und dann vorsichtig auf Zehenspitzen durch den Vorraum navigierte.
An diesen schloß sich ein L-förmiger Raum an, der gleichzeitig als Eß- und Wohnraum, wie auch als Durchgang zum Rest der Wohnung diente, in einer eigenen Nische standen Herd, Spü-le und Vorratsschrank und Kühlschrank, in der Mitte des großen Zimmers befand sich der Eßtisch mit besagten Resten früherer Mahlzeiten, an einer Wand stand ein Sofa, diesem gegen-über ein kleiner Fernseher. Von dem Raum selbst ging eine Tür, von der korridorartigen Ver-längerung drei weitere ab, am Ende des Flures befand sich schließlich noch eine Glastür, die auf den zum Apartment gehörenden Balkon hinausführte.

Misato deutete auf jede der vier Türen.
\"Mein Schlafzimmer. Dort drüben ist das Bad, die beiden hinteren Räume habe ich noch nicht richtig eingerichtet, aber im rechten steht ein Gästebett, das kannst du erst mal nehmen - fall nur nicht über meine Kartons, ja? - morgen läßt der NERV-Quartiermeister dir ein paar eigene Möbel bringen, die haben da einen riesigen Fundus, frag mich bloß nicht, weshalb oder woher das ganze Zeug stammt, das unterliegt wahrscheinlich oberster Geheimhaltungsstufe, oder so.\"
Wieder einmal zwinkerte sie und verdeutlichte ihm damit, daß sie ihre letzten Worte nicht ganz so ernst gemeint hatte. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer.
\"Möchtest du etwas trinken? Im Kühlschrank müßte im obersten Fach noch eine Soda sein.\"

\"Uhm, ja.\"
Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er zum letzten Mal etwas vor seiner Abfahrt nach Tokio-3 gegessen hatte. Seine Kehle war trocken und sein Magen knurrte, anscheinend laut genug, daß auch Misato es hören konnte.

\"Ich mache uns gleich \'was zu Essen. Ach ja, wenn du schon am Kühlschrank bist, dann bring mir doch bitte ein Bier mit, ja?\"

Shinji trat an den Kühlschrank heran und öffnete ihn, sah hinein. Schloß die Augen. Öffnete sie wieder. Blickte erneut in den Kühlschrank.

Er hatte sich nicht geirrt.
Der Kühlschrank, alle fünf Fächer, war voller Bierdosen. Eine Dose reihte sich an die andere.
Dann bemerkte er den Haufen leerer Dosen im wirklich geräumigen Abfalleimer, welcher bis obenhin gefüllt war. Dann sah er die Reihe von leeren Dosen, die auf dem Regal über der Spüle standen wie Trophäen.
Nach kurzer überschlagsmäßiger Rechnung kam er zu der Feststellung, daß Misato Katsuragi sich höchstwahrscheinlich nur von Bier ernährte - und daß sie angesichts mangelnder auffälliger Ausfallserscheinungen wahrscheinlich kaum noch Blut im Alkohol hatte.
Im obersten Fach des Kühlschrankes befand sich tatsächlich eine Dose mit Soda, sowie eine angebrochene Dose Cola. Er nahm erstere, sowie eine Bierdose, stellte diese auf den Tisch und öffnete seine Dose, leerte sie in zwei großen Schlucken.
\"Uhm, das Bier steht auf dem Tisch.\"

\"Gut, danke!\" kam es von der anderen Seite der Schiebetür. \"Du kannst gerne das Bad benu-tzen, es dauert noch einen Moment, bis ich etwas koche.\"

\"Äh, ja.\"
Eigentlich hätte er viel lieber den Müll \'runtergetragen, das Geschirr abgewaschen und den Tisch aufgeräumt, oder wenigsten seine Sachen ausgepackt, allerdings juckte seine Haut mittlerweile geradezu unerträglich. Also holte er seine Reisetasche mit seinen Sachen und ging mit dieser ins Bad, da er Misatos Worten glaubte entnehmen zu können, daß er seine Sachen ohnehin mangels entsprechender Möbel noch nicht verstauen konnte.
Er plazierte die Tasche auf dem Toilettendeckel, zog dann Hemd und Hose aus.

\"Wark!\"

Shinji zuckte derart heftig zusammen, daß er die Tasche zu Boden warf.

\"Wark!\"

Vorsichtig drehte er sich um, nur noch mit seiner Unterwäsche bekleidet.

In der Badewanne stand ein großer Vogel und blickte ihn durchdringend an.

Mit einem Schrei ergriff Shinji die Flucht, stoppte erst in der Küchennische.

Daß der Vogel gleichzeitig ein nicht minder entsetztes \"Wark!\" von sich gab und dabei aus der Wanne auf die Waschmaschine hüpfte, bekam der Junge gar nicht mehr mit.

\"Was ist denn los?\" fragte Misato und schob ihre Tür auf, nur bekleidet mit kurzen Jeanshosen und einem unter den Brüsten zusammengeknoteten Hemd.
Doch dafür hatte Shinji jetzt keinen Blick, mit zitternder Hand deutete er auf die Badezimmertür.

\"D-d-da... da drinnen...\"

\"Ja, was denn?\"

Das Objekt von Shinjis Schrecken entschloß sich in diesem Augenblick, das Bad zu verlassen und - ein geblümtes Handtuch über die Schultern geworfen - in den Hauptraum zu watscheln.
\"Wark!\"

Misato blickte überrascht Shinji an, dem der Schrecken immer noch ins Gesicht geschrieben stand, dann fing sie an zu kichern.
\"Shinji, das ist PenPen. PenPen - Shinji, unser neuer Mitbewohner.\"

\"Wark!\"
Der große Vogel hob grüßend einen Flügel, dann verschwand er rasch in dem zweiten Kühl-schrank und zog die Tür hinter sich zu.

\"Das... das ist... ein...\"

\"Ein Warmwasserpinguin. Nachdem beim Second Impact ihr Lebensraum in der Antarktis völlig zerstört wurde, wurden ein paar von ihnen umgesiedelt. Keine Angst, PenPen tut keinem \'was.\"

\"Ah-ja...\" sagte Shinji langgezogen.

\"Ich hätte dich vorwarnen müssen, entschuldige. Aber das Bad sollte jetzt wirklich frei sein.\"

\"J-ja...\"


*** NGE ***


Frisch gewaschen und eingekleidet fühlte sich Shinji Ikari schon deutlich besser.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, daß er den nächsten Schock, welcher im Katsuragi-Haushalt auf ihn wartete, bei halbwegs klarem Verstand überstand.

Misato hatte tatsächlich den Tisch abgeräumt - auch wenn dies nur bedeutete, daß der Geschirrstapel in der Abwäsche um ein weiteres Stück gewachsen war.
Auf dem Tisch standen drei Tüten mit Instant-Curryreis, in welche Misato gerade heißes Wasser goß.
\"Ah, du kommst gerade richtig. Essen ist fertig, guten Appetit!\"

Shinji war nach Heulen zumute. Das Zeug im Inneren der Tüte hatte die gleiche Farbe wie selbige, als er probeweise mit dem Löffel umrührte, spürte er beträchtlichen Widerstand. Das Instantgericht hatte zudem die Konsistenz von nasser Pappe, was Shinji wiederum an die LCL-Flüssigkeit erinnerte, mit der er heute erstmals in Kontakt gekommen war.
Mit gleichsam kritischen wie verzweifelten Blick beäugte er die zähflüssige Masse auf dem Löffel, glaubte tatsächlich, einzelne Reiskörner zu erkennen.

Misato hingegen schien das nichts auszumachen, nachdem sie ihr erstes Bier in einem Zug geleert hatte, holte sie ein ganzes Sechserpack aus dem Kühlschrank, goß in die beiden anderen Tüten jeweils eine Dose und rührte kräftig um. Den Inhalt der einen Tüte wiederum goß sie in einen Futternapf, der im Schatten von PenPens Kühlschrank stand, klopfte gegen die Kühlschranktür und erklärte: \"Es ist angerichtet!\"
Und während der Pinguin herausgewatschelt kam und sich heißhungrig über seine völlig artun-typische Mahlzeit hermachte, schaufelte Misato selbst ihr Curryreis-Bier-Gemisch in sich hin-ein.
Zwischen zwei Happen bemerkte sie, daß Shinji immer noch zweifelnd den Löffel anblickte.
\"Kannst du ruhig essen, ist super lecker! Oder möchtest du auch ein Bier?\"

\"Nein, danke.\" beeilte er sich. Er hatte an seinem zwölften Geburtstag seine erste Erfahrung mit Alkohol gemacht, die ihn gelehrt hatte, daß Alkohol und er nicht zusammenpaßten.
Zaghaft führte er den Löffel zum Mund.
Das Zeug sah nicht nur aus wie feuchte Pappe, es schmeckte auch so, vielleicht war es sogar der Grundstock, der zur Herstellung dieser LCL-Flüssigkeit benötigt wurde...
Wieder knurrte sein Magen. Die befürchtete Übelkeit allerdings blieb aus. Also ergab er sich in sein Schicksal und löffelte die Tüte mit dem Instandgericht leer.
Danach verspürte er den Drang, sich kräftigst die Zähne zu putzen, um den Geschmack loszuwerden, während Katsuragi und ihr seltsames Haustier einander mit Bierdosen zuprosteten....

Und danach kam Misato auf die Idee, mittels Schere-Stein-Papier zu entscheiden, wer wann welche Haushaltspflichten zu erledigen hatte. Anscheinend war sie die heimliche Landesmeiste-rin in diesem Kinderspiel, dies ging jedenfalls aus dem Haushaltsplan hervor, der als für die einzelnen Pflichten - Frühstück, Abendessen, Müll rausbringen, Einkaufen und Wäschewaschen - zuständig zu gut 90% Shinji auswies.
Mit einer entsprechenden Depression ging er schließlich zu Bett, zog sich die von Misato zur Verfügung gestellte Wolldecke über den Kopf und schlief schließlich ein.


*NGE ***


Am nächsten Morgen wurde er von einem lauten Juchzen aus den Schlaf gerissen.
Noch halb benommen taumelte er ins Eßzimmer, um nach dem Rechten zu sehen, doch es war nur Misato, welche ihr erstes Bier an diesem Tag geöffnet hatte.

\"Einen wunderschönen guten Morgen, Shinji-kun!\" rief Misato in denkbar bester Laune. \"Hast du gut geschlafen? Ich wollte dich nicht wecken, deshalb habe ich das Frühstück gemacht!\"

Er erinnerte sich wieder an den Plan, auch daran, daß er sich eigentlich um das Frühstück hätte kümmern sollen.
\"Gomen. Es tut mir leid.\"

\"Ach, macht doch nichts, ich muß ohnehin in einer halben Stunde zum Dienst und wollte dir schnell noch einiges erklären, aber iß doch erstmal etwas!\"

Auf dem Tisch stand ein Teller mit mehreren Scheiben Toast, welche aussahen, als wären sie mit knapper Not einem Großbrand entkommen. Misato hatte es erneut geschafft, Shinji zu überraschen, er hätte nie geahnt, daß Toastbrot derart schwarz verbrannt aussehen konnte. An diesem Morgen faßte er den Entschluß, sich künftig selbst um das Essen zu kümmern, da er, so er sich in dieser Beziehung auf Misato verließ, wohl völlig verlassen war. Es hätte ihn auch nicht mehr gewundert zu erfahren, daß sie imstande war, Wasser anbrennen zu lassen...

\"Worum geht es, Misato?\" fragte er und machte ein halbwegs interessiertes Gesicht, um von den Toastscheiben abzulenken.

\"Oh, ach ja. Also, gegen elf kommt der Spediteur, du weißt sicher schon, welches der beiden Zimmer du willst, oder? Schieb die Kartons einfach in das andere hinüber, das Bett läßt sich zusammenklappen und kann dann auch \'rübergerollt werden. Der Quartiermeister hat mir versprochen, daß das Zeug aufgebaut wird. Dann ist unten an der Ecke ein kleiner Laden, sei doch bitte so gut und hole im Laufe des Tages meinen Nachschub ab.\"

Shinjis Blick folgte dem Misatos zu der nächsten Reihe leerer Bierdose auf dem Board, von welcher Shinji schwören konnte, daß sie am Vorabend noch nicht dort gestanden hatte.
\"Im Vorratsschrank steht rechts oben ein Marmeladenglas mit Geld, falls du ein paar Einkäufe erledigen willst. Curryreis scheint ja nicht ganz so dein Geschmack zu sein.\"

\"Ähm...\"

\"Ist nicht tragisch. Gut, was noch... Oh, ja, ich melde dich heute nachmittag in der Schule an.\"

\"Schule?\" echote er.

\"Ja, natürlich. Schließlich bist du noch im schulpflichtigen Alter!\"

\"Ich... ich meine... es gibt in Tokio-3 eine Schule? Mit Kindern? - in meinem Alter?\"

\"Sicher. In Tokio-3 wohnen zwar fast nur NERV-Angehörige und Leute, die die Infrastruktur aufrechterhalten, aber die haben auch Familie. So gut ist Ritsuko noch nicht, daß sie auch das abschaffen könnte - hoffe ich jedenfalls.\"

\"Äh...\"

\"Das war ein Scherz, Shinji-kun. Du kannst ruhig etwas lockerer sein.\"

\"Äh...\"

\"Gut, gut... ich erklär\'s dir, ja?! Ritsuko hat die EVAs geschaffen, hat diese riesigen Biester regelrecht im Reagenzglas gezüchtet - muß wohl ein recht großes Reagenzglas gewesen sein, wenn du mich fragst - und dann in dieser LCL-Nährflüssigkeit wachsen lassen. Ja, da staunst du, was? Dieses LCL ist wirklich recht vielseitig, nur der Geschmack... wenn es nach Bier schmecken würde... Aber mehr Ahnung habe ich davon auch nicht... hm...\" Sie sah auf die Uhr. \"Ich muß los! Neben dem Telefon liegt ein Notizblock, da steht unter anderem auch die Nummer drauf, unter der mein Pieper zu erreichen ist, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Okay? Also, bis heute abend. Und nicht vergessen - gegen elf kommen die Möbel!\"
Damit ließ sie ihn allein inmitten des Chaos.

Shinji sah sich vorsichtig um, nahm jede Ecke und jeden Winkel der Kombination aus Wohn-zimmer, Eßraum und Küche unter die Lupe, zog in Gedanken eine Linie, welche den Flurbereich vom Hauptraum abgrenzte, und stand dann langsam auf, nahm den Teller mit den schwarzen Etwas, die früher einmal wehr- und ahnungslose Weißbrotscheiben gewesen waren, und schüttete die Toastscheiben in den Abfallbehälter.

Dann ging er ins Bad, wusch sich, kleidete sich an und nahm Misatos Vorräte an Reinigungsmitteln in Augenschein...


*** NGE ***


Als Misato am Abend nach Hause kam, die Tür hinter sich zuwarf, ihre Schuhe in die Ecke kickte und ein fröhliches \"Taidama!\" rief, um anzuzeigen, daß sie zurück war, staunte sie nicht schlecht über den Zustand der Wohnung - alles war blitzsauber und blankpoliert, auf dem Boden befand sich kein Stäubchen, sogar der widerstandsfähige Flecken, den eine umgestürzte Tüte Instand-Curryreis vor ein paar Tagen im Teppich hinterlassen hatte, war verschwunden.

\"Hui, Respekt!\" murmelte Misato in der Erkenntnis, daß sie sich einen richtigen Putzteufel zum Mitbewohner auserkoren hatte. Sie holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, wo sogar die Do-sen alle so standen, daß die Etiketten nach vorn zeigten, registrierte, daß sich in einem der Fächer Gemüse und andere Nahrungsmittel, die definitiv nicht unter die Spalte Fertiggerichte fielen, befanden, ging dann, die Dose in der Hand, ins Bad, stellte auch hier fest, daß alles glänzte und blitzte, trat wieder auf den Flur.
\"Shinji-kun, wo steckst du?\"

In diesem Moment öffnete sich PenPens Kühlschrank und der Pinguin riskierte einen Blick hinaus, ob der neue Mensch, der nun auch in dem Apartment lebte, seine Nestreinigungsaktion endlich beendet hatte...

Misato ging den Flur hinab, sah in das offenstehende Zimmer zur Rechten.
Dieses war nun mit einem breiten Kleiderschrank, einem Schreibtisch samt Stuhl, einem Nachtschränkchen und einem Bett eingerichtet. Und auf letztem lag Shinji ausgestreckt und schnarchte.
Misato lächelte.
\"Hm, das hat er sich nach all der Arbeit wohl verdient. Gut, ich mache das Abendessen.\"

Obwohl Shinji eigentlich tief und fest schlief, schrillten in seinem Kopf sämtliche Alarmsirenen los. Seine Augenlider klappten hoch.
\"Misato?\" murmelte er.

\"Ja?\"

\"Ich koche.\"



Kapitel 07 - Bitterer Ruhm

Am nächsten Morgen wurde Shinji von Misato vor dem Schulgebäude der Tokio-3-High abgesetzt.
\"Du bist in Klasse 2-A. Ich habe gestern alles mit dem Direktor abgesprochen, Bücher und ein Laptop werden gestellt, wende dich am besten an die Klassensprecherin, sie heißt, äh...\"
Misato holte ein kleines Notizheft hervor und schlug nach.
\"... Hikari Horaki. Ach, und bevor ich es vergesse...\"
Sie griff in die Innentasche ihrer Jacke und reichte Shinji dann ein Handy.
\"Hier. Darüber kannst du mich erreichen, die Nummer ist eingespeichert. Schalte es nie ab und führe es immer mit dir - sonst können wir dich vielleicht nicht verständigen, falls ein Engel auf-tauchen sollte. Verstanden?\"

\"Ja.\"

\"In Ordnung. Ich werde dich nicht vom Unterricht abholen können, hast du dir den Weg gemerkt? - Oder, was soll\'s, nimm den hier.\"
Damit drückte sie ihm einen Stadtplan in die Hand.
\"Hast du dein Mittagessen?\"

\"In der Tasche...\"

\"Schön. Den Stundenplan soll dir die Klassensprecherin verraten. Willst du ein Bier, bevor\'s zum Unterricht geht? Ich glaube, im Handschuhfach ist noch eine volle Dose.\"

\"Äh, nein, Misato.\"

\"Na gut, muß ich nicht teilen.\"
Sie grinste, boxte Shinji leicht gegen die Schulter.
\"Und jetzt mach, daß du in deinen Klassenraum kommst.\"

\"2-A.\"

\"Genau. Bis heute abend!\"

Er stieg aus, wartete, bis sie abgefahren war, und wandte sich dann dem Schulgebäude zu.

Der Hof war menschenleer, in dem Fahrradschuppen, den er passierte, waren nur zwei Räder angekettet. Leer waren auch die Flure der Schule, leer und still.
Zu Shinjis Glück befand sich im Eingangsbereich ein Orientierungsplan, so mußte er nicht den Hausmeister wecken, der in seinem Kabuff den Schlaf der Gerechten schlief. Sein Klassenraum lag im ersten Stock, so daß er kurz darauf, nachdem er mehrere leere Klassenzimmer passiert hatte, diesen auch erreichte.

Die Tür stand offen, zögernd trat er ein. Ein Lehrer war nicht anwesend, auch war nur die Hälfte der Pulte belegt, größtenteils von Schülern, welche ein absolut desinteressiertes Gesicht machten oder noch ein wenig Schlaf nachholten.
Um einen Tisch standen mehrere Mädchen herum und unterhielten sich, verstummten aber, als Shinji eintrat.
Eines der Mädchen löste sich aus der Traube und kam zu ihm.
\"Hallo, kam ich dir helfen?\"
Es hatte das Haar seitlich zu zwei Zöpfen geflochten, das freundlich lächelnde Gesicht war voller Sommersprossen.

\"Uhm, ja, vielleicht. Ich suche, äh, Hikari Horaki, die Klassensprecherin.\"

\"Das bin ich. Laß mich raten - du mußt Shinji Ikari sein, der Neue, stimmt\'s?\"

\"Äh, ja.\"

\"Schön, komm mit, das Lager ist gleich auf der anderen Seite des Flures.\"

\"Ja.\"
Er folgte ihr über den Flur, wo sie einen großen Schrank aufschloß. In den Schrankfächern lagen zahlreiche Schulbücher.

\"Mal sehen...\"

\"Das sind... ah... viele Bücher.\"

\"Ja, die Schule wurde für viel mehr Schüler gebaut, als es tatsächlich in Tokio-3 gibt. Und jetzt, nach dem Angriff des Engels, sind einige im Krankenhaus und andere wurden von ihren Eltern an ungefährlichere Orte geschickt.\"

\"Uhm, verstehe.\"

\"Naja. Hier...\"
Sie reichte ihm ein Buch nach dem anderen, bemerkte schließlich, daß er ins Schwanken kam unter der Last, nahm ihm die oberen Bücher wieder ab.
\"Die brauchen wir heute ohnehin nicht, eigentlich brauchen wir keines davon.\"

\"Wieso?\"

Sie sah ihn mit einem seltsam resignierenden Blick an.
\"Glaub mir, das erfährst du noch früher als dir lieb ist. Aber hier, den Laptop wirst du brauchen können, du mußt nur dein eigenes Passwort einrichten.\"

\"Ja, danke...\"

\"Wie lange bist du schon in der Stadt?\"

\"Uhm, seit vorgestern.\"

\"Dann hast du ja den Angriff miterlebt...\"

Er nickte nur.

\"Arbeitet dein Vater auch für NERV?\"

Wieder nickte er nur, verzog dabei säuerlich das Gesicht, was bei ihr einen betroffenen Blick hervorrief.

\"Der Unterricht fängt gleich an.\"

Shinji folgte Hikari zurück in den Klassenraum, in dem eine Änderung erfolgt war - auf einem der vormals leere Plätze bei den Fenstern saß Rei Ayanami, einen Arm immer noch eingegipst und in geschient, ein Bein immer noch bandagiert, ebenso der Kopf. Sie trug eine blau-weiße Schuluniform, hatte den Kopf aufgestützt und blickte aus dem Fenster.

Shinji stoppte.

Hikari, die sein Anhalten falsch interpretierte, deutete auf die leeren Plätze.
\"Such dir einen aus, sind genug frei.\"

\"Uh, danke.\"
Er lächelte nervös, deutete eine Verbeugung an und stellte seine Tasche neben eines der freien Pulte weiter hinten im Raum, plazierte dann die Bücher und den Laptop auf dem Pult und sah sich erneut um.
Das blasse Mädchen blickte immer noch aus dem Fenster. Vielleicht sollte er es begrüßen, immerhin waren sie in gewisser Weise nicht nur in der selben Klasse, sondern Kollegen, steckten also beide mittendrin in der gleichen Sache. Und vielleicht konnte er von ihr etwas über seinen Vater erfahren...
Einen tiefen Atemzug später setzte Shinji sich in Bewegung.
\"Ahm, hallo.\" sagte er leise, als er neben Rei Ayanamis Pult stand.

Langsam wandte sie den Kopf und sah ihn an.
Der Blick aus ihrem scharlachroten Auge schien sich in seine Seele zu brennen.
Sie nickte ihm knapp zu.

\"Ähm, ich wollte nur fragen, wie es dir geht...\"

Als Antwort hob sie den eingegipsten Arm, dann wandte sie sich wieder der Betrachtung des leeren Hofes zu.

Shinji stand noch einen Moment neben ihrem Pult, darauf hoffend, daß sie vielleicht doch noch etwas sagen würde, gab dann aber schließlich auf und ging zu seinem eigenen Platz


*** NGE ***


Eine Stunde, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, später, wußte Shinji, was Hikari gemeint hatte. Eigentlich hatte Japanisch-Unterricht auf seinem Stundenplan gestanden, doch der Lehrer hat die Zeit damit verbracht, einen endlosen Monolog über den Second Impact abzuliefern. Und zu Shinjis Entsetzen unterrichtete derselbe Lehrer die Klasse auch in Geschichte, Erdkunde und zwei weiteren Fächern. Das würden sehr lange Stunden werden...

Ab und an irrte sein Blick zu Rei Ayanami hinüber, diese zeigte ebensowenig Interesse an dem Unterricht, wie die meisten anderen, doch im Gegensatz zu diesen schlug sie die Zeit weder mit Schlafen noch im Chatten über das schuleigene Intranet tot, sondern blickte nur aus dem Fen-ster. Sie hätte genausogut gar nicht anwesend sein können, aber zumindest bei diesem Lehrer galt das wohl für die ganze Klasse, hatte er doch seinen Monolog begonnen, kaum daß er den Raum betreten hatte, ohne die Anwesenheitsliste zu überprüfen oder die Schüler auch nur zu beachten. Dazu kam noch, daß er seinen Monolog anscheinend an einem Punkt, an dem er zu-letzt abgebrochen hatte, direkt wieder angesetzt hatte... Shinji hatte die ersten zehn Minuten lang versucht, den weitschweifenden Ausführungen zu folgen, hatte schließlich aber kapituliert und sich dem Laptop zugewandt; nachdem er sein eigenes Password installiert hatte, war seine erste Handlung die Suche nach irgendwelchen, mit dem Betreibssystem mitgelieferten, Spielen gewesen...

Was Shinji jedoch nicht bemerkte, war die Tatsache, daß Rei die Reflektionen in der Fenster-scheibe studierte, wobei sie seinem Spiegelbild besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ, ebenso wie sie das leise Getuschel und die Blicke bemerkte, welche die anderen ihm immer wieder zuwarfen...


*** NGE ***


Während der kurzen Pause sah Shinji sich plötzlich von dreien seiner Mitschülerinnen umringt

\"Sag mal, du, Ikari, können wir dich mal \'was fragen?\"

\"Äh...\"

\"Stimmt das Gerücht?\"

Sein Gesichtsausdruck erinnerte an ein großes Fragezeichen.
\"Was für ein Gerücht?\"

\"Stell dich nicht dumm!\" - \"Na, daß du der Pilot von dem Roboter bist, dem purpur-grünen.\"

\"Uhm...\"
Shinji sah sich hilfesuchend um, doch die einzige Person, die ihm vielleicht hätte helfen können, deren Blick er suchte, ohne es sich einzugestehen, wandte ihm weiterhin den Rücken zu, blick-te weiterhin aus dem Fenster.
Er schluckte.
\"Ja, es stimmt.\" murmelte er.

\"Was?\" - \"Er sagt, es stimmt!\"

Wie auf ein geheimes Signal hin umstanden im nächsten Moment seine übrigen Mitschüler sein Pult und begannen, auf ihn einzureden. Die unerwartete Aufmerksamkeit war ihm zwar peinlich, gefiel ihm aber auch, schließlich war dies in seinen Augen auch soetwas wie die Anerken-nung, auf die er nach dem Kampf von den Erwachsenen vergeblich - außer von Misato natürlich - gehofft hatte.

Rei hingegen blieb an ihrem Platz und blickte weiterhin aus dem Fenster, schüttelte nur kurz unmerklich den Kopf. Das Third Children hatte nicht verstanden... es ging nicht um Ruhm oder Anerkennung, nur die Mission selbst war wichtig...

Die Fragen prasselten nur so auf Shinji ein - wie er ausgewählt worden war, wie es gewesen war, den Roboter zu steuern, wer, wo, wie, was, warum... schließlich fragte ein Mädchen nach dem Monster und wo es hergekommen war.
Shinji, der sich in einem heftigen Anfall plötzlichen Lampenfiebers bisher seine Antwort mehr schlecht als recht zusammengestottert hatte, hob die Schultern.
\"Ich... weiß es auch nicht genau... uhm... sie nennen diese Wesen Engel...\"

\"Engel? Warum denn Engel, das paßt doch überhaupt nicht.\" - \"Ist sicher ein Codename.\" - \"Was weißt du denn darüber?\" - \"Aber...\" - \"Laßt ihn doch ausreden.\"

\"Uhm, anscheinend weiß niemand so genau darüber Bescheid.\"

\"Und der Roboter, wie heißt der?\"

\"Das, ah, das ist ein EVANGELION, aber, uh, das ist eigentlich alles, ahm, geheim und...\"

\"Na klar. Alles geheim. Tut mächtig schlau, hat aber selbst keine Ahnung. Stimmt doch, oder nicht?\" war eine laute zornige Stimme zu hören.
Mit einem Schlag war alles still.
Der Sprecher war ein hochgewachsener Junge in einem Trainingsanzug, der mit vor der Brust gekreuzten Armen mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt stand und Shinji finster ansah.

Die Klassensprecherin trat zwischen den Jungen und Shinji.
\"Suzuhara! Du hast die ganze Woche unentschuldigt gefehlt...\"

\"Halt die Klappe!\" schnauzte der andere sie an, daß sie erschrocken einen Schritt zurückwich, dann stieß er mehrere der Schüler, die Shinjis Pult umstanden, zur Seite und stützte sich mit den Händen auf, beugte sich vor, bis seine Nasenspitze die Shinji Ikaris beinahe berührte.
\"So, Neuer, du warst also der Pilot. Komm mal eben mit raus!\"
Damit wandte er sich ab und verließ den Raum.

\"Uhm...\"
Shinjis Blick irrte von einem seiner Mitschüler zum nächsten, doch keiner von ihnen begegnete seinem Blick, entweder blickten sie zu Boden oder zur Seite oder hatten plötzlich etwas furchtbar wichtigeres zu tun.
Langsam stand Shinji auf.

\"Bleib hier.\" flüsterte Hikari. \"Suzuhara ist furchtbar übellaunig.\"

\"Aber, was... ah... was will er von mir?\"

\"Keine Ahnung.\"

Shinji zögerte.
Er hatte keine Ahnung, was ihn draußen erwartete. Allerdings konnte er fast spüren, wie die Blicke der anderen an ihm klebten, wenn er sie nicht ansah. Er begriff, daß der andere, von dem er nur den Nachnamen kannte, ihn herausgefordert hatte, daß er soeben aufgefordert wor-den war, zu zeigen, wo in der internen Hackordnung innerhalb der Klasse er sich einordnen wollte, so interpretierte Shinji das Auftreten Suzuharas jedenfalls.
Und wenn er der Aufforderung, nach draußen zu kommen, würden sie ihn als Feigling abstempeln...
\"Vielleicht... vielleicht ist es nur ein... Mißverständnis... Vielleicht kann ich mit ihm reden.\" sagte er, nicht um Hikari zu beruhigen, sondern, um sich selbst Mut zu machen.
Und damit verließ er den Klassenraum.

Genau zehn Sekunden später erhob sich Rei Ayanami, nahm ihre Tasche und ging langsam zur Tür.

\"Ayanami, der Unterricht...\" setzte Hikari an, wurde aber von einem stummen Blick aus einem einzelnen roten Auge zum Schweigen gebracht.

Ohne weitere Unterbrechungen verließ auch Rei den Raum.

Hikari ließ sich auf ihren Stuhl sinken.
\"Nimmt mich denn keiner mehr ernst?\" murmelte sie leise.


*** NGE ***


Shinji fand Suzuhara hinter der Schule auf dem Sportplatz in Begleitung eines zweiten Jungen, der optisch das genaue Gegenteil war, wo Suzuhara groß und durchtrainiert war, war der andere klein und vermittelte eher den Eindruck einer Couchkartoffel mit Brille.
Shinji ging direkt auf Suzuhara zu, wollte Rückgrat beweisen, um ihm zu zeigen, daß er ihn nicht einfach herumstoßen konnte.
\"Hör mal, ich weiß nicht...\"

Weiter kam er nicht, denn da landete der Junge im Trainingsanzug schob einen kräftigen Faust-schlag mitten in Shinjis Gesicht, der Shinji von den Beinen holte. Hart schlug er mit der ganzen Körperlänge auf die Aschenbahn.

\"Jetzt hör gut zu!\" verkündete Suzuhara, während er sich die Ärmel hochkrempelte. \"Meine kleine Schwester liegt verletzt im Krankenhaus! Was glaubst du, wer an ihrem Zustand schuld ist?\"

\"Was...?\" fragte Shinji, dem Blut aus der Nase lief.

\"Was? Was? Ist das alles? Es ist deine Schuld, daß sie vielleicht nie wieder laufen kann - weil du mit deinem verdammten Roboter das Haus über ihr zum Einsturz gebracht hast!\"

Shinji schluckte.
Das hatte er nicht gewußt.
Er hatte angenommen, daß die Stadt während des Kampfes bereits völlig evakuiert gewesen war.
\"Tut mir leid.\" sagte er leise.

Auf Suzuharas Stirn schwoll eine Zornesader an. Der andere Junge versuchte ihn zurückzu-halten, während Shinji langsam aufstand.
\"Willst du mich verarschen? Es tut dir leid? Ja, verdammt, es wird dir sehr leid tun!\"

\"He, Toji, es reicht!\" versuchte der andere Junge ihn zu beschwichtigen,

\"Schauze, Kensuke! Dieser... Typ ist schuld an Maris Zustand!\"

Shinji blickte Suzuhara in die Augen, sah nur rasende Wut.
Er selbst fühlte Bedauern, gerade eben noch hatte er im Klassenraum als großer Held gefühlt, umschwärmt von den anderen, doch davon war nichts mehr übrig, nur bittere Leere, nachdem er mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert worden war, schließlich hatte er den EVA gesteuert... Und auch, wenn er Toji Suzuharas Schwester nicht kannte, so verspürte er doch starke Schuldgefühle.
\"Ich sagte, daß es mir leid tut... Ich wußte nicht,... daß noch Menschen in den Häusern wa-ren... niemand hat...\"

\"Niemand hat... ja, schieb es nur auf andere...\" grollte Suzuhara.

\"Was willst du eigentlich? Soll ich auf die Knie fallen und... und um Vergebung bitten? Ich tue es, wenn du glaubst, es würde deiner Schwester helfen...\"

Suzuharas Augen quollen fast aus den Höhlen.
Dann schlug er wieder zu, diesesmal in den Magen.

Wieder flog Shinji rückwärts, hatte plötzlich sein Frühstück wieder im Mund.

Suzuhara baute sich vor ihm auf, den anderen mit der Brille, der immer noch versuchte, ihn zurückzuhalten, wie ein lästiges Anhängsel am Arm.
\"Machst du dich über mich lustig? Komm, steh auf... nach komm schon!\"

Vom Rand des Feldes aus hatte Rei das Geschehen beobachtet.
Warum wehrte Pilot Ikari sich nicht? Lag es daran, daß der andere ihm körperlich überlegen war? Oder war er vielleicht vor Angst gelähmt?
Und wo waren die Sicherheitskräfte, welche die Piloten eigentlich überwachen und beschützen sollten? Momentan konnte sie nicht einmal die beiden ihr zugeteilten Männer in Schwarz sehen, obwohl sie darin inzwischen recht geübt war.
Wenn Pilot Ikari sich nicht wehrte, Schüler Suzuhara allerdings damit fortfuhr, ihn körperlich zu mißhandeln, konnte er bleibende Schäden erleiden, welche seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigen konnten. Und dann würde der Kommandant ihn wahrscheinlich dorthin zurückschik-ken, von wo er ihn hatte kommen lassen. Und dann würde sie wieder die einzige EVA-Pilotin in Tokio-3 sein, diejenige, welche allein die Verantwortung für die Mission trug... und sie wür-de wieder allein sein...


*** NGE ***


Wolf Larsen musterte die Mitglieder seines Einsatzteams. Es waren vier Männer und zwei Frauen. Die RABEN ODINs operierten entweder zu zweit oder in Siebenergruppen, wenn der Einsatz ein größeres Aufgebot erforderte.
Kurz informierte er sich über Hintergrund und Ziel des Einsatzes.

Jeder von ihnen nickte.

Sie befanden sich an Bord eines Stealth-Hubschraubers, dessen gedämpfte Motoren kaum Lärm verursachten, einer Spezialmaschine, die genau zu dem Zweck gebaut worden war, um kleine Einsatzgruppen schnell und unbemerkt ins Zielgebiet zu bringen. Wie ein Schatten glitt die Maschine über das nächtliche Bergland Kurdistans.
Jedes Mitglied des Teams trug einen schwarzen Tarnanzug und war mit mehreren Waffen ausgestattet.

Larsen blickte jedem von ihnen ins Gesicht.
Die Hälfte von ihnen hatte er selbst ausgebildet, die anderen waren von Leuten trainiert worden, denen er vertraute wie sich selbst. Und doch war einer von ihnen ein Verräter, ein Maulwurf, den ODIN-Direktor Wilforth F. Cedrick, seines Zeichens früherer General bei den US-amerikanischen Streitkräften und Mitglied einer Verschwörergruppe namens SEELE, deren Einfluß bis in die höchsten Etagen von Politik, Militär, Wirtschaft und Kirche reichte.
SEELE stand hinter NERV, hatte dafür gesorgt, daß der bis dahin völlig unbekannte Gendo Ikari die Mittel erhalten hatte, um NERV aus dem Boden zu stampfen und das Projekt E in die Wege zu leiten, dem die EVANGELIONs entsprungen waren.
Bereits vor fünf Jahren war Larsen auf die Spuren SEELEs gestoßen, die auch vor Erpressung und Mord nicht zurückschreckten, um ihre Ziele zu erreichen. Er selbst hatte zwei Menschen, beides hochrangige Wirtschaftsführer, im Auftrag ODINs lequidiert, doch dann waren ihm Zweifel gekommen, ob es sich bei diesen beiden wirklich die Urheber staatsfeindlicher Machenschaften gehandelt hatte. Bei seinen Ermittlungen auf eigene Faust war er auf die Verbindung Cedricks zu SEELE gestoßen und hatte nur mit Mühe seine Spuren verwischen können, ohne die Hilfe seines Vorgesetzen, der ebenfalls eigene Recherchen anstellte, wäre er wahrscheinlich damals schon aufgeflogen. Er war ein Killer, ja, aber er versuchte stets bei jedem seiner Aufträge Abstand zu wahren, um niemals die Schwelle vom Killer zum Mörder zu überschreiten, der aus persönlichen Motiven handelte; er tötete, doch er tötete jene, die durch ihre Taten selbst das Urteil über sich verhängt hatten. Der Rat von ODIN entschied darüber, gegen wen er ins Feld geschickt wurde. Doch Cedrick hatte die Spielregeln verändert, er hatte Larsen zu seinem persönlichen Auftragsmörder gemacht, hatte alle Grundsätze, welche dieser für sich selbst aufgestellt hatte, mit Füßen getreten. Und das machte Larsen zornig.
Doch es gab noch einen anderen Grund für ihn, gegen SEELE zu ermitteln - Asuka, die Patentochter seiner Frau, welche seit zehn Jahren bei ihnen im Haushalt lebte, Asuka, für die er sich verantwortlich fühlte, in deren Interesse er sogar seine besonderen Fähigkeiten eingesetzt hatte, um ihren derart einzuschüchtern, daß er zustimmte, ihm und Ann Larsen das Sorgerecht über seine Tochter zu übertragen, Asuka, welche von NERV als EVA-Pilotin rekrutiert wor-den war und wahrscheinlich bald angefordert werden würde...
Und nun hockte er in einem Hubschrauber und versuchte herauszufinden, welcher seiner Begleiter der Verräter war, der dafür sorgen sollte, daß der Einsatz zwar gelang, der aber auch als einziger Überlebender ins ODIN-Hauptquartier, ASGARD, zurückkehren sollte...

Der Hubschrauber setzte zur Landung an, viel weiter südlich als in den Einsatzakten vorgeschlagen, um jede Möglichkeit eines vorbereiteten Hinterhaltes auszuschließen.
Die sieben Schwarzgekleideten verließen die Maschine, die mit derselben gespenstischen Lautlosigkeit wieder abhob, mit der sie auch gelandet war

Wolf Larsen erlaubte sich einen letzten ruhigen Atemzug, in dem er die Bergluft einsog, in dem er den letzten friedlichen Augenblick genoß.
Einer seiner Begleiter war ein Verräter... ein Verräter, der wahrscheinlich imstande war, ihn zu töten, wenn er ihm die Gelegenheit gab...

Mit einer knappen Handbewegung wies er seine Begleiter an, einen Halbkreis zu bilden.
Noch einmal musterte er sie. Die Dunkelheit war kein Problem, aufgrund seiner besonderen... Ausstattung... war er in der Lage, jede Einzelheit zu erkennen, jedes Muskelzucken, jedes Auf-flackern in den Augen...

\"Planänderung. Die Mission ist kompromittiert, wir werden abbrechen.\"

\"Sir...\" flüsterte ein Mann zu seiner Linken. Es war keines der Teammitglieder, die er selbst ausgebildet hatte.

\"Es handelt sich um eine Falle. Der Gegner weiß von unserer Anwesenheit, wahrscheinlich kennt er sogar den Zeitplan.\"

Die anderen wechselten betroffene Blicke.

\"Und der Virus?\" fragte eine der beiden Frauen.

\"Existiert.\"

\"Dann müssen wir auch handeln.\"

\"Nein.\"

\"Aber wir sind RABEN, wir sind besser ausgebildet als der Gegner, wir sind ihnen überlegen, egal, was sie über uns wissen, oder wo sie uns erwarten.\"

Aus den Augenwinkeln fixierte er den Sprecher, wartete auf eine Reaktion.
\"Wir brechen ab.\"

\"Ja, Sir. Bestätigt.\"

Larsen nickte unmerklich.
Die andere wirkte nicht gerade begeistert davon, die Aktion abbrechen zu müssen, aber die jeweilige Reaktion fiel ansonsten völlig ruhig aus.
Bei zwei weiteren Mitgliedern seines Teams kam er zu dem gleichen Schluß.

\"Ihre Befehle, Sir?\"

\"Wir teilen uns auf und schlagen einen weiten Bogen. Wir sind auf uns allein gestellt, keine Rückendeckung, keine Unterstützung.\"

\"Das ist Verrat!\"

Larsen hatte seine Waffe im gleichen Augenblick aus dem Halfter wie der Sprecher, hatte die Mündung im gleichen Augenblick auf dessen Stirn gerichtet, wie er selbst in eine Pistolenmündung blickte.

Natürlich war es keiner derjenigen, die er selbst ausgebildet hatte.
Er registrierte jedes Zucken der Augenwinkel, jede Veränderung der Atmung.

\"Sie arbeiten mit dem Gegner!\"

Die anderen Agenten verhielten sich ruhig, hatten zwar die Hände auf ihren Waffen, wirkten jedoch unschlüssig, eine solche Situation gehörte nicht zu ihrer Ausbildung, Zweifel an den Be-fehlen der Vorgesetzten gehörten nicht zur Ausbildung... außer natürlich, man wurde von Toby Simmons ausgebildet, der sogar an sich selbst zweifelte...
\"Direktor Cedrick arbeitet mit dem Feind.\" erklärte er völlig ruhig - und ließ sich nach hinten fallen, schwenkte den Lauf seiner Waffe herum auf den Agenten, der gerade, während die anderen abgelenkt waren, seine Waffe gezogen hatte, zog den Abzug durch, stanzte dem anderen ein kreisrundes Loch in die Stirn.

Der andere kam nicht mehr dazu, seine Waffe abzufeuern, stürzte lautlos nach hinten.
Dabei hätte er mit diesem Manöver rechnen müssen, schließlich hatte Wolf ihn trainiert...

Larsen fing seinen eigenen Sturz ab, kam wieder auf die Beine, blickte in die Mündungen von vier großkalibrigen Waffen. Der sechste Agent des Teams kümmerte sich gerade um den Niedergeschossenen, schüttelte nur stumm den Kopf.
\"Überprüfen Sie seine Waffe.\" flüsterte Larsen, während er mit abgespreizten Armen dastand, die eigene Waffe locker in der Hand zu Boden gerichtet.

Der Agent befolgte seine Anweisung automatisch, richtete sich dann langsam auf.
\"Panzerbrechende Explosivmunition...\"

Larsen verzog das Gesicht..
Das hätte wehgetan... wenn er es überlebt hätte...
Ohne Hast steckte er seine Waffe zurück ins Halfter.

\"Stimmt es?\" fragte Simmons Schüler.

Larsen nickte.
\"Das ganze Team sollte geopfert werden - bis auf den da...\"
Er deutete auf den Toten.

\"Verstecken?\"

\"Verstecken.\"

Die fünf anderen begannen, wie ein Uhrwerk zu funktionieren, während drei von ihnen nach allen Seiten absicherten, nahmen zwei weitere die Ausrüstung des Toten an sich, dann schleiften sie ihn zwischen mehrere Sträucher und deckten die Leiche mit Steinen ab.

\"Weitere Anweisungen, Sir?\"

Larsen ließ sich sein inneres Aufatmen, die Gruppe wieder unter Kontrolle zu haben, nicht anmerken.
\"Wir teilen uns auf, ich werde allein ins Zielgebiet vordringen, Sie ziehen sich zurück. Ein Transportmittel erwartet uns an einem geheimen Treffpunkt, die Koordinaten finden Sie in ihren zusätzlichen Unterlagen.\"

\"Sie wollen das Unternehmen allein durchziehen, Sir?\"

\"Ja. der Gegner erwartet eine kleine Armee, keinen einzelnen Mann.\"

\"Aber das Risiko...\"

\"Ist akzeptabel.\"

\"Wäre es nicht trotzdem besser...\"

\"Ich habe Sie als Mitglieder meines Teams ausgewählt, obwohl ich wußte, was passieren könnte. Damit bin ich für Ihre Sicherheit verantwortlich... soweit mir möglich. Für die Organisation sind wir zum Zeitpunkt des Abfluges als Verluste abgeschrieben worden. Ich bin für Ihre Lage verantwortlich, aber ich habe mich für Sie entschieden, weil Sie die besten sind, weil ich mir sicher bin, mit Ihrer Unterstützung die Verschwörung, welcher Dirketor Cedrick angehört, aushebeln zu können. Aber dazu müssen Sie überleben. Sollte ich nicht zurückkommen, wird jemand anders Sie kontaktieren.\"


*** NGE ***


Toji Suzuhara hatte Shinji am Kragen seines Hemdes gepackt und holte gerade wieder zum Schlag aus, als jemand sich zwischen ihn und den jungen Ikari schob und er unvermittelt in ein scharlachrotes Auge blickte, welches ihn ohne zu blinzeln anstarrte.
Vor Überraschung ließ er Shinji los, trat einen Schritt zurück.
\"Aus dem Weg!\"

Rei Ayanamis Gesicht zeigte keine Regung, immer noch blinzelte sie nicht, schien den größeren und kräftigen niederstarren zu wollen.

\"Was geht hier vor?\" rief da die Klassensprecherin Hikari, welche nun ebenfalls ebenfalls vor Ort aufgetaucht war, mehrere Mitschüler im Schlepptau. Sie wirkte ziemlich wütend.

Toji warf einen letzten Blick auf den am Boden hockenden Shinji Ikari, verzog verächtlich das Gesicht, dann verließ er den Sportplatz.

Hikari und die anderen versammelten sich um Shinji und Rei, welche immer noch wie eine Statue dastand. Zwei Mädchen halfen Shinji auf die Beine.

\"Das ist ja gerade nochmal gut gegangen.\" - \"Suzuhara macht aber nur Ärger!\" - \"Wenn ihn ein Lehrer gesehen hätte, hätte sie ihn von der Schule geworfen.\" - \"Bist du in Ordnung?\" - \"Deine Nase...\"

\"Es geht... danke...\" murmelte Shinji und wehrte jeden weiteren Hilfeversuch ab. \"Ich... ich wäre gern allein...\"

Sie blickten ihn an, als zweifelten sie an seinem Verstand, nur Hikari nickte.
\"Falls ein Lehrer fragt... sage ich ihm, daß du dich nicht wohlgefühlt hast.\"

\"Ja...\"
Shinji nickte. Das würde nicht einmal gelogen sein.

\"Und ich werde deine Sachen in meinem Pult einschließen.\"

Er nickte wieder, sah dann zu, wie die Klassensprecherin ihre Mitschüler in den Klassenraum zurückbeorderte und die Gruppe den Platz verließ.
Jetzt war nur noch Ayanami bei ihm.

Sie drehte sich langsam um, blickte ihn an.
\"Warum hast du dich nicht gewehrt, Pilot Ikari?\"

Die Frage überraschte ihn.
\"Was... was hätte das genutzt...?\"

Sie blinzelte überrascht.

\"Warum hast du mir geholfen?\"

Sie antwortete nicht, betrachtete stattdessen sein Gesicht.
\"Deine Nase blutet.\"

Er tastete sich mit der Hand über das Gesicht.
\"Äh... ja...\"

\"Dort drüben kannst du dich waschen.\"
Sie führte ihn zu einem Wasserbecken.

\"Ich... Ayanami, danke.\"

Sie nickte nur knapp, bevor sie sich abwandte und ging.



2. Zwischenspiel:

Gendo Ikari stand vor dem nicht-existenten Tisch in dem nicht-existenten Raum und musterte die ebenfalls nicht-anwesenden Mitglieder des Komitees. Wie üblich fand das Treffen in einem virtuell-simulierten Raum statt, während die Teilnehmer über die ganze Welt verteilt wa-ren.

Vorsitzender der Gruppe war ein alter Mann, dessen Augen hinter einem metallenen Visor verborgen lagen.
\"Ikari, berichten Sie.\"

\"Der Engel, welcher mit der Bezeichnung Satchiel versehen wurde, konnte aufgehalten und vernichtet werden. Leichte bis mittlere Schäden an den beiden EVANGELIONs, einer der Pi-loten wurde verletzt.\"

\"Bei ihnen klingt das immer alles so einfach... vergessen Sie nicht, daß Sie uns alles verdanken, was Sie sind, wir haben Ihnen die Mittel besorgt, NERV aufzubauen. Ohne uns wären Sie immer noch ein unbedeutender und unbekannter Wissenschaftler.\" knurrte ein Mann ebenfalls fortgeschrittenen Alters zu Ikaris Linken. Überhaupt waren außer Ikari alle Anwesenden altersgemäß irgendwo zwischen alt, uralt und scheintot einzuordnen.

\"Kein Grund, sich aufzuregen.\" erklärte ein dritter Mann. \"Auch wenn die Reparaturkosten für die beiden EVAs hoch genug sind, um eine kleinere Nation in den Ruin zu treiben.\"

\"Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der Sieg über den Engel sollte im Vordergrund stehen, immerhin war es der erste Einsatz der beiden EVAs.\" schloß sich ein vierter Mann seinem Vor-redner an.

\"Ja, aber mußte er EVA-01 seinem Sohn geben? Gab es keinen anderen Kandidaten?\"

\"Nein. Es war kein anderer Kandidat zur Hand. Die Versuchsgruppe hat bisher ebenfalls nie-manden hervorgebracht.\"

\"Das Second Children kann jederzeit nach Japan geschickt werden, nur Einheit-02 benötigt noch einige Wochen bis zur völligen Fertigstellung aufgrund der Modifikationen, welche die Serienfertigung gegenüber den beiden Ur-Modellen auszeichnen.\"

\"Der fünfte Kandidat ist ebenfalls fast soweit.\"

Ikari schwieg, lauschte dem Gespräch der Mitglieder von SEELE...

\"Haben Sie endlich alle Vorkehrungen getroffen, um die Erziehungsberechtigten des zweiten aus dem Weg zu räumen?\"

\"Ja. Die Einmischung Commander Larsen kann den Plan nur unwesentlich verzögert. Die Pa-tentante des Second Children liegt infolge langfristiger Verabreichung von Injektionen im Ster-ben und der Cyborg selbst wird den morgigen Tag nicht mehr erleben.\"

\"Auch eine dieser notwendigen Ausgaben. Der Commander war ein exzellenter Vollstrecker. Aber anscheinend war doch noch genug von ihm selbst übrig, um den menschlichen Elterninstinkt anzusprechen.\"

\"Das Kapitel kann als abgeschlossen betrachtet werden.\"

\"Sind Sie sicher, daß Larsen kein Risiko mehr darstellt?\"

\"Die Falle, in die er hineinläuft, wurde von mir von langer Hand vorbereitet. Damit es für die anderen Direktoren ODINs glaubwürdig aussieht, war ich gezwungen, ein ganzes Spezialisten-Team zu opfern.\"

\"Wo gehobelt wird...\"

\"Nicht nochmal\", seufzte der Vorsitzende und wandte sich an Ikari. \"Ich beglückwünsche Sie zum Sieg über den Engel. Aber Sie dürfen die Hauptsache nicht vergessen - den Plan zur Vervollkommnung des Menschen.\"

\"Es ist mir bewußt, daß der Plan die einzige Hoffnung darstellt.\"

\"Auf alle Fälle darf das Auftauchen eines Engels den Plan nicht weiter verzögern.\"

\"Ich arbeite zweigleisig an der Sache.\"

\"Gut. Wir können es uns nicht leisten, daß die Ausführung des Planes im letzten Moment von einem Gegner gestört wird.\"

\"Verlassen Sie sich ganz auf mich.\"

\"Wie sieht es mit der Veränderung der Berichte aus?\"

\"Ich habe alles in der Hand, meine Untergebenen erhalten nur die Informationen, welche sie benötigen, um ihre Funktionen zu erfüllen.\"

\"Dann ist das alles. Sie können uns verlassen.\"
Kapitel 08 - \"Was wollte ihr alle von mir?\"

Shinji kehrte nicht in den Klassenraum zurück, um seine Sachen zu holen, die Klassensprecherin erschien fähig und vertrauenswürdig, daß sie ihr Versprechen erfüllt. Und er hatte auch kein Interesse, dem wütenen Suzuhara vielleicht noch einmal über den Weg zu laufen. In dessen Augen hatte er etwas gesehen, das ihn stark an die Eindrücke erinnerte, die er während des Kampfes mit dem Engel gehabt hatte, die gleiche finstere Wut, denselben selbstzerstörerischen mörderischen Zorn...

Nachdem er die mit einem Taschentuch das Gesicht gesäubert und vorsichtig festgestellt hatte, daß weder seine Nase gebrochen, noch die Lippe aufgeplatzt war, machte er sich auf den Heimweg.
Sein Magen schmerzte von Suzuharas zweitem Hieb, er verspürte eine leichte Übelkeit und den Drang, sich irgendwo zusammenzurollen, bis die Schmerzen entweder verschwunden waren, oder er einfach starb...
In diesem Augenblick war es ihm tatsächlich egal, ob er lebte oder tot umfiel, es kümmerte doch ohnehin niemanden... außer vielleicht...
Misato? - wollte sie ihn nicht nur als Piloten, genau wie sein Vater oder Doktor Akagi? Und Ayanami? Warum hatte sie eingegriffen? Suzuhara hätte ihr möglicherweise ebenfalls einen Schlag versetzt, trotz ihrer Verletzungen. Weshalb war sie dieses Risiko eingegangen? Und warum war sie im Anschluß einfach gegangen?

Mit hängenden Schultern und schlurfenden Schrittes bewegte er sich die Straße hinunter, eine Hand gegen den Magen, die andere mit dem Taschentuch gegen die Nase gedrückt.
In dieser Lage überfiel ihn regelrecht das Piepen seines Handys.
Er fingerte es aus seiner Hosentasche und las auf dem Display, daß er sich im Hauptquartier melden sollte.
Und das gerade, als er gedacht hatte, der Tag könnte nicht mehr schlimmer werden...

Zu seinem Glück befand sich eine U-Bahnhaltestelle ganz in der Nähe, so daß er nicht weit gehen mußte. Nach zweimaligem Umsteigen fand er sich in einer Station wieder, die über einen Aufzug mit der Geofront verbunden war.
Die Schlüsselkarte seines Handys funktionierte als ID-Card, welche ihm die Benutzung des Aufzuges erlaubte. In der Aufzugskabine, welche groß genug für wenigstens zwanzig Personen war, gab es nur zwei Knöpfe, aufwärts und abwärts. Und nur der Abwärts-Knopf war freigeschaltet.
Shinji drückte auf Abwärts und lehnte sich, sich immer noch den Bauch haltend, wegen die Metallwand des Aufzuges, während die Lifttüren zuglitten und die Kabine sich in Bewegung setzte.
Es war unangenehm still und die Fahrt dauerte insgesamt fünf Minuten.
Shinji wünschte sich, seinen SDAT-Player dabeizuhaben, dann hätte er wenigstens Musik hö-ren können, doch der aufgepeppte Diskman befand sich in dem Reisekoffer mit seinen anderen Sachen, der bisher noch nicht mit der Bahn eingetroffen war.
Schließlich hielt der Aufzug und die Türen öffneten sich. Hinter ihnen lag eine ähnliche Bahn-station wie an der Oberfläche, wo ein Zug bereits auf ihn zu warten schien, denn dieser fuhr so-fort an, kaum daß Shinji ihn betreten hatte.
Eine weitere Minute später erreichte der Zug die zentrale Haltestelle beim NERV-HQ.
Wieder benutzte Shinji die ID-Karte, um das wuchtige Stahltor passieren zu können, welches den Haupteingang versperrte.

Misato Katsuragi erwartete ihn schon.
\"Das ging aber schnell.\"

Shinji sah sie nur müde an.

\"War \'was in der Schule?\"

\"Nein, nichts.\"
Er log, ohne mit der Wimper zu zucken, schließlich ging es sie wirklich nichts an, wahrschein-lich hätte sie nicht einmal verstanden, weshalb Suzuhara seine Wut an ihm hatte auslassen wol-len. NERV wollte ihn schließlich nur als Piloten, der für sie die Engel bekämpfte - und Misato gehörte wiederum zu NERV...
\"Was gibt es?\"

Sie blickte ihn entschuldigend an.
\"Ritsuko wartet im Testcenter. Ich habe ihr eigentlich gesagt, daß wir dir noch ein, zwei Tage zum Eingewöhnen geben sollten, bevor wir mit deinem Training beginnen, aber sie meinte, die Zeit drängte... Komm, ich bringe dich hin, präge dir die Strecke gut ein. NERV sollte wirklich Pläne dieser Anlage an alle verteilen, damit wir uns besser zurechtfinden. Aber nein, alles Top Secret...\"
Sie seufzte.
\"Und das mir mit meinem schlechten Orientierungssinn...\"

Shinji verdrehte hinter ihr die Augen.
Er wünschte sich, er hätte ihre Probleme, sie mußte ja nicht in einen Riesenroboter steigen und in dieser verdammten LCL-Flüssigkeit baden. Und sie wurde sicher auch nicht von irgendwel-chen Leuten zusammengeschlagen...

Zwei Etagen tiefer und etwa vier Sektionen weiter deutete Misato auf eine Tür am Gangende.
\"Dahinter befindet sich das Testcenter, dort warte ich auch dich. Und hier rechts ist der Um-kleideraum, zieh die für dich bereitliegende PlugSuit an und komm dann nach.\"
Als er nicht reagierte, zog sie die Augenbrauen hoch.
\"Na los! Oder soll ich dir beim Umziehen helfen?\"

\"N-nein.\"
Er betrat die Umkleidekabine.
Der Raum hatte zu beiden Seiten jeweils zehn Spinde und eine Bank, eine offenstehende Tür auf der anderen Seite führte in einen Wasch- und Duschraum.
Auf der Bank zur rechten lag zusammengefaltet ein overallartiges dunkelblaues Kleidungsstück mit weißen Absätzen. Er nahm es hoch, faltete es auseinander. Es hatte seine Größe, schien ihm aber viel zu weit.
Seufzend zog er Schuhe, Strümpfe, Hemd und Hose aus und nahm den Anzug wieder in die Hand. Wahrscheinlich sah er darin aus wie ein Clown...

Es klopfte laut an der Tür.
\"Shinji?\" drang Misatos Stimme hinein. \"Ritsuko sagt, die PlugSuit wird auf der nackten Haut getragen.\"

\"Äh, ja.\"
Shinji verzog das Gesicht.
Nicht nur wie ein Clown, sondern wie ein nackter Clown...

\"Und wenn du sie anhast, dann betätige den Dekompressionschalter am Handgelenk.\"

Er bestätigte, stieg nun auch aus seiner Unterwäsche und in die PlugSuit.
Tatsächlich hing sie an ihm wie ein nasser Sack, war weit genug, daß er zweimal hineingepaßt hätte. Dann betrachtete er den Druckkontakt am Handgelenk und betätigte ihn schließlich.
Mit einem leisen Zischen wurde die Luft aus dem Anzug gepreßt und er legte sich eng auf wie eine zweite Haut.
So sollte er rausgehen?
Ein Blick nach unten zeigte ihm, daß der Anzug an den dortigen Körperregionen nichts ab-zeichnete, trotzdem fühlte er sich nicht ganz wohl.
Zur Ablenkung räumte er seine Sachen in einen der Spinde. Zu seiner Verärgerung mußte er feststellen, daß der Spind sich nicht abschließen ließ.
Also verließ er die Kabine wieder und wandte sich der breiten Tür des Testcenters zu.


*** NGE ***


Kurz darauf saß er wieder im EntryPlug von EVA-01 und kämpfte gegen den Würgereflex an, als das LCL über ihm zusammenschlug.
Diesesmal schmeckte es nicht nach feuchte Pappe, sondern nach altem Käse.

\"Wir machen jetzt ein paar Tests. Entspann dich.\" meldete sie Akagi über InterKom.

\"Ja, ja. Entspannen...\" , murmelte Shinji.
Wie sollte er sich entspannen? Er atmete eine Flüssigkeit, die er am liebsten auswürgen würde, er saß in einer engen Kapsel, die wahrscheinlich sogar bei einem Bergarbeiter Platzangst her-vorgerufen hätte, und als Krönung kam hinzu, daß er sich nicht erinnern konnte, sich jemals freiwillig zu dem ganzen Unfug gemeldet zu haben...

\"Shinji, was ist los? Meinen Anzeigen nach bist du ziemlich unruhig.\"

\"Keine Ahnung.\" antwortete er unwillig.

\"Na gut, machen wir weiter. Der taktische Computer zeigt dir jetzt die Pläne des Geländes - Zugangsschächte zur Geofront, Aufzugsschächte der EVAs, Waffenbunkergebäude, Anschluß-stellen für das Versorgungskabel. Präge sie dir gut ein, es ist wichtig, daß du ihre Lage auch ohne die Hilfe des Computers kennst.\"

\"Ja, ja...\"

Im Testzentrum schaltete Akagi den Ton der Übertragung ab und wandte sich Misato zu.
\"Er scheint mir recht unkooperativ. Weißt du, woran das liegen könnte?\"

\"Nein... Heute war der erste Schultag, vielleicht Streß mit den Mitschülern.\"

\"Hm. Ich denke, ich werde nachher mal mit Rei sprechen, ob ihr etwas aufgefallen ist... Mich wundert ohnehin, daß er wieder einsteigt...\"

\"Ja. Der EVA löst nicht gerade Freudenstürme bei ihm aus - das sehe ich sogar ohne deine Meßgeräte. Vielleicht liegt es auch daran, daß sich seine Pflegeeltern noch nicht erkundigt ha-ben, ob er heil angekommen ist.\"

\"Hat er etwas in der Richtung gesagt?\"

\"Nein. Aber seltsam ist es trotzdem, immerhin hat er über zehn Jahre bei ihnen gelebt.\"

\"Menschen sind seltsam... Du weißt doch: Aus den Augen, aus dem Sinn.\"

\"Trotzdem... da fällt mir ein, könntest du über den Computer des Lebenserhaltungssystems vielleicht mal Shinjis Kopf abchecken? Ihm fehlt immer noch jede Erinnerung an das Ende des Kampfes gegen Ziel: Satchiel.\"

\"Ich schaue mal... Nein, keine Anomalie feststellbar, die Beule an der Stirn ist gut abgeheilt. Wahrscheinlich liegt es an einer Art Schock... Moment, was ist denn das? Leichtes Knochen-trauma am Nasenbein und am Wangenknochen... das sieht mir ganz nach einem Faustabdruck aus.\"

\"Also ist doch etwas in der Schule geschehen. Rede mit Rei.\"

\"Das mache ich nachher. Hm, mal sehen, wenn ich die LCL-Zusammensetzung etwas verän-dere... das Zeug beschleunigt die Regeneration der EVAs, es sollte auch auf menschliches Ge-webe wirken.\"

\"Bist du dir da ganz sicher?\"

\"Bin ich der Arzt hier mit den fünf Doktortiteln oder du?\"

\"Ähm...\"

\"Ich habe auch etwas am Geschmack des LCL geändert, da drüben steht eine Probe.\"

\"Ich soll das doch nicht trinken, oder?... Urgh, das riecht ja wie alte Socken.\"

\"Immer noch nicht zufrieden? Kann man es dir denn gar nicht recht machen?\"

\"Wie wär\'s mit Bieraroma?\"

Akagi verbarg das Gesicht in den Händen und gab einen schluchzenden Laut von sich.


*** NGE ***


\"So, Shinji, hast du dir alles eingeprägt?\"

\"Uhm, glaube schon, Ritsuko.\"

\"Doktor Akagi bitte, junger Mann, ja?\"

\"G-gomen.\"

\"Wir lassen jetzt ein paar Simulationen laufen, nenn es ruhig Tontaubenschießen. Ich will wis-sen, wie gut deine Reflexe und die Übertragung auf den EVA sind.\"

Der bis dahin dunkle Hauptbildschirm erhellte sich, zeigte Gebäude und Straßen, alles aller-dings grob vereinfacht, eigentlich nur Linien auf dem Monitor, die geometrische Formen bilde-ten.
Am Himmel tauchte ein Objekt auf, eine rote Kugel, welche im Zickzackflug näherkam.
\"Äh...\"
Shinji blickte schräg nach unten, sah die Hände des EVAs, die ein klobiges Gewehr hielten.

\"Konzentriere dich auf das Gewehr - Anlegen - Zielen - Feuern - Durchladen\", versuchte Misa-to ihn anzuspornen.

\"Gewehr...\"
Tatsächlich tauchte auf dem Hauptmonitor ein kleines Fadenkreuz auf.
Shinji zog den Pistolengriff der Steuerung durch, ein Energiestrahl schoß aus dem Gewehr, verfehlte das Ziel ab. Er betätigte den Abzug erneut, doch es geschah nichts.

\"Durchladen! Der andere Abzug.\"

\"Ja...\"
Wieder daneben.
Durchladen... anvisieren... schießen...
Beim vierten Versuch traf er schließlich.
Das ganze wiederholte sich insgesamt noch neunmal, ohne daß es ihm gelang, das Ziel gleich beim ersten Anlauf zu treffen.

\"Gut, Shinji, wir brechen ab. Ich habe jetzt alle Daten, um ein Trainingsprogramm zusammen-stellen zu können.\" erklärte Akagi und ohne weitere Vorwarnungen wurden die Monitoren dunkel. \"Du kannst die Kapsel jetzt verlassen.\"


*** NGE ***


\"Du könntest dich ruhig etwas mehr anstrengen.\" erklärte Misato beiläufig während des Abendessens. \"Wenn du dich konzentrierst, reagiert der EVA viel schneller, das wird im Kampf sehr wichtig sein.\"

Shinji blickte sie nicht an.
\"Ja, ja.\"

\"Shinji-kun, was ist los?\"

\"Nichts.\"

\"Das sieht mir aber nicht nach nichts aus. Was stimmt nicht?\"

\"Woher... woher willst du wissen, ob mir etwas nicht... nicht stimmt?\"

\"Shinji...\"

\"Dich interessiert doch nur, ob ich diesen Roboter steuern kann, ihr wollt doch alle nur, daß ich für euch kämpfe... daß ich für euch meine Haut riskiere! Ihr seid doch alle gleich, Vater, Akagi, du... ich bin euch egal, Shinji Ikari ist euch egal, nur Pilot Ikari ist richtig!\"
In seinen Augen blitzte die Wut. Er schob den Teller von sich und stand auf, um in sein Zim-mer zu stürmen.

Misato blickte ihm nach.
Ihr war der Appetit vergangen. Sie räumte das Geschirr zusammen, packte die Essensreste in einen Napf und diesen in den Kühlschrank.
\"Weißt du, was er hat?\" fragte sie leise den Pinguin, der Shinjis Ausbruch mit großen Augen beobachtet hatte.

PenPen zuckte mit den Schultern.
\"Wark!\"

\"Ja, ich auch nicht...\"
Nachdenklich ging sie in ihren Schlafraum, das einzige Zimmer, in dem noch immer ein heillo-ses Chaos herrschte. Allerdings meinte sie, gewisse Unterschiede dazu zu entdecken, wie sie den Raum am Morgen verlassen hatte.
Die schmutzige Wäsche vom Vortag lag nicht mehr in der Ecke, auch waren die Schubladen alle geschlossen und hingen keine Kleidungsstücke aus den Schränken heraus.
Daß Shinji möglicherweise in ihrem Raum gewesen war, störte sie nicht, schließlich hatte sie es ihm erlaubt, damit er beispielsweise die Wäsche machen konnte.
Dann fiel ihr Blick auf ihren Schreibtisch und die kleine schwarze Kladde, die sie für NERV über Shinji führen mußte und welche inzwischen drei Einträge hatte, den letzten von diesem Morgen. Dabei waren die Einträge selbst bei weitem nicht so verfänglich wie die bloße Exi-stenz des Büchleins
Ob er darin gelesen hatte? Ob er deshalb zu den Schlußfolgerungen gekommen war, mit denen er sie am Tisch konfrontiert hatte?
Mit einem Seufzen ließ sie sich auf ihrem Bett nieder. Irgendwie hatte sie sich das alles einfa-cher vorgestellt...


*** NGE ***


Am nächsten Morgen stellte Misato fest, daß Shinji bereits vor ihr aufgestanden war und die Wohnung verlassen hatte. Auf dem Tisch stand Frühstück, auch PenPens Futternapf war be-reits gefüllt.
Sie fühlte ihren Streßfaktor allmählich bedrohliche Werte erreichen, deshalb verließ auch sie nach nur kurzem Aufenthalt im Bad die Wohnung, um den Jungen zu suchen.
Als sie ihn schließlich von ihrem Auto aus sah, schickte er sich gerade an, das Schulgelände zu betreten.
In Gedanken versunken, was sie tun konnte, fuhr sie in ihre Wohnung zurück, wo sie sich rasch umzog, ehe sie anschließend zum Dienst fuhr.


*** NGE ***


Die Klassensprecherin hatte Wort gehalten, als Shinji das Klassenzimmer betrat, händigte sie ihm unaufgefordert seine Sachen aus und erkundigte sich danach, wie es ihm ging.

Shinji zuckte nur mit den Schultern und ging zu seinem Platz.

Hikari sah ihm einen Augenblick nach, schüttelte dann den Kopf.
Jungs!

Exakt fünf Sekunden, bevor die Schulglocke den Unterrichtsbeginn ankündigte, erschien Rei Ayanami im Klassenraum, im Gegensatz zum Vortag humpelte sie nicht mehr leicht, sondern schien wieder völlig normal gehen zu können. Zielstrebig steuerte sie ihren Platz an, ohne ir-gendwen eines Blickes zu würdigen. Als sie saß, drehte sie langsam Kopf und Oberkörper zur Seite, so daß über die Schulter blicken konnte.
Sie sah, daß Shinji Ikari in sich zusammengesunken an seinem Pult hockte und Löcher in die Wand starrte, ohne sie zu bemerken. Ebenso langsam wie zuvor, denn zu schnelle Bewegungen riefen bei ihr noch immer Schwindelgefühle hervor, drehte sie den Kopf wieder zurück, stützte das Kinn auf die gesunde Hand und starrte aus dem Fenster.

Hikari Horaki, welche Reis Verhalten beobachtet hatte, unterdrückte ein Seufzen.
Die beiden schienen sich sehr ähnlich zu sein, ohne es zu erkennen. Hikaris ältere Schwester Nozomi, welche Liebesromane gerne im Dutzend verschlang, hätte wahrscheinlich eine Um-schreibung wie \'zwei verlorene Seelen, die auf dem Meer der Einsamkeit treiben\' benutzt, aber Hikari stand viel zu sehr mit beiden Beinen auf dem Boden für soetwas, schließlich kümmerte sie sich seit dem Tod der Mutter um den Haushalt und kochte für die ganze Familie, neben der Schule blieb da kein Platz für Romantik...

Die folgende Unterrichtsstunde wurde wieder von jenem älteren Lehrer gehalten, dessen Na-men Shinji immer noch nicht kannte, und dessen Lieblingsthema der Second Impact war, wel-cher vor 15 Jahren beinahe den Untergang der Menschheit bedeutet hatte. Nahtlos knüpfte er an seinen Monolog von der letzten Stunde an...

In der Pause verließ Shinji als erster den Raum, er hatte kein Interesse daran, wieder Löcher in den Bauch gefragt zu bekommen, ebenso wie er eigentlich generell kein Interesse daran hatte, überhaupt mit anderen zusammenzukommen. Eher unbeabsichtigt schlug er den Weg ein, der auf das Dach der Schule führte, doch mit Genugtuung registrierte er, daß er auf dem Dach we-nigstens allein war.
- Ein Zustand, der nicht allzu lange anhielt.

Plötzlich tauchten Toji Suzuhara und sein bebrillter Kumpel Kensuke Aida im Aufgang auf.
Suzuharas Gesicht war immer noch - oder schon wieder? - von Zornesröte überzogen, die Är-mel hatte er sich bereits hochgekrempelt.
\"Ah, Neuer, da bist du ja! Gestern konntest du dich hinter Ayanamis Rock verstecken, aber heute nicht!\"

Interessanterweise berührten ihn Suzuharas Worte nicht sonderlich, so wie ihm so ziemlich al-les egal war.
\"Was wollt ihr denn schon wieder von mir?\"

Suzuhara stoppte, sein Gesicht lief noch dunkler an.
\"Idiot! Wer sollte schon \'was von dir wollen?\"

\"Na, dann...\"
Shinji drehte sich um, wandte Suzuhara den Rücken zu.

Dieser packte ihn am Kragen und wirbelte ihn herum.
\"Ich kann dich nicht ausstehen, Mister Superheld!\"

\"Das ist wohl dein Problem. Ich suche keinen Streit.\"

\"Das brauchst du auch nicht - du hast ihn nämlich schon gefunden!\"
Suzuhara verdrehte Shinjis Hemdkragen, übte zugleich Druck aus, so daß Shinji auf die Zehen-spitzen gehen mußte.

\"Dann... dann bring es endlich zu Ende. Brich mir beide Arme, wenn du dich dann besser fühlst, dann muß ich wenigstens nicht mehr den verdammten Roboter steuern.\"

\"Ich soll dir wohl ein neues Gesicht verpassen, du Klugscheißer!\"
Er holte aus.

Der andere Junge versuchte ihn aufzuhalten.
\"Komm, Toji, du hast ihm gestern schon eine verpaßt, du bist doch sonst nicht so, laß ihn in Frieden!\"

Shinjis ganze Selbstsicherheit verflog in diesem Augenblick.
Ja, es war ihm in diesem Moment egal, ob er lebte oder starb, aber was immer Suzuhara mit ihm tun würde, es würde äußerst schmerzhaft sein...

\"Ikari-kun.\" erklang hinter ihnen eine sanfte leise Stimme.

Suzuhara hielt inne.

Shinji schielte an ihm vorbei, sah Rei Ayanami an der Treppe stehen.
Der Anblick hatte etwas unwirkliches, im Licht des Frühlingsvormittages schien ihr helles Haar federngleich anzuliegen, während ihre blasse Haut an wertvolles Porzellan erinnerte. Der Blick ihres Auges schien einen Moment lang traurig.

\"Die wieder.\" knirschte Suzuhara.

\"Ein Notruf. Wir sollen ins Hauptquartier kommen.\"
Sie wartete einen Augenblick.
\"Ich gehe schon vor.\"
Damit drehte sie sich um und stieg die zum Dach führende Treppe wieder hinab.

Shinji nutzte die Gunst der Stunde und wand sich aus dem Griff seines Peinigers.
\"Ayanami, warte! Ich komme mit!\"

Sie wurde etwas langsamer, stellte sicher, daß er zu ihr aufschließen konnte.

Der Junge vergewisserte sich mit einem Blick zurück über die Schulter, daß Suzuhara ihm nicht folgte.
\"Uhm, Ayanami... jetzt... ah... jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal den... uhm... Hintern gerettet...\"

Sie warf ihm einen undeutbaren Blick zu.
\"Ich hatte nicht den Eindruck, daß Mitschüler Suzuhara es auf deinen... Hintern abgesehen hat-te.\"

\"Ahm...\"
Es klang nicht so, als ob sie einen Scherz gemacht hatte, vielmehr so, als hätte sie die tiefere Bedeutung der Redewendung nicht verstanden.
\"Ayanami... das... äh... das sagt man so... uh... danke.\"
Er lächelte zaghaft.
\"Das wird jetzt langsam zur Gewohnheit...\"

\"Paß auf dich auf, Ikari-kun. Ich werde vielleicht nicht immer da sein, um... deinen Hintern... zu retten.\"

Er schluckte.
Sie hatte ihn Ikari-kun genannt, nicht Pilot Ikari...
\"Ja.\"
Sie erreichten den Treppenabsatz.
\"Ich gehe schnell meine Tasche holen.\"

Sie antwortete nicht.

So schnell er konnte, raste Shinji in den Klassenraum, stopfte das Notebook in seine Tasche und rannte wieder hinaus.

Rei befand sich inzwischen im Erdgeschoß.

\"Ayanami... warte auf mich...\"

Tatsächlich blieb sie stehen.

Leicht keuchend erreichte er sie, streckte dann die Hand aus.
\"Gib mir deine Tasche.\"

\"Wozu?\"

\"Sie... ah... sie sieht schwer aus.\"

Sie blickte nach unten auf die Tasche in ihrer Hand, als bemerkte sie diese zum ersten Mal.
Es war eine robuste stabile Tasche.
\"Ja.\"

\"Und du bist... ah... immer noch, uhm, verletzt. Du solltest nicht... so schwer, uh, tragen.\"

\"Es könnte meine Funktionsfähigkeit beeinträchtigen\", überlegte sie laut.

Jetzt blickte Shinji sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, während er ihr die Tür öffnete.
\"Äh... ich weiß nicht... uhm... so meinte ich das eigentlich...\"

\"Hier.\"
Sie reichte ihm ihre Tasche.

\"Ja, äh...\"
Ihre Tasche war nicht schwerer als seine eigene, eher leichter.

\"Die U-Bahnstation ist in dieser Richtung, Ikari-kun.\"

Da heulten die Sirenen auf...
Kapitel 09 - Befehlsverweigerung

Noch bevor Shinji und Rei die U-Bahnstation erreicht hatten, begannen die Gebäude von To-kio-3 langsam im Boden zu versinken. Die Bevölkerung wurde über Lautsprecher aufgefor-dert, sich in die Schutzräume zurückzuziehen.
Von überall her strömten Menschenmassen auf den Eingang zur Bahnstation hin, mit einem Mal schienen alle Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt worden zu sein, Reifenquietschten und das laute Scheppern vom Zusammenstößen war zu hören.
Der Menschenstrom riß die beiden Piloten mit sich.
Shinji griff nach Ayanamis Hand, um sie nicht zu verlieren, sie erwiderte den Druck seiner Finger, ihr Auge verriet einen Anflug von Panik, als das Gedränge immer dichter wurde.

\"Laßt uns durch!\" rief Shinji. \"Wir müssen...\"
Da bemerkte er, daß Rei seine Hand losgelassen hatte. Sie war gestürzt. Jemand hatte sie der-art heftig angerempelt, daß sie das Gleichgewicht verloren und ihn beinahe mit sich zu Boden gerissen hatte.
Der Menschenstrom trug ihn fort von ihr.
Er biß die Zähne zusammen und kämpfte sich, Faustschläge und Tritte austeilend, zu ihr zu-rück, bekam dabei selbst einen Ellenbogen gegen den Hinterkopf und wurde mehrmals im Ge-sicht von Händen gestreift.
\"Rei, komm!\"
Er versuchte, sie auf die Beine zu ziehen, doch sie verzog einen Sekundenbruchteil lang schmerzhaft das Gesicht.

\"Mein Fuß. Ich kann nicht auftreten.\"
Ihre Stimme verriet keine Gefühle, keinen Schmerz, gab nur die Beobachtung, die sie gemacht hatte, weiter, teilte ihm das Resultat der Tatsache mit, daß ihr Sturz darin begründet war, daß sie in Folge des heftigen Stoßes, den sie in den Rücken erhalten hatte, einen Augenblick lang nicht aufgepaßt hatte, wohin sie trat, daß sie heftig mit dem Fuß umgeknickt war und daß sie das in ihren Ohren laute Knacken immer noch zu hören glaubte.
Diese Unachtsamkeit hätte ihr nicht geschehen dürfen, spätestens seit dem Aufheulen der Sire-nen befand sie sich im Einsatz. Und Unachtsamkeit im Einsatz konnte zum Scheitern der Mis-sion führen, wie der Kommandant es ihr immer wieder eingeschärft hatte.

\"Ich... ah... ich trage dich...\"

\"Nein, das schaffst du in dem Gedränge nicht. Laß mich hier.\"

Wieder erhielt er einen Tritt in den Rücken, brüllte ihn jemand an, daß er nicht einfach im Weg hocken solle.
\"Ich... Nein.\"

\"Und der Engel? Die Mission hat absoluten Vorrang.\"
Ihre Stimme erinnerte ihn an einen Computer, der ihn lediglich über Fakten aufklärte, so als ob es ihr egal war, was mit ihr geschah.
\"Ikari-kun, geh zurück zu dem Platz vor der Schule, dort kann ein Hubschrauber landen.\"

\"Und woher soll dieser Hubschrauber kommen, Ayanami?\"
Einen Moment lang blickte er ihr in das eine Auge, welches nicht von einem Verband verdeckt war, griff ihr dann unter die Achseln, entschuldigte sich zugleich bei ihr für den Körperkontakt.

\"Geh, ich halte dich nur auf.\"

Er schleppte sie zum nächsten Hauseingang, half ihr, sich auf die Schwelle zu setzen, wo sie ihr eigenes Handy hervorholte.
\"Ich rufe im Hauptquartier an. Und jetzt geh.\"
Diesesmal klang ihre Stimme nicht emotionslos, diesesmal schwang ihre Bitte darin mit, er mö-ge sich endlich um die Mission kümmern, sie selbst war ohne Bedeutung, war ersetzbar...

\"Ich... ja...\"
Damit nahm er den Kampf gegen die Strömung wieder auf, war schon einen Moment später aus ihr heraus. Jetzt kamen ihm nur noch vereinzelte Menschen entgegen, die zu den Notunter-künften unterwegs waren.
Kurz zögerte er, überlegte, ob er Ayanami nicht doch noch holen sollte, da tauchte über ihm bereits ein schwarzer Militärhubschrauber auf, der den nahen Schulhof ansteuerte und über ihm langsam tieferging.


*** NGE ***


Gendo Ikari nahm die Mitteilung, daß die Piloten über die geplante Route nicht ins Hauptquar-tier hatten gelangen können, mit der üblichen unbewegten Miene zur Kenntnis. Auch daß sein Sohn über den zentralen Hauptschacht in die Geofront eingeflogen wurde, entlockte ihm keine Reaktion. Als er erfuhr, daß das First Children sich eine Knöchelverletzung zugezogen hatte, blitzten seine Augen kurz auf; umgehend befahl er ein Evakuierungsteam zu Rei Ayanamis Standort.
\"Die Evakuierungspläne müssen überarbeitet werden, wir können uns solche Verzögerungen nicht leisten.\" erklärte er leise, um den Kopf zu drehen.

Sub-Kommandant Kozo Fuyutsuki, der schräg hinter ihm stand, nickte.
\"Wahrscheinlich gibt es durch die Panik wenigstens genausoviele Verletzte wie bei einem An-griff.\"

Ikari reagierte nicht.
Ob es Verletzte oder gar Tote gab, war ihm egal. Die Menschen, die in Tokio-3 lebten, ganz gleich, ob sie für NERV direkt arbeiteten, oder für das Funktionieren der Stadt selbst zuständig waren, waren alle nur Bauern in seinem Spiel. Und Bauern waren dazu da, um geopfert zu werden, wichtig war nur die Erfüllung des Planes, bei welcher Rei eine wichtige Rolle spielen sollte - sie zu diesem Zeitpunkt zu verlieren, wäre nicht akzeptabel gewesen.

\"Engel dringt in japanische Hoheitsgewässer ein!\" vermeldete ein Brückenoffizier.

\"Auf den Schirm.\"
Misato Katsuragi stand in der Mitte des Kommandoareales, bemüht, den bohrenden Blick des Kommandanten in ihrem Rücken zu ignorieren, bemüht, sich auf ihre Aufgabe als taktischer Commander zu konzentrieren.

Der Hauptbildschirm zeigte mehrere Ansichten derselben Region des japanischen Meeres, noch über zehn Meilen vor der Küste.
Aus der Frontansicht hatte der Engel Ähnlichkeit mit einem großen bonbonfarbenen Käfer, der mit zahllosen kurzen Beinen über die Wasseroberfläche tanzend sich der Küste näherte. Von oben aus Satellitenansicht hingegen erinnerte er mehr an eine Qualle, die ihre Tentakel zusam-mengelegt hatte.
Im nächsten Moment erlosch die Übertragung der Frontalansicht, wurde von der Übertragung einer anderen Kamera ersetzt, die weiter von dem Gegner entfernt war.

\"Auswertung der Bilder läuft.\" - \"Third Children ist in der Geofront eingetroffen.\" - \"Bergung des First Children läuft an.\"

\"Shinji soll sich sofort zum Hangar begeben. Schacht neun vorbereiten, EVA-01 wird den En-gel in Quadrant delta-zwölf abfangen.\"

\"Bestätigt.\" - \"Direktlink zum Hangar geöffnet!\"

\"Ritsuko?\"
Misato hielt die Augen auf den großen Bildschirm gerichtet, sah die Chefwissenschaftlerin, de-ren Gesicht auf einem Bildschirm neben ihr erschienen war, nicht an.

\"Startvorbereitungen laufen, ich brauche noch etwa zehn Minuten. - Und natürlich den Pilo-ten.\"

\"Shinji ist unterwegs. - Aoba, wann erreicht der Engel schätzungsweise die Stadtgrenze?\"

\"Unter Beibehaltung der momentanen Geschwindigkeit in sechzehn komma drei Minuten.\"

\"Du hast es gehört, Ritsuko, keine Verzögerungen!\"

\"Ziel: Shamsiel durchbricht Küstenabwehr! Erste Landverteidigungslinie wird aktiv!\"

\"Misato, Shinji ist jetzt da. Ich umgehe die Testprotokolle, das gibt uns etwa eine weitere halbe Minute.\"

\"Ja. Warte meinen Startbefehl ab.\"

\"Natürlich.\"

\"Engel hat erste Verteidigungslinie durchbrochen!\" - \"Das Komitee verlangt den umgehen-den Einsatz des EVANGELIONs!\"

Misato schüttelte unmerklich den Kopf.
Das Komitee mochten aus denjenigen bestehen, welchen Gendo Ikari Rede und Antwort zu stehen hatte, doch von Taktik und Strategie hatten sie offensichtlich keine Ahnung..

\"Der Engel wird schneller! Er fliegt!\"

Sie verbiß sich einen Fluch.
Die noch nicht einmal zu 10% wieder instandgesetzten Verteidigungsanlagen waren darauf an-gelegt, einen Gegner am Boden zu verlangsamen.
\"Ritsuko, kriegst du den EVA vielleicht noch etwas schneller klar?\"

\"Ich arbeite daran.\"
Sie unterbrach die Verbindung.

\"EntryPlug wird eingeführt, Testcenter meldet: alle Funktionen klar.\"

\"Ritsuko, du bist ein Genie...\" murmelte Misato. \"Verbindung zum Piloten. - Shinji, hörst du mich?\"

\"Ja.\"
Der Tonfall, mit dem er dieses eine Wort sprach, drückte alles aus, was in diesem Moment in ihm vorging. Er hatte genug, hatte den Kanal gestrichen voll. Wieder saß er in dieser verfluch-ten engen Kapsel, ohne es wirklich zu wollen, wieder sollte für andere eine Schlacht schlagen, wieder sollte er den braven Soldaten Shinji spielen, den Piloten Ikari, der die Stadt retten wür-de, ohne Dank zu erhalten, der von seinem Vater wahrscheinlich nur noch mehr ignoriert wer-den würden, der es nicht geschafft hatte, ein Mädchen, welches ihn eben noch aus einer mißli-chen Lage gerettet hatte, in Sicherheit zu bringen.
\"Ich kann dich gut verstehen, du brauchst nicht so zu schreien.\"

\"Ich... Der Engl erreicht gleich die Stadt. Neutralisiere einfach sein AT-Feld. Wenn du die Oberfläche erreichst, öffnen wir dir einen Waffenbunker mit einem Positronengewehr, damit müßtest du das Feld ausreichend schwächen können, um den Engel im Nahkampf zu begegnen. Verstanden?\"

\"Ja\", brummte er.
Einfach das AT-Feld neutralisieren - na klar, alles ganz einfach, er wußte ja nicht einmal, wie er es beim ersten Mal gemacht hatte. Und das Gewehr müßte imstande sein, das AT-Feld des En-gels zu knacken - natürlich, müßte... etwas mehr Sicherheit war wohl nicht drin...

Misato schloß kurz die Augen, zählte innerlich bis fünf. Dann rief sie:
\"EVA-01! Abschuß!\"


*** NGE ***


Shinjis Mitschüler hatten sich inzwischen fast komplett in einem der Evakuierungsbunker unter der Stadt eingefunden, einschließlich Toji Suzuhara und Kensuke Aida.

Suzuhara hockte im Schneidersitz auf einer Decke, während Aida hin- und herzappelte und da-bei mit seiner Videokamera hantierte.

\"Kensuke, kannst du nicht stillstehen, das regt auf!\" brummte Suzuhara.

\"Ach, daß sie uns gerade jetzt in die Notunterkünfte schicken müssen, wo es oben doch sicher spannend wird. Ich hätte das so gerne aufgenommen!\"

Suzuhara seufzte.
\"Du bist verrückt, weißt du das?\"
Dann warf er Hikari Horaki, welche gerade in seine Richtung sah, ein ebenso breites wie seiner Ansicht nach charmantes Grinsen zu. Sogar in dieser Lage behielt sie die Übersicht, auch wenn er meinte, sie führte sich teilweise wie eine Glucke auf.
Sie zeigte ihm einen Vogel, doch das berührte ihn nicht weiter, dazu war sein Ego viel zu aus-geprägt.

Aida derweil stand neben der schweren Metalltür, die aus dem Raum hinausführte.
\"Toji, komm mit! Wir schleichen uns raus.\"

\"Du spinnst wohl!\"

\"Wieso? Und du übersiehst eins - der Neue, dem du so gerne den Kopf abreißen würdest, hat uns eigentlich das Leben gerettet.\"

\"Öh...\"

\"Komm, vielleicht können wir ihn anfeuern, oder so, ich finde, das schulden wir ihm.\"

\"Aber sonst geht\'s dir noch gut, was? Das ist doch...\"

Aida hielt dem größeren Jungen den Mund zu und zog ihn mit sich.
\"Wir gehen mal schnell auf die Toilette!\"


*** NGE ***


Verschiedene noch schwach flackernde Feuer erhellten die kalte Nacht.
Gerade waren die letzten Schüsse verhallt, der letzte Sprengsatz explodiert.
Zwischen in Flammen stehenden Zelten brannten zwei russische Jagdbomber allmählich aus. Die brennenden Zeltbahnen flatterten im Wind, erzeugten ein makabres Spiel von Licht und Schatten. Zwischen den Zelten lagen die Leichen von Menschen verschiedenster Haut- und Haarfarbe, die meisten gekleidet in khakifarbene Tarnanzüge, viele hatten Waffen in direkter Nähe liegen, zu Boden gefallen, so wie sie selbst gefallen waren, Gewehre, Pistolen, sogar ein Granatwerfer.

Zwischen den Feuern bewegte sich eine einzelne Gestalt, huschte von Leiche zu Leiche, drehte sie auf den Rücken, betrachtete das Gesicht des jeweiligen Toten.
Schließlich fand der Sucher, was ihn noch an diesem Ort des Todes hielt. Aus der Hemdstasche eines bärtigen Mannes holte er eine Dose mit einem Mikrofilm.
Er war kein Überlebender dieses Blutbades, er war der Verursacher...

Rasch sah er sich um, bevor er den linken Ärmel seiner schwarzen Tarnkombination hochkrem-pelte. Dunkles Metall kam zum Vorschein, eine stählerne Armprothese, in der er ein Fach öff-nete, worin er den Mikrofilm verstaute. Dann schloß er das Fach wieder, schob den Ärmel wie-der hinab. Der Auftrag war erfüllt, die Virusformel ebenso gesichert wie die Probe, welche er bereits einem anderen Toten abgenommen hatte.

Die Männer und Frauen, die er in dieser Nacht getötet hatte, waren Terroristen gewesen, der Ort, der nun brannte, ein Treffpunkt im kurdischen Bergland.
Die Falle, die man ihm gestellt hatte, hatte nicht funktioniert...
Sein Tarnanzug hing teilweise in Fetzen an ihm herab, ebenso wie Teile seiner Haut. Ein stäh-lerner Kieferknochen lag offen, seine Augen waren nur rotglühende Kameralinsen.
Der rechte Ärmel des Anzuges diente nun als behelfsmäßiger Verband an seinem linken Ober-schenkel, wo sich der schwarze Stoff mittlerweile dunkelrot verfärbt hatte. Das Gerinnungs-mittel müßte bald zu wirken beginnen.
Das Oberteil war voller Einschußlöcher, durch welche Metall glitzerte. Obwohl der Gegner möglicherweise seine Schwachstellen gekannt hatte, hatten die Schützen auf Brust und Kopf gezielt, ohne seine Körperpanzerung durchdringen zu können...

Er hob im Feuerschein die linke Hand auf Augenhöhe, aus den Handrücken ragten drei blutige Metallkrallen. Mit säuerlicher Miene nahm er zur Kenntnis, daß sie sich immer noch nicht ein-fahren ließen, eine Kugel hatte eine Delle in seinen Handrücken geschlagen und die Mechanik seiner kybernetischen Hand beschädigt.
Mit der rechten griff er nach einer Maschinenpistole, zog sie aus den erkaltenden Händen eines der Männer, die er getötet hatte. Dann verließ Wolf Larsen das Lager in südwestlicher Rich-tung, wo er sich mit dem Rest seines Teams treffen würde, um das weitere Vorgehen bespre-chen zu können...


*** NGE ***


Der Ausgang der Bunkeranlage, den Kensuke Aida ausgewählt hatte, lag am Fuße eines der Hügel am Stadtrand. Ohne zu zögern kletterte er weiter den Hügel hinauf, zur Kuppe hin, um einen möglichst guten Überblick zu erhalten, während Toji Suzuhara ihm nörgelnd und um ei-niges vorsichtiger folgte.
Die Hügelkuppe war schnell erreicht, der Anblick um einiges atemberaubender als erwartet, denn direkt vor ihnen schoß EVA-01 aus dem Boden, während sich von der See her eine riesi-ge Kellerassel näherte.

\"Wow!\" gab Kensuke von sich und hob die Kamera ans Auge.

\"Meinst du wirklich, daß das so schlau ist...\" setzte Toji an, kam aber nicht weiter, denn die Erde erzitterte derart stark, daß sie den Boden unter den Füßen verloren und den Hügel auf der anderen Seite herabrutschten...


*** NGE ***


Der Engel war gleich das erste, was Shinji sah, als er die Oberfläche erreichte.
Ohne wirklich hinzublicken, holte er das angekündigte Gewehr aus dem Waffenbunker, wel-cher als gewöhnliches Lagergebäude getarnt war, dessen scheinbare Fensterfront jedoch wie ein Jalousie hochrollte, legte es auf den Gegner an, wie er es geübt hatte, feuerte.
Schießen - Durchladen - Schießen - Durchladen - Schießen...
Jeder Schuß traf, das ging jedenfalls aus der Meldung des Zielcomputers hervor. Allerdings er-zeugte die Explosion jeder energetischen Positronenladung eine mittlere Rauchentfaltung, so daß Shinji nach dem fünften Schuß seinen Gegner nicht mehr sehen konnte.

\"Shinji, Feuer unterbrechen und Positionswechsel! Magazinwechsel! Abwarten, bis die Sicht wieder klar ist!\"

Er hörte Misatos Stimme, doch er ignorierte sie.
Gerade jetzt hatte er den Engel direkt vor sich und heizte ihm ein, wieso sollte er da seine vor-teilhafte Position aufgeben? Und im Magazin waren noch weitere fünf Schuß, Nachladen wür-de ihn auch nicht sonderlich aufhalten, schließlich mußte der Engel schwer angeschlagen sein. Er mußte ihn nicht sehen, um ihn zu treffen, mußte einfach so weiterfeuern, kein Problem. Wenn Misato wollte, daß es anders ablief, mußte sie sich beim nächsten Mal halt die Mühe ma-chen, und selbst in die Kapsel klettern!
Er vernahm ein dumpfes Grollen, blickte unwillkürlich zum Himmel. Ein Gewitter?

Aus der Rauchwolke zuckten zwei leuchtende Peitschenschnüre... nein... Tentakelarme aus Energie! auf EVA-01 zu. Der eine säbelte ihm die Beine unter dem Leib weg, brachte ihn so zu Fall, der andere zerschnitt den Lauf seines Gewehres wie Butter.

\"Shinji, beweg dich!\"

Die Panzerung der Beine wies an mehreren Stellen Beschädigungen auf, allerdings waren es eher Kratzer als wirklich Bruchstellen.
Allerdings hatte der Sturz auf den Rücken Shinji die Luft aus den Lungen getrieben und er glaubte, sich die Rückseite grün und blau geschlagen zu haben.

\"Wir schicken dir das Reserve-Gewehr, Bunker 9!\"

Mühsam kam er auf die Beine - da wuchs der Engel vor ihm in die Höhe, stellte sich plötzlich mit tanzenden Tentakelarmen auf.
Shinji warf sich zur Seite / befahl EVA-01 auszuweichen, entkam nur knapp einem Tentakel-schlag, der neben ihm den Straßenbeton aufriß, duckte sich unter einem anderen Hieb hin-durch, welcher die oberen Stockwerke eines Gebäudes abriß, wich weiteren Schlägen aus, schlug einen Haken nach dem anderen.
Wo war der verdammte Bunker mit dem Gewehr?
Wieder spürte er diese dunkle Wut in sich aufsteigen.
Der Engel hatte ihn verletzt, jagte ihn jetzt durch die Straßen.
Das war mit seinem Stolz nicht vereinbar, schließlich sollte er der Jäger sein, sollte er den En-gel zu Fall bringen, um ihm das Herz herauszureißen, um sich die dringend benötigte Energie zuzuführen, nach der es ihm so dürstete...
Shinjis Atem ging schneller, in der LCL-Flüssigkeit stiegen kleine Bläschen auf, Spuren des Sauerstoffes, der sich in seinen Lungen gehalten hatte.
Was dachte er da?
Waren das wirklich seine eigenen Gedanken?
Gedanken, die sich mit Töten und Verletzen beschäftigten, die Gedanken eines gnadenlosen Killers...

Er spürte einen schwachen Ruck.
Der Engel hatte das Kabel der Energieversorgung durchtrennt!
Auf einem der kleineren Monitore begann der Countdown zu laufen.
00 : 05 : 00
00 : 04 : 59
00 : 04 : 58...

\"Shinji, du hast nur noch interne Energie! Beeil dich, du mußt ihn schnell besiegen!\"

Er hatte nicht einmal Zeit, in Gedanken Widerworte zu geben, denn der Engel packte seinen Knöchel und schleuderte ihn durch die Luft, auf die Hügel zu. Mit rudernden Armbewegungen versuchte er, den Sturz zu kontrollieren, schaffte es tatsächlich, sich so in der Luft zu drehen, daß er auf dem Rücken landete, auch wenn eigentlich eine Landung auf allen Vieren geplant gewesen war.
Wieder zuckte Schmerz durch seinen Rücken.
Wieder spürte er dumpf den Schrei nach Rache, den Ruf nach dem Leben des Engels, glaubte er sich von dunklen Schatten umgeben, welche in der Kapsel tanzten, vermeinte er, nicht allein zu sein, nahm er eine furchtbare eiskalte Präsenz wahr, die nach Leben gierte...

\"Bist du okay, Shinji?\"

Misatos Ruf brachte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Niemand war in der Kapsel, weder ein blutdurstiger Killer, noch tanzende Schatten. Es gab nur ihn...

\"Shinji?\"

Der taktische Computer vermeldete Bewegung direkt in seiner Nähe.

Er blickte schräg nach unten, sah zwischen den gespreizten Fingern der linken Hand des EVA zwei zusammengekauerte Figuren, zwei Personen, die er kannte...

Der Computer, der immer noch mit dem Hauptrechner in der Geofront verbunden war, identi-fizierte die beiden, zeigte ihre Daten auf einem der anderen Bildschirme. Es waren Toji Suzu-hara und Kensuke Aida...

Shinji erinnerte sich an die beiden Schläge, die der größere der beiden ihm am Vortag verpaßt hatte, erinnerte sich an die Drohungen, die er ausgestoßen war, erinnerte sich an den Ausdruck seiner Augen.
Etwas schien ihm zuzurufen, einfach die Finger zu bewegen, die beiden einfach zu zerquet-schen, wie die lästigen Insekten, die sie waren. Es würde keinen Aufwand bedeuten...
Der Junge starrte auf die purpurnen Finger, die ohne sein Zutun zu zucken schienen...
Nein, das war nicht er...
Das waren nicht seine Gedanken...
Das wollte er nicht...
Er war kein Killer!
Abe er war allein in der Kapsel, woher sollten diese Gedanken und Gefühle stammen, wenn nicht von ihm selbst...

\"Shinji, steh auf! Schnell!\"

Der Engel tauchte wieder ihm auf, war blitzartig über ihm.
Die Energietentakel zuckten auf ihn zu.

Er konnte nicht weg, wenn er aufstand, würde er Aida und Suzuhara zermalmen...
Na, und?
Nein, nein, nein...
War es nicht egal? Es waren nur Menschen, verletzliche kleine Menschen mit begrenzter Le-benszeit, die ohnehin in ein paar Jahren sterben würden, was machte es da schon aus, wenn sie etwas eher starben?
Doch, es machte etwas aus! Denn sie würden durch seine Hand sterben!
Durch meine Hand...
Shinji riß die Augen auf.
Das... das war er nicht gewesen, ganz bestimmt nicht...

Die Tentakel kamen auf ihn zu.
Er packte sie an den zuckenden Enden, spürte die Hitze, glaubte, das versengte Fleisch seiner Hände riechen zu können.
\"Kein Schmerz... nicht mein Schmerz... kein Schmerz....\" preßte er hervor.
Er zog an den Tentakeln, zog den überraschten Engel in seine Reichweite, zog zugleich das Knie an und rammte dem Engel kräftig den Fuß in die ungepanzerte Unterseite. Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, durchdrang sein Tritt das AT-Feld und warf den Riesenkäfer zu-rück, verschaffte ihm etwas Zeit.

\"Shinji, steh endlich auf!\"

\"Du hast gut reden - dann zerquetsche ich die beiden!\"
Was sollte er nur tun?
Einfach aufstehen, was ihm von Herzschlag zu Herzschlag als akzeptablere Möglichkeit er-schien? Oder...

\"Shinji, was tust du?\"

Die Bewegung, die er ausführte, gehörte zu den Grundlagen, welche Akagi ihm am Vortag er-klärt hatte, eine einfache Drehung beider Steuergriffe in entgegengesetzte Richtungen, dazu ein leichter Zug in seine Richtung.
Er löste die Verbindung des Plugs mit dem Steuernerv größtenteils, sorgte manuell für eine teilweise Evakuierung des Plugs, bei der gerade genug von diesem herausgeschoben wurde, um die Einstiegsluke freizulegen. Danach würde der EVA hoffentlich noch ausreichend reagie-ren, daß er den Plug wieder einführen konnte...
Die Idee war unvermittelt dagewesen, und das, obwohl Akagi ihm nur die komplette Noteva-kuierung erklärt hatte, so als ob sie ihm jemand ins Ohr geflüstert hätte.
Aber natürlich konnte dies nicht der Fall gewesen sein, schließlich war er immer noch allein der Kapsel - auch wenn dieser Zustand sich gleich ändern sollte...
Sogar die Einstiegsluke ließ sich vom Sitz aus entriegeln, sie befand sich direkt über dem Bo-den. Der LCL-Pegel war in der Kapsel mit der Evakuierung gefallen, befand sich nun auf Shinjis Brusthöhe.

Der Engel lag immer noch zappelnd auf dem Rücken, versuchte mit seinen Tentakeln Halt zu finden, um sich umzudrehen.

Shinji ignorierte den Vorschlag seiner inneren Stimme, die beiden Jungen draußen zu vergessen und dem Engel jetzt, wo er hilflos war, den Rest zu geben.
\"Ihr da draußen, kommt in die Kapsel! Beeilung!\" brüllte er.

\"Shinji, halt! Du kannst keine Zivilisten ohne Genehmigung...\"

\"Laß mich in Ruhe! Ich erledige den Engel schon noch für euch!\"

Tatsächlich leisteten Suzuhara und Aida seiner Aufforderung Folge, kraxelten schnell den Hü-gel hoch und schwangen sich durch die Luke in das Innere der Kapsel.
Kaum waren sie drinnen, verriegelte Shinji die Luke wieder und leitete den Einführungsprozeß ein, indem er über noch schwach vorhandene Verbindung zum EVANGELION diesen die Hand heben und schwach den Plug in die Öffnung in den Nacken hineindrücken ließ. Trotzdem wurden sie kräftig durchgeschüttelt, denn das, was \'sanft\' nach menschlicher Auffassung be-deutete, war nicht zwangsläufig das gleiche, was der EVA darunter zu verstehen schien.
Dennoch gelang der Plan.
Zugleich stieg der LCL-Pegel in der Kapsel wieder an.
Die beiden Neuankömmlinge wurden davon derart überrascht, daß sie die Flüssigkeit atmeten, bevor sie überhaupt wußte, wie ihnen geschah.

\"Neuer, bist du das?\" stieß Suzuhara hervor. Seine Stimme klang seltsam gedämpft, zugleich etwas höher als gewöhnlich.

\"Sprich mich nicht an. Stört mich nicht, das lenkt mich ab.\" erklärte Shinji unwirsch.
Die beiden stellten Fremdkörper dar in seiner Verbindung zum EVA, einem Hintergrundrau-schen nicht unähnlich, welches sich nur schwer ignorieren ließ und an der Konzentration zehr-te.
Zu allem Überfluß zeigte der Energiecountdown an, daß nur noch für knapp zwei Minuten Energie in den Akkus war. - Und der Engel war gerade dabei, sich herumzudrehen!

\"Du Idiot!\" schimpfte Misato. \"Warum hast du meine Anweisungen nicht abgewartet?! Deine Eigenmächtigkeit hat uns wertvolle Zeit gekostet!\"

Shinji knurrte leise.
Welche Ideen hätte sie ihm schon nennen können? Steuerte sie den EVA oder er?
\"Scheiße!\" brüllte er - und gab dem Blutdurst nach...

EVA-01 stemmte sich in die Höhe, wandte sich dem Engel zu, der gerade wieder auf seinen vielen Beinchen stand.

\"Shinji, Rückzugsroute 34! Wir holen dich zurück in die Geofront!\"

\"Vergiß es.\"

\"Was?\"

Toji Suzuharas Kopf tauchte neben ihm auf, der größere Junge hielt sich an der Rückenlehne fest.
\"He, Neu... ich meine, Ikari... Sie hat \'was von Rückzug gesagt...\"

\"Das kommt nicht in Frage.\" grollte er und kniff die Augen zusammen.
Die Schwachstelle des Engels befand sich an seiner Unterseite. Diese mußte er entblößen, wenn er seine Tentakel einsetzen wollte. Wenn er an sie heranwollte, begab er sich in die Reichweite des Engels...

\"Bist du bekloppt?\"

Er mußte seine eigene Reichweite verlängern...
In der Schulterpanzerung befand sich ein PROGRESSIV-Messer.
Der Gedanke, das Wissen war plötzlich da, ebenso die Kenntnis um die nötigen Anweisung und Steuerungsbefehle, um das Messer freizugeben.
Nicht viel, aber immerhin etwas, ein geeignetes Werkzeug, um das Herz des Engels heraus-zuschneiden...

Langsam zog EVA-01 das Messer aus der Scheide.
Die Klinge vibrierte rasend schnell, das Metall erinnerte an einen rauschenden Wildbach.
Ja, ein gutes Werkzeug...

\"Shinji, sofort zurückkehren!\" brüllte Misato.

Seine Antwort bestand aus einem langgezogenen Wutschrei, der nichts menschliches an sich hatte, als er EVA-01 loslaufen ließ, als er den Roboter den Hügel hinabrasen ließ, den Messer-griff mit beiden Händen umklammert.

Der Engel verhielt sich wie erwartet, angesichts des nahenden Gegners entschied er sich zum Einsatz seiner eigenen Waffen. Er richtete sich auf, entblößte dabei seine Unterseite, wo Shinji, wo EVA-01, das starke Pulsieren seines Herzens wahrnehmen konnte, von dem ein stiller Sire-nenruf auszugehen schien, der Shinji/ EVA-01 anlockte.

Shinji wurde nicht langsamer, lief direkt in die heranpeitschenden Tentakel hinein, verspürte in der nächsten Sekunde starken Schmerz beidseitig in der Nierengegend, als die Energiefinger die Panzerung des EVAs durchdrangen und diesen durchbohrten, Schmerz, welcher von einer weiteren Flut Haß, der aus der Dunkelheit aufzusteigen schien, hinfortgespült wurde.
Sein eigener Schwung trieb ihn weiter vorwärts, er mußte die Arme nur leicht heben, um dem Engel die Klinge in den Leib zu rammen. Und sein Gegner konnte nichts dagegen tun, nun, nachdem er die Tentakel an seinen eigenen Körper gebunden hatte.

Noch 30 Sekunden Energie...

Shinji brüllte erneut auf, trieb den Schmerz zurück, als die Energiefinger sich in den Wunden bewegten, konzentrierte sich ganz darauf, die Klinge zu halten, Druck auszuüben, bis sie bis zum Heft im Körper des Engels verschwunden war, sie darin zu halten, während der Engel - hoffentlich - starb...
Vor seinen Augen waberten blutrote Nebel, er nahm weder Misatos Stimme wahr, die ihn aufforderte zu antworten, noch Suzuharas Versuch ihn anzusprechen, oder die Anzeige des Countdowns, der sich unaufhaltsam der dreifachen Doppel-Null näherte.

Dann erloschen die Tentakel, was blieb, war ein dumpfer Schmerz.
Und auch der verging, als dem EVA die Energie ausging und der Riese völlig still wurde, nur noch deshalb aufrecht dastand, die Arme immer noch ausgestreckt, die Messerklinge immer noch im Leib des Engels, weil dieser als Gegengewicht fungierte, weil beide in gewisser Weise gegeneinanderlehnten...

Shinjis verspürte rasende Kopfschmerzen, preßte eine Hand gegen die Stirn.

\"Ikari, bist du in Ordnung?\"
Tojis besorgte Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm durch.

Er atmete stoßartig.
Die Erinnerung an die letzten Sekunden war nur bruchstückhaft vorhanden, doch eines war sicher - jetzt fühlte er weder Wut, noch Zorn oder Mordlust und Blutdurst, sondern nur Er-schöpfung. Warum tat er sich das an, warum erlaubte er anderen, ihn in eine solche Lage zu bringen... wozu tat er es eigentlich? Es erschien alles so sinnlos...
Der EVA brachte nur Schmerz, er mochte eine Superwaffe sein, doch was nützte dies, wenn sein Pilot jede Beschädigung spürte, als wäre er selbst verletzt worden...

\"Ikari?\"

\"Ich... ich bin... okay...\" murmelte er und kippte nach vorn, bemerkte schon nicht mehr, daß Suzuhara ihn auffing.
3. Zwischenspiel:

George Spender, Stellvertretender Direktor bei ODIN und Leiter der Abteilung für Spezial-einsätze, drehte sich überrascht um, als in seinem Rücken die Tür seines Büros aufgestoßen wurde, und ließ fast die Zigarette fallen, die er in der Hand hielt.
Seine Hand zuckte zu der Waffe im Schulterhalfter, sein erster Gedanke war, daß SEELEs Häscher kamen, um ihn zu töten, weil sie seinen internen Untersuchungen auf die Schliche ge-kommen waren, weil er jetzt, da Commander Larsen nicht mehr in Wilhelmshaven war, keine Rückendeckung mehr besaß.
Doch statt des erwarteten Killerkommandos sah er sich einem rothaarigen Mädchen gegen-über, dessen Augen vor Wut funkelten.
Unwillkürlich fragte er sich, ob er ihm mit ein paar Killern nicht besser gedient gewesen wäre.

\"Wo ist mein Onkel?\" fragte die etwa vierzehnjährige, stemmte die Fäuste in die Hüften und stampfte mit dem Fuß auf. \"Sie sind doch sein Chef, Sie müssen es wissen!\"

Hinter ihr tauchte ein Asiate mit Stoppelbart auf und machte eine Geste der Entschuldigung, dazu ein paar fahrig wirkende Handbewegungen, welche ihre eigene Bedeutung hatte.
*Konnte sie nicht aufhalten.*

Spender sah das Mädchen an.
\"Asuka, nicht wahr?\"

\"Ja, genau. Asuka Soryu Langley. Wo ist mein Onkel - Sie haben ihn doch am Krankenhaus abgeholt.\"

\"Gibt es Komplikationen mit seiner Frau?\" wandte er sich an Ryoji Kaji.

\"Nein, ihr Zustand ist unverändert.\"

\"Ja.\"

\"Hey, ignorieren Sie mich nicht! Oder muß ich mit meinem EVA wiederkommen?\"

Der ältere Mann holte tief Luft.
\"Asuka, dein Onkel, Commander Larsen... wir haben jeden Kontakt zu seinem Team verloren. Es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.\"

Ihre Selbstsicherheit bröckelte, machte Entsetzen Platz.
\"Nein... Wo ist er?\"

\"Das darf ich dir nicht sagen. Wir setzen aber alle Hebel in Gang, um ihn zu finden.\"
Dann blickte er sie an, als wollte er sie trösten, obwohl seine folgenden Worte ebenso an ihn selbst gerichtet waren, um ihn selbst zu beruhigen.
\"Dein Onkel ist unser bester Mann, ich kann mir keine Situation vorstellen, die er nicht mei-stern könnte.\"

Sie war blaß geworden, schien ihn gar nicht mehr zu hören.
\"Erst Mama... dann Tante Ann... und jetzt Onkel Wolf...\"

Spender blickte Major Kaji an, den Mann, den ODIN bei der deutschen Abteilung von NERV als Sicherheitschef eingeschleust hatte und der seine Befehle ausschließlich von Direktor Ce-drick erhielt - zumindest theoretisch. Praktisch allerdings spielte die Tatsache, daß er von ei-nem gewissen Wolf Larsen nicht nur mit dem Schutz von dessen Ziehtochter beauftragt, son-dern von selbigem auch ausgebildet worden war, womit er offiziell ein Spion auf der Gehalts-liste von NERV war, inoffiziell für SEELE arbeitete und tatsächlich beide Parteien für die klei-ne Gruppe von Verschwörern ausspionierte, welche mehr über SEELEs Pläne in Erfahrung bringen wollten, bevor sie entschieden, ob und wie sie SEELE aufhalten sollten...
\"Major, kümmern Sie sich um sie, ja?\"

\"Natürlich. Am besten bringe ich Asuka zu NERV.\"
Auch Kaji war sich des Drahlseilaktes voll bewußt, den er ohne Netz, doppelten Boden oder gar Sicherheitsleine vollzog. Aber nach nunmehr sechs Jahren bei NERV schien seine Tarnung hieb- und stichfest zu sein.

Der Stellvertretende Direktor sah auf die Uhr.
Es war Zeit...
\"Ich bringe Sie nach unten.\"

\"Ja. Komm, Asuka.\"

\"Kaji, warum? Warum verlassen mich alle? Ich brauche sie nicht... aber warum?\"

\"Asuka, ich... ich weiß es nicht...\"

Sie nahmen das Mädchen in die Mitte und verließen das Büro.

\"Major, angesichts der Ereignisse in Japan - wann ist damit zu rechnen, daß NERV auf seine hiesigen Ressourcen zurückgreift?\"

Kaji kratzte sich am Kopf.
*Unbekannt.*
\"Wahrscheinlich in Bälde, keine Ahnung.\"
*Etwas seltsames ist passiert.*

\"Ja?\"
*Was?*

\"Ich bin auf alle Fälle reisebereit.\"
*In Verbindung mit den Engeln. Weiteres unbekannt. Auftrag.*

\"Nun ja, alles Gute.\"
*Informieren Sie mich.\"

\"Danke.\"
*Tue, was ich kann.*
Er führte Asuka, die an seiner Seite ging wie eine Puppe, zu einem der zahllosen Elektrowagen, die in der Arkologie unterwegs waren.

Ein anderer Wagen hielt gerade vor dem Hauptgebäude, aus dem Fahrersitz schälte sich ein breitschultriger Mann, der sich außerhalb des Wagen schwer auf einen Gehstock stützte.
\"Ach, Herr Direktor!\"

\"Commander Decker, lange nicht gesehen!\"
Spender reichte dem anderen die Hand. Während des Kontaktes wechselte eine hauchdünne Mikrofilmfolie den Besitzer.

\"Kunststück, ich komme ja kaum aus dem Keller heraus.\"

\"Wie geht die Arbeit voran?\"

\"Die Umstellung von HEIMDALLs Betriebssystem auf die neuen Anforderungen wird noch ein paar Tage in Anspruch nehmen, aber dann können sich diese MAGI-Einheiten warm anzie-hen!\"

\"Wirklich?\"

\"Naja, zumindest von der Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität her ziehen wir mit dem NERV-Rechner gleich, an der künstlichen Intelligenz bastele ich immer noch.\"

\"Na dann, frohes Gelingen. Ich würde die Ergebnisse Ihres Projektes gerne noch sehen, ehe ich in Pension gehe.\"
Kapitel 10 - Am Scheideweg

Seine Ohnmacht dauerte nur kurz, dennoch hatte Shinji das Gefühl, nicht er selbst zu sein, völ-lig neben sich zu stehen und sich selbst dabei zu beobachten, wie er die mechanischen Ver-riegelungen des EntryPlugs löste, welcher sodann durch den Druck des herausgepreßten LCL ausgefahren wurde.
Aida und Suzuhara sprachen ihn beide an, Suzuhara wirkte irgendwie erschüttert, während Aida ihn mit Fragen über NERV und den EVA bombardierte, bis Toji ihn anherrschte, mal die Klappe zu halten.
Auch das Auftauchen der Bergungstrupps berührte ihn nicht.
Er fühlte sich nur müde und leer, so als hätte der Kampf ihm jede Energie entzogen.

Mit einem Kran wurde der Plug gesichert und zu Boden gebracht, während Schwertransporter vor Ort erschienen, um EVA und Engel abzufahren.
Am Boden wurde Shinji von den anderen beiden getrennt und umgehend ins Hauptquartier ge-bracht, wo er sich duschen und umkleiden konnte.
Wieder gratulierte ihm niemand zu seinem Sieg, von Dank für die Rettung der Stadt ganz zu schweigen.
Was wohl mit Ayanami war... Ob sie wohl immer noch in dem Hauseingang hockte, wo er sie zurückgelassen hatte?
Unter der Dusche lauschte er in sich hinein, suchte nach Anzeichen für den Haß, den er wäh-rend des Kampfes, den er während beider Kämpfe verspürt hatte, doch er fand keine. Lag es an dem EVA? War es der Kontakt mit dem Roboter, der diese Gefühle in ihm hochspülte? Und hatte nur er dieses Problem, oder erging es Ayanami genauso?

Als er die Umkleidekabine verließ, wartete Misato bereits auf dem Gang auf ihn, sie war stink-sauer.
\"Dort rein, junger Mann.\"
Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Besprechungsraum.
\"Was hast du dir dabei gedacht? Lassen wir mal durchgehen, daß du die beiden in den Entry-Plug geholt hast, aber warum hast du meine Befehle ignoriert? Was wäre passiert, wenn du den Engel nicht besiegt hättest? - Ich sag\'s dir: Wir wären alle tot! Und ich fühle mich noch ein we-nig zu jung zum Sterben!\"

\"Ich... uhm... tut mir leid.\"

\"Shinji, das genügt leider nicht, damit ist es nicht getan. Ich bin für dich verantwortlich. Du hast meinen Befehlen zu folgen, verstanden?\"

Daher wehte also wieder der Wind.
Natürlich... einen Augenblick lang hatte er tatsächlich geglaubt, sie hätte sich um ihn Sorgen gemacht, dabei ging es ihr doch auch nur darum, daß er für sie in die Bresche sprang.
\"Ja... Für dich bin ich einfach nur ein Untergebener, der brave Pilot Shinji, nicht wahr?\"

Sie sah ihn überrascht an und aus Überraschung wurde Entsetzen, als er weitersprach.

\"Daß ich bei dir wohne, willst du doch nur, damit du mich besser beaufsichtigen kannst... und ich dachte tatsächlich, du würdest mich mögen...\"

\"Shinji, was redest du da?\"

\"Es reicht, hör auf mit dem Schauspiel. Ich habe schließlich gewonnen. Ich habe getan, was ihr von mir wolltet...\"

Misato starrte ihn.
Ihre Lippen begannen zu beben und Tränen traten in ihre Augen.
Wie konnte er ihr soetwas ins Gesicht sagen, wie konnte er sie derart falsch einschätzen...
Zorn stieg in ihr auf.
Dann ohrfeigte sie ihn.
\"Nimm endlich deine Aufgabe ernst! Unser aller Leben hängt davon ab!\"
Im nächsten Augenblick bereute sie den Schlag schon, als er sie ansah wie ein waidwundes Tier. Doch das Echo des klatschenden Geräusches, welches noch im Raum zu verhallen schien, stand zwischen ihnen. Und die Stille sprach ebenso wie der leere Blick, mit dem er sie ansah, mehr als tausend Worte.
\"Ach, es reicht... geh nach Hause.\"

\"Ja.\" antwortete er leise und verließ den Raum.


*** NGE ***


Shinji fuhr mit dem Aufzug an die Oberfläche.
Er hockte allein in der Kabine, nur er und seine Gedanken...
Seine Wange brannte immer noch...
Warum hatte sie ihn geschlagen, er hatte ihr doch nur gesagt, was er dachte...
Oder konnte es sein, daß er sich irrte...

Der Aufzug hielt an.
In der Bahnstation warteten mehrere Menschen auf den Zug.
Shinji reihte sich ein, starrte nach unten auf die Schienen.

Der Zug fuhr ein, zusammen mit den anderen stieg er ein, der Wagen war nicht voll, er fand problemlos einen Sitzplatz. Der Zug fuhr an.
Shinji starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster in die Dunkelheit des Tunnels, erhaschte immer wieder Blicke auf die Wände.
Er fühlte sich so leer und ausgelaugt...
Der Zug erreichte die nächste Haltestelle, an der übernächsten würde er aussteigen müssen.

Menschen stiegen aus und andere stiegen ein, der Zug fuhr weiter.
Warum verhielten sich ihm gegenüber alle so?
Tat er nicht genau das, was sie wollten?
Mußte er auch noch vorspielen, als würde es ihm gefallen, sein Leben zu riskieren?

Der Zug erreichte seine Haltestelle.
Er blieb sitzen, wollte jetzt noch nicht nach hause.
Er wollte fort, wollte nicht mehr zurück...
Aber wohin sollte er?
Seine Pflegeeltern hatten sich immer noch gemeldet, dabei hatte er sie am Vortag angerufen und ihnen auf den Anrufbeantworter mitgeteilt, wo sie ihn erreichen konnten...
Nur zu gut konnte er sich an ihre Blicke erinnern, als die Nachricht seines Vaters eingetroffen war... sie waren froh gewesen, ihn loszuwerden... Dabei hatten sie sich all die Jahre lang gut um ihn gekümmert... die Schecks seines Vaters waren ja auch immer pünktlich gekommen...
Er fühlte bittere Galle in sich hochsteigen.
Da war die Sache mit dem Fahrrad gewesen... er erinnerte sich so gut, als wäre es gestern ge-wesen. Er hatte sich so oft ein Fahrrad gewünscht, doch seine Pflegeeltern hatten ihn immer ig-noriert, hatten ihm gar nicht zugehört. Und dann hatte er das Fahrrad gefunden, es lag im Re-gen an einer Böschung, steckte teilweise im Matsch, hatte schon Rost angesetzt.
Doch ihm war es wie ein Geschenk vom Himmel erschienen, so als hätte jemand dieses Fahrrad dort ganz allein für ihn liegengelassen. Er war die Böschung hinabgerutsch, Matsch war auf seinen Regenmantel gespritzt, als er nach dem Lenker griff. Schmatzend hatte das Rad sich vom Untergrund gelöst. Er würde es reinigen müssen, vielleicht brauchte es auch eine neue Kette. Der Vorderscheinwerfer war kaputt, das Glas gesprungen. In Gedanken hatte er bereits zusammengerechnet, war zu dem Schluß gekommen, daß sein Erspartes gerade ausreichen würde, um das Rad wieder flottzumachen... Mühsam hatte er es aus dem Graben geholt, hatte den Rahmen notdürftig mit seinem Taschentuch abgewischt.
Er war noch keine hundert Meter weitgekommen, als der Polizist vor ihm gestanden hatte, ihn gefragt hatte, ob das Rad ihm gehörte. Er hatte die Frage verneint, hatte zu erklären versucht, daß er es gefunden hatte, daß der Eigentümer es vor mehreren Tagen im Graben liegengelassen haben mußte. Doch der Beamte hatte ihm nicht weiter zugehört, hatte ihn auf das Revier mit-genommen und angesehen wie einen Schwerverbrecher. Dann hatte er seine Pflegeeltern ange-rufen, seine Pflegetante war völlig aufgelöst und panisch erschienen, hatte ihm Vorwürfe ge-macht - sie würden ihm doch alles kaufen, was er wollte, er hätte es doch nur zu sagen brau-chen, hätte das Rad nicht stehlen müssen... doch seinen Unschuldsbeteuerungen hatte sie nicht zugehört, hatte ihn zuhause auf sein Zimmer geschickt. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie sie mit seinem Vater telefonierte, erinnerte sich daran, wie eingeschüchtert sie geklungen hatte. Es hatte ihm zwei Wochen Hausarrest eingebracht, ein Fahrrad hatte er auch später nicht be-kommen...
Nein, dorthin konnte er nicht mehr zurück...

Mittlerweile war der Zug weitergefahren, hatte den Tunnel verlassen und fuhr nun an der Oberfläche, hielt in kleineren Entfernungsabständen.
Er fuhr bis zum Endpunkt der Linie, blieb auch dann noch sitzen, fuhr wieder zurück.
Auch diesesmal stieg er nicht aus...


*** NGE ***


Misato fühlte sich völlig fertig.
Sie hätte Shinji nicht schlagen dürfen, hätte sich stattdessen mit seinen Worten auseinanderse-tzen müssen... aber auf soetwas hatte sie niemand vorbereitet...
Sie betrat Ritsuko Akagis Büro zwischen der Krankenstation und dem Testcenter.
\"Ritsuko, bist du da?\"

Das Büro war Katzenmotiven übersäat, eine Katzenuhr über dem Schreibtisch, Katzenbilder an den Wänden, spielende Katzen als Bildschirmschoner auf dem Computer, sogar der Bezug des Bürostuhles hatte ein Katzenmuster.

\"Hier drüben.\"
Die Stimme aus dem Nebenraum, wo Akagi ihr Labor hatte.

Misato folgte der Stimme.

Akagi war nicht im Raum, eine Tür, die in den Bereich der Krankenstation führte, stand offen; auf einer Untersuchungsliege saß Rei Ayanami, den rechten Schuh und die Socke aus gezogen. Der Knöchel war dick angeschwollen und der Fuß bis zu den Zehen rot-dunkelgrün-schwarz verfärbt.

\"Hallo, Rei. Das sieht übel aus.\"

\"Ja.\"

\"Tut sicher ganz schön weh.\"

\"Ja.\"

Misato seufzte innerlich.
Das Mädchen vor ihr war alles andere als dumm, dies belegten jedenfalls ihre Schulnoten - trotz der häufigen Abwesenheit vom Unterricht aufgrund von Tests oder, wie in den letzten Wochen, Verletzungen. Allerdings war sie, was soziale Interaktion anging, ein völlig unbe-schriebenes Blatt.

\"Kannst du laufen?\"

\"Nicht gut.\"

\"Hm, ja.\"

In diesem Moment betrat Ritsuko Akagi den Raum, ein Röntgenbild in der Hand.
\"Hallo, Misato. Einen Augenblick, ja? - So, Rei, ich habe das Ergebnis der Röntgenuntersu-chung. Gebrochen ist nichts, aber du hast eine wirklich üble Verstauchung und dazu eine Bän-derüberdehnung, Glück in doppelter Hinsicht, das hätte auch schlimmer ausgehen können. Außerdem benötigst du größere Schuhe, ich werde den Quartiermeister anweisen, dir welche zu besorgen.\"

\"Größere Schuhe?\"

\"Du bist noch im Wachstum. Hattest du noch nicht gemerkt, daß deine Schuhe zu eng gewor-den sind?\"

\"Nein... Ich habe nicht darauf geachtet.\"

\"Hm, verstehe. Schuhe und Hühneraugen sind im Vergleich zur Bekämpfung der Engel natür-lich Kleinkram... aber sieh\'s so: wenn du nicht auf dich achtest, könnten deine Fähigkeiten da-runter leiden.\"

\"Ja.\"

\"Ich werde den Knöchel mit Salbe einreiben und einen Verband anlegen, du mußt ihn wenig-stens einmal täglich wechseln und neue Salbe auftragen.\"

\"Verstanden.\"

\"Und du darfst den Fuß nicht belasten, du bekommst eine Krücke und ich sorge dafür, daß du vom Sicherheitsdienst mit einem Wagen abgeholt und gebracht wirst.\"

\"Ja.\"

Misato hatte sich derweil in Akagis Labor umgesehen.
Ihr war ein penetranter Geruch nach Erdbeeren aufgefallen. Der Geruch war im hinteren Teil des Raumes, auf der dem Lüftungsschacht gegenüberliegenden Seite, besonders stark, schien von einem Glas mit klarer, leicht rötlicher Flüssigkeit auszugehen.
\"Ritsuko, wonach riecht das hier?\"
Sie nahm das Glas in die Hand, schnupperte.
Der Geruch war derart intensiv, daß sich ihr Magen umdrehte.
\"Urgh!\"

\"Jetzt mecker nicht gleich wieder! Du wolltest doch, daß ich mir einen neuen Geschmack für das LCL ausdenke.\"

\"Erdbeere?\"

\"Wieso? Ich mag Erdbeeren.\"

\"Aber so stark? Das stinkt ja richtig.\"

\"Ach was.\"

\"Warte mal...\"
Sie ging mit dem Glas zur Liege hinüber.
\"Hier, Rei, riech mal. Aber nur ein wenig, nicht zu stark einatmen.\"

\"Der Geruch ist... kräftig.\"

\"Sag doch, daß es stinkt.\"

\"Es stinkt.\" befolgte sie die Anweisung ihres vorgesetzten Offiziers.

\"Siehst du, Ritsuko?\"

\"Kann man dir denn nichts recht machen? Weshalb bist du eigentlich hergekommen? Doch nicht nur, um an mir herumzunörgeln, oder?\"

\"Nein... es geht um Shinji.\"

\"Hm, so...\"

Misato stellte das Glas wieder zurück, Akagi folgte ihr in den anderen Teil des Raumes, die beiden hatten Rei, welche immer noch auf der Liege saß, fast vergessen.
Das blasse Mädchen hingegen hörte genau zu.

\"Er verhält sich seltsam... hat mir Vorwürfe gemacht, ich würde ihn nur ausnutzen. Eigentlich meint er, wir alle würden ihn nur ausnutzen.\"

\"Inwiefern?\"

\"Ritsuko, er will EVA-01 nicht steuern... er tut es nur, weil wir es von ihm verlangen.\"

\"Ja. Aber es muß sein, wir haben keinen anderen geeigneten Piloten für Einheit-01.\"

\"Aber verstehst du denn nicht? Innerlich scheint sich alles in ihm zu sperren. Ich habe vorhin bei mir zuhause angerufen, inzwischen hätte er da sein müssen, aber er ist nicht drangegangen.\"

\"Vielleicht ist er einkaufen. Oder er trödelt herum.\"

\"An sein Handy ist er auch nicht gegangen... er hat es abgestellt, Ritsuko. Und der Sicherheits-dienst hat ihn auch verloren.\"

\"Das ist schlecht, wie sollten wir ihn denn in einem Notfall erreichen?\"

\"Siehst du, genau das meinte ich, genau so ein Verhalten wirft er uns vor, daß wir nur einen Pi-loten brauchen, der unsere Anweisungen ausführt.\"

\"Brauchen wir doch auch. Misato, ich würde auch lieber mit Erwachsenen arbeiten statt mit Kindern, die kennen ihre Pflichten viel besser. Oder Rei zum Beispiel, an ihr sollte Shinji sich orientieren, sie macht keine Probleme.\"

\"Ritsuko, du bist unmöglich.\"

\"Und wenn schon.\"

\"Sag mal... du hast du gesagt, dieses LCL würde die regenerativen Kräfte des Körpers unter-stützen, könnte es auch bei Rei helfen? Ich meine, so ein dicker Fuß ist ziemlich lästig.\"

\"Nein, Misato, ich kann das LCL bei Rei nicht benutzen. Sie ist dagegen resistent.\"

\"Ach.\"

\"Ja. Ihre Widerstandskraft gegen Krankheiten, oder auch gegen Gifte, ist phänomenal, ähnli-ches kann man von ihrer Konstitution behaupten.\"

\"Das sieht man ihr gar nicht an.\"

\"Du hast recht. Ihr Knöchel heilt bereits, die Verfärbung des Blutergusses ist erst in den letzten zehn Minuten eingetreten. Unsereiner würde mit sowas die nächsten zwei, drei Wochen her-umlaborieren, bei ihr sollte in einer Woche alles wieder in Ordnung sein.\"

\"Das ist...\"
Misato blickte Rei an, blickte ihre immer noch vorhandenen sonstigen Verletzungen an, den eingegipsten Arm und das immer noch verbundene Auge.
\"Aber dann... dann waren ihre Verletzungen noch schwerer als ich gedacht hatte...\"

\"Ja. Aber sie würde durch die Hölle gehen, wenn Kommandant Ikari es ihr befehlen würde...\"

Rei hörte zu.
Die beiden Erwachsenen unterhielten sich über sie, als befände sie sich gar nicht im gleichen Raum. Der Major schien Anteil an ihren Verletzungen zu nehmen, soetwas war sie nicht ge-wohnt. Nur der Kommandant erkundigte sich öfters nach ihrem Zustand, nach ihrer Funktions-fähigkeit. Warum verhielt sich der Major so, als kümmere es sie?
Und Ikari-kun... wenn es stimmte, was sie sagten, dann widersetzte er sich den Befehlen... er war der Sohn des Kommandanten, weshalb tat er soetwas? Kannte er keine Loyalität dem Kommandanten gegenüber? Der Mission gegenüber? Oder wußte er zuwenig über die Mission, um ihre wahre Bedeutung zu erkennen?
Sie hatte ihn in gewisser Weise aufwachsen sehen, hatte die Bilder und Videoaufzeichnungen gesehen, welche die NERV-Sicherheitsagenten angefertigt hatten, die ihn zeit seines Lebens beschützt hatten, die dafür gesorgt hatten, daß ihm nichts zustieß, damit er bereit war, wenn EVA-01 aktiviert wurde... und in dieser Sekunde verstand sie, durchbrach die Wahrheit den Schleier der Konditionierung, welche der Kommandant ihr gegeben hatte... Der Kommandant brauchte seinen Sohn nur als Piloten, weil sie verletzt war, weil sie aufgrund ihres niedrigeren Synch-Ratios nicht imstande war, effektiv mit EVA-01 zusammenzuarbeiten, er brauchte ihn, um die Engel zu bekämpfen, damit sie am Tage der Prophezeiung bereit war - für den Kom-mandanten war Ikari-kun nur ein weiterer Bauer...
Sie blinzelte.
Ihre Gedanken enthielten Kritik am Kommandanten, dabei hatte man ihr immer gesagt, daß der Kommandant keine Fehler beging, daß es nur unzuverlässige Gefolgsleute gab, welche eigent-lich perfekte Pläne durch ihr Verhalten zum Scheitern brachten...
Und wenn das nicht stimmte?
Die einander jagenden Schlußfolgerungen waren verwirrend, sie war es nicht gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen, hatte während ihrer ganzen Existenz nur Befehle befolgt.
Dunkel erinnerte sie sich, ihre erste Existenz verloren zu haben, als sie den Befehl des Kom-mandanten befolgte, als sie Naoko Akagi die Worte sagte, welche der Kommandant ihr auf-getragen hatte. Die letzte Erinnerung an ihre erste Existenz waren die Hände der Mutter des Doktors, welche sich um ihren Hals legten und zudrückten. Und ihr erster Gedanke nach dem Wiedererwachen war gewesen, daß sie versagt haben mußte, daß sie den Plan des Komman-danten nicht korrekt ausgeführt haben mußte, sonst wäre es wohl kaum nötig gewesen, einen weiteren Körper zu aktivieren.
Und wenn sie nicht versagt hatte?
Wenn der Kommandant das Ende ihrer ersten Existenz bewußt riskiert hatte?
Wenn sie auch nur ein Bauer war?
Ihr Kopf begann zu schmerzen.
Soviele Gedanken, soviele Möglichkeiten...
Ikari-kun...
Was, wenn er nicht zurückkam?
Er hatte nach ihrer Hand gegriffen, um sie im Gedrängel nicht verlieren, hatte sie trotz ihres Protestes nicht einfach zurückgelassen, sondern zuerst aus der direkten Gefahr in Sicherheit gebracht... sie war ihm wichtiger gewesen als die Stadt... warum? Weil sie ihm geholfen hatte, Mitschüler Suzuhara zu entkommen?
In den letzten zwei Tagen hatte sie während der endlosen Monologe des Lehrers immer wieder seinen Blick in ihrem Rücken gespürt, hatte in der Reflektion im Fenster gesehen, wie er sie an-geblickt hatte... er war der erste Mitschüler, der sie angesprochen und sich nicht von ihrer Art hatte verjagen lassen, der erste Mensch, der sich nicht für sie interessiert hatte, weil es um ihre Funktionsfähigkeit, oder einen Langzeitplan gegangen war... konnte dies das Phänomen sein, welches Menschen als Freundschaft bezeichneten? Hatte er ihre Freundschaft gesucht?
Es wurde immer komplizierter...
\"Doktor Akagi, kann ich gehen?\"

Ritsuko blickte auf, nahm überrascht zur Kenntnis, daß Rei Ayanami noch da war.
\"Ja, natürlich.\"

\"Ich...\" sie überlegte. \"Ich könnte Ikari-kun suchen.\"

Akagi lachte kurz auf, es klang nicht sonderlich sympathisch.
\"Nicht mit dem Fuß, junge Dame. Ich sorge dafür, daß man dich heimfährt, wo du den Fuß hochlegen und ruhigstellen wirst.\"

\"Ja. Verstanden.\"

\"Warte, Rei.\" mischte sich Misato ein. \"Weißt du vielleicht, wo Shinji sein könnte?\"

Sie blickte den Major mit unbewegtem Gesicht an.
Woher sollte sie wissen, wo Ikari-kun sich befinden könnte?
\"Nein.\"
Rei stand auf von der Liege, nahm die Krücke entgegen und humpelte hinaus.

\"Armes Ding\", murmelte Misato.

\"Was meinst du?\"

\"Immer ist sie verletzt... jedenfalls solange ich sie kenne.\"

\"Nein.\" Akagis Stimme klang ablehnend. \"Sie erholt sich von allem.\"

\"Das ist kalt.\"

\"Pah.\"

\"Hat Rei niemanden?\"

\"Sie hat Kommandant Ikari, ihren Vormund.\"

\"Keine Eltern oder Geschwister?\"

\"Nein. Ihre Eltern sind während der Nachwehen des Second Impacts gestorben.\"

\"Und nur der Kommandant kümmert sich um sie? Das ist wirklich seltsam... Weshalb hat er sie und nicht seinen Sohn... Die beiden hätten zusammen aufwachsen können...\"

\"Für Ikari gelten ganz andere Maßstäbe, Misato, ganz andere...\"


*** NGE ***


Shinji blickte von einer Anhöhe aus auf die Stadt hinunter, er befand sich in den gleichen Hü-geln, in denen er am Vormittag desselben Tages gegen den Engel gekämpft hatte, von seinem Standort aus konnte er die tiefen Gräben sehen, welche die energetischen Tentakel des Engels in den Boden gerissen hatten.
In mehreren Kilometern Entfernung befand sich das von Scheinwerfern hell erleuchtete Areal mit dem toten Engel. Um den Körper herum waren große Zelte aufgestellt worden, zwischen denen Menschen in Overalls herumliefen und den Engel untersuchten.
Shinji spürte kein Verlangen, die Entfernung zu überwinden, er wollte mit den Leuten von NERV nichts zu tun haben.
Stattdessen wandte er sich um und ging weiter, ließ die Stadt hinter sich, betrat das hügelige Waldgebiet.

Es war bereits dunkel. Und es war kalt, das milde Frühlingsklima machte die Tage zwar ange-nehm, doch nachts fielen die Temperaturen. Schon bald stolperte er zitternd durchs Unterholz, das Licht der Sterne und der fahle Mond am Himmel halfen ihm nicht sonderlich weiter, da er das Gelände nicht im geringsten kannte, gab es auch keine Orientierungsmerkmale, die er hätte nutzen können.
In ihm stieg das Gefühl auf, vom Regen in die Traufe gekommen zu sein, sein Wunsch, mög-lichst weit weg von NERV zu kommen, hatte dazu geführt, daß er hungrig und frierend im Wald gelandet war, wo ihn vielleicht wilde Tiere zerfleischen konnten oder wo er einfach hun-gers sterben könnte...
Da war doch etwas vor ihm, ein Licht...
Er ging auf das Licht zu.
Schließlich stolperte er auf eine Lichtung mit einem kleinen See.
Am Ufer des Sees stand ein Zelt, vor dem ein Lagerfeuer brannte.
Und über dem Feuer hing ein Topf, dessen Inhalt auf den ausgehungerten Jungen eine starke Anziehungskraft ausübte.
Shinji sah sich um, konnte niemanden sehen.
Wem das Zelt wohl gehören mochte?
Langsam ging er darauf zu, hockte sich ans Feuer. Die Wärme der Flammen vertrieb die Kälte der Nacht, dafür spürte er seinen leeren Magen umso stärker.
In dem Topf köchelte eine Suppe vor sich hin.
Ob es wohl ausfallen würde, wenn er einen Löffel für sich abzweigte? Schließlich wollte er ja nicht die ganze Suppe auslöffeln... Und er hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen, und auch da nur einen Happen, weil er ja die Wohnung hatte verlassen wollen, bevor Misato auf-stand. Sein Magen knurrte, wie ihm schien laut genug, um sämtliche wilden Tiere des Waldes anzuziehen.
Wie die Suppe duftete...
Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

\"Hände hoch!\" zischte eine Stimme hinter ihm und ein Gewehrlauf bohrte sich zwischen seine Schulterblätter.

Shinji fiel fast nach vorn ins Feuer.
Wie angewiesen hob er die unkontrolliert zitternden Hände.

\"Hey, schon gut, war nur \'n Spaß.\"

Der Druck in seinem Rücken verschwand.
\"W-w-w-was?\"
Vorsichtig stand er auf, drehte sich um.
\"Aida?\"
Vor ihm stand der brillentragende Junge, gekleidet in eine khakifarbene Armeeuniform und ein Gewehr in den Händen. Kensuke Aida grinste ihn an.

\"Was machst du denn hier draußen?\"

\"D-das könnte ich dich auch fragen. Sei vorsichtig damit!\"

\"Was? Ach, das ist nur ein Spielzeuggewehr.\"
Aida lachte.
\"Setz dich ruhig, willst du \'was essen, ist genug da.\"

\"Uhm, ja, danke. Also, was machst du hier?\"

\"Och, ich bin öfter hier draußen.\"

\"In diesem Aufzug?\"

\"Ja, weißt du, mein älterer Bruder war bei der Armee, er wird seit den Rohstoffkriegen von 2006 vermißt.\"

\"Und... du spielst hier Krieg?\"

\"Nein, ich bereite mich vor.\"

\"Ja.\" murmelte Shinji, während er sich etwas von der Suppe in eine Schale schaufelte, die Aida ihm gereicht hatte.
Der war doch völlig durchgeknallt, trieb sich nachts allein im Wald herum, wo sonstwas passie-ren konnte...

\"Und warum bist du hier?\"

\"Uhm... ich brauchte etwas... Abstand...\"

\"Verstehe.\"

\"Ja?\"

\"Klar, so wie du dich während des Kampfes verhalten hast... du warst hinterher ja völlig fertig, so als ob der EVA dich regelrecht ausgesaugt hätte.\"

\"Ja.\"
Er war überrascht, Aida zeigte ein Verständnis, daß er ihm gar nicht zugetraut hätte.

\"Aber ich bin froh, daß es dir wieder gut geht. Nimm dir ruhig noch \'was, ich kann auch noch eine Dose Bohnen aufmachen.\"

\"Äh...\"

\"Weißt du, ich beneide dich total.\"

\"Warum?\"

\"Hey, du kannst diesen Roboter steuern, das ist voll cool!\"
Womit der Eindruck, den Shinji gehabt habe, wieder verschwand.

\"Wenn ich bloß auch so denken könnte...\"

Aida blickte ihn nicht mehr an, starrte stattdessen an ihm vorbei.

\"Was ist denn?\"

\"Ich glaube... die wollen zu dir...\"

Shinji warf den Kopf herum.

Vom Waldrand her näherte sich eine Gruppe von Männern in dunklen Anzügen.
\"Shinji Ikari?\"

\"Äh, ja...\"

\"NERV-Sicherheit. Du wirst uns folgen!\"


*** NGE ***


Bald darauf befand er sich im Hauptquartier, er hockte auf einem harten Metallstuhl in einem ansonsten unmöblierten Raum, die einzige Lichtquelle unter der Decke war direkt auf ihn ge-richtet.
Er kam sich vor wie auf der Anklagebank.

Misato betrat den Raum.
Sie schien müde und übernächtigt, hatte die Lippen zusammengepreßt.
\"Und?\"
Keine Begrüßung...
\"Hat dir dein kleiner Ausflug Spaß gemacht? Hat dich die Herumtreiberei etwas aufgeheitert?\"

Er senkte den Blick.
\"Es tut mir leid.\"
Es tat ihm leid, daß sie seinetwegen nicht geschlafen hatte, es tat ihm leid, daß sie sich Sorgen gemacht hatte...

\"Ich möchte dich nur eins fragen: Willst du in Zukunft weiterhin ein EVA-Pilot sein, oder nicht?\"

Shinji hob den Blick nicht an.
\"Ich hatte es dir doch von Anfang an gesagt... ich bin nicht eingestiegen, weil ich es wollte... aber, was ändert das schon? Ihr braucht einen Piloten, Ayanami ist immer noch verletzt, also braucht ihr mich immer noch und werdet mich wohl kaum gehen lassen.\"

\"Darum geht es nicht. Ich will wissen, was du denkst... Shinji-kun...\"
Misatos Blick wurde weich.
\"Wenn du nicht wieder Pilot sein willst, ist das okay... du kannst jederzeit zu deinem Onkel und deiner Tante zurück.\"

Er sah sie nur an, konnte nicht glauben, was sie sagte, konnte nicht glauben, daß sie bereit wa-ren, ihn gehenzulassen.

\"Es bringt nichts, wenn du nur halbherzig dabei bist, du setzt nur dein Leben unnötig aufs Spiel... Natürlich könnten wir dich als Piloten gebrauchen, aber wir schreiben das Betriebs-system von EVA-01 auf Rei um, sie hat keine Bedenken, trotz ihres Zustandes einen EVA zu steuern.\"
Misato preßte kurz die Lippen zusammen.
Die Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen, sie wollte ihn eigentlich nicht gehen lassen, denn schon jetzt glaubte sie zu wissen, daß ihr Apartment seltsam leer sein würde.
Sie schluckte.
\"Verzeih mir, ich hätte nie versuchen sollen, dich zu überreden... es war falsch. Kehre in dein altes Leben zurück und vergiß uns.\"
Sie wandte sich der Tür zu, war schon halb aus dem Raum, als sie noch einmal zurückblickte, hoffte, daß er nicht sah, daß ihre Augen feucht waren.
\"Leb wohl...\"
Damit ging sie.
Die Tür schlug laut hinter ihr zu.

Shinji sackte wieder in sich zusammen.
\"Misato...\"
Also war er ihr nicht egal... also sah sie mehr in ihm als nur den braven Piloten Shinji...
Wie hatte er nur so gemein zu ihr sein können...

Die Tür wurde wieder geöffnet, doch statt des Captains traten zwei der Männer in Schwarz ein.
\"Komm mit.\"

Wortlos stand er auf und folgte ihnen.
Sie brachten ihn zum Haupteingang, dort wartete Ritsuko Akagi auf ihn.

\"Shinji, ich habe ein Nachricht von deinem Vater. Er läßt dir ausrichten: \'Auftrag erfüllt. Geh heim.\'\"

\"Ja.\"
Irgendwie überraschte ihn das nicht.
Es überraschte ihn nicht, daß sein Vater nicht selbst gekommen war, es überraschte ihn nicht, daß er ihm selbst jetzt alle Anerkennung verweigerte...
\"Ritsuko... Doktor Akagi...\"

\"Ja?\"

\"Wo... wo ist Misato? Ich würde mich gern... von ihr verabschieden...\"
Und sich entschuldigen...

Akagi blickte ihn an wie einen Fremden.
\"Shinji, du gehörst nicht mehr zu NERV, du hast keine Forderungen mehr zu stellen. Im Ge-genteil, du wirst dich so schnell wie möglich aus dem Hauptquartier, der Geofront und Tokio-3 entfernen. Diese beiden Herren werden dich zum Zug bringen und dafür sorgen, daß du mit ihm die Stadt verläßt. Deine Sachen werden dir nachgeschickt. Alles Gute.\"
Damit wandte auch sie sich ab.

Einer der Sicherheitsleute gab ihm einen leichten Stoß.
\"Komm, Junge.\"

In die Bahnstation fuhr gerade ein Zug ein, ein einzelner Passagier stieg aus - Rei Ayanami.

\"Ayanami\", stieß Shinji hervor.
Es war das erste Mal, daß er sie sah, seit er sie am Vormittag in der Stadt zurückgelassen hat-te, die Tatsache, daß sie sich schwer auf eine Krücke stützte, erschreckte ihn.
\"Bist du... in Ordnung?\"

Sie sah ihn mit ihrem gesunden Auge an, über dem anderen befand sich jetzt ein großes Pflaster statt der Bandage. Der Blick des scharlachroten Auges schien sich in seine Seele zu bohren.
Ayanami nickte knapp.

\"Kein Gespräch.\" brummte der Mann in Schwarz und deutete dem Jungen, in den Waggon zu steigen.

Er spürte Ayanamis Blick auf seiner Haut wie Feuer. Trotz der Ermahnung drehte er sich noch einmal halb um.
\"Ayanami...\"

Ihr Blick war furchtbar traurig.
\"Leb wohl, Ikari-kun...\"

\"Komm jetzt!\"
Sie stießen ihn in die Bahn.

Shinji starrte durch die Fensterscheibe, hielt mit ihr Blickkontakt, bis die Bahn anfuhr und die Station verließ...


*** NGE ***


Die Schlußlichter der Bahn verschwanden im Dunkel des Tunnels.
Rei sah noch eine ganze Weile in die Dunkelheit, meinte, einen Lichtschimmer wahrzunehmen, wandte sich schließlich um.
Sie war wieder allein...
In ihren Augen hatte sich Feuchtigkeit angesammelt, dabei hatte sie nicht den Eindruck, etwas im Auge zu haben. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das gesunde Auge.

Langsam humpelte sie in Richtung des schweren Panzerschotts, sie hatte es noch erreicht, als es von innen geöffnet wurde und sich Kommandant Ikari gegenübersah.

Der Mann lächelte eines seiner seltenen Lächeln, doch in diesem Lächeln lag kein Gefühl, es war ebenso tot wie die Augen hinter der Brille.
\"Rei, was tust du hier?\"

\"Ich habe gehört, daß das Third Children aufgefunden wurde.\"

\"Ja. Er hat uns verlassen. Rei, jetzt liegt es an dir, die Mission zu einem Erfolg zu führen.\"

Sie nickte knapp, eilte an ihm vorbei, während sie wieder spürte, wie ihre Augen feucht wur-den.
Warum hatte der Kommandant Ikari-kun gehen lassen? Hätte er ihn nicht übezeugen können zu bleiben?
Ihr Bild von der Unfehlbarkeit des Kommandanten begann zu bröckeln...


*** NGE ***


Der Geländewagen bockte wie ein wilder Stier, es erforderte Larsens ganze Aufmerksamkeit, ihn auf dem Trampelpfad zu halten, dem er seit einiger Zeit folgte.
Den Wagen selbst hatte er in der Nähe des Camps gefunden, umgeworfen von der Druckwelle einer der Explosionen. Jetzt näherte er sich langsam dem vereinbarten Treffpunkt, wo sein Team auf ihn warten würde.
Am Horizont ging die Sonne auf.
Die Tankanzeige bewegte sich bereits im roten Bereich, einen Reservekanister hatte er nicht.
Er hoffte, daß der Sprit noch ein wenig reichen würde, die Schußverletzung an seinem linken Bein würde es ihm nicht erlauben, weite Strecken zu laufen, sie mußte dringend von einem Arzt versorgt werden.
Während der Fahrt schlichen sich immer wieder Erinnerungsbilder vor sein geistiges Auge, Bil-der aus einer Zeit, als er noch mehr Mensch gewesen war als Maschine.
Es war im Jahre 2000 gewesen, kurz nach seiner Beförderung zum Sektionsleiter innerhalb des MAD, des Militärischen Abschirmdienstes der Bundesrepublik Deutschland. Der Posten brach-te ausreichend Sicherheiten, daß er daran denken konnte, eine Familie zu gründen, er würde nicht mehr ständig unterwegs sein, hatte endlich Gelegenheit, etwas Ruhe zu finden.
Zu diesem Zeitpunkt war er bereits fast zwanzig Jahre im Geheimdienstgeschäft gewesen, man hatte ihn direkt von der Militärakademie rekrutiert und dann bei verschiedenen verbündeten Geheimdiensten unterweisen lassen. Das Ende des Kalten Krieges hatte für ihn zur Folge ge-habt, daß er selbst mehr im Ausbildungs- und Verwaltungsbereich tätig geworden war, die Zahl der Einsätze, die er geplant hatte, ging in den dreistelligen Bereich. Zur Jahrtausendwende hatte er seine Jugendliebe Ann geheiratet, ihre Flitterwochen verbrachten sie an der Nordsee in einem kleinen Küstendorf, wo seine Familie ein Landhaus besaß. In seiner Familie gab es eine lange Tradion von Armeeangehörigen, einer seiner Verfahren hatte unter Blücher gegen die Franzosen gekämpft. Und dort, an der Nordsee, überraschte sie der Second Impact.
Mit einem Schlag war der Himmel dunkel geworden und die See unruhig, kurz darauf peitschte der Wind über das Meer und eine Flutwelle überrollte die Küste, brach die Deiche, schwemmte Menschen, Vieh und Häuser fort...
Sie hatten bereits wenige Stunden zuvor vom Kommen der meterhohen Flutwelle erfahren, hatten Vorbereitungen getroffen und sich im Haus verschanzt, da sämtliche Straßen bereits verstopft waren und niemand beim MAD daran dachte, den Chef des Planungsstabes und seine Frau mit einem Helicopter herauszufliegen, andere Personen hatten Vorrang.
An die Sekunde der Katastrophe selbst erinnerte er sich nicht mehr, nur daß die Wassermassen das Haus mit sich gerissen hatten und daß eine eiskalte Hand ihn gegen eine Betonmauer ge-schleudert hatte, daß er gehört hatte, wie sein Rücken brach, wie Hüfte und Schulterblätter zerschmettert wurden, daß er Blut gespuckt hatte und die Welt in einem Strudel aus Rot und Schwarz untergegangen war.
Irgendwie hatte er die Katastrophe überlebt, irgendjemand hatte ihn gefunden, ein zerschmet-tertes blutiges Bündel Fleisch... Als er im Krankenhaus an zahlose Apparaturen angeschlossen zu sich kam, blind und nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu bewegen, hörte er jeman-den sagen, daß man ihn nicht im Stich lassen würde, daß man tun würde, was möglich war. Doch hätte er sprechen können, hätte er nur darum gebeten, sterben zu dürfen...
Über vier Jahre hatte er sich in diesem Zustand befunden, am Leben erhalten von Maschinen, war mit der Zeit mehr und mehr zu einem Versuchsobjekt geworden, einem Symbol für den Wettlauf der Ärzte mit dem Tod. Schließlich jedoch hatten sie endlich die Geräte abgestellt - und sein Herz hatte von selbst weitergeschlagen, seine Lungen von selbst weiter geatmet, sein Körper hatte weitergelebt, hatte ihn betrogen. Dies hatte den Ausschlag gegeben für ein toll-kühnes Unterfangen. Und zwei Tage später, nachdem vier Ärzteteams in Schichten an seiner Wiederherstellung gearbeitet hatten, war er imstande gewesen, wieder zu sehen. Kameralinsen hatten seine Augen ersetzt, eine neuentwickelte Schnittstelle den Sehnerv, ein Klumpen bioor-ganischen elektodengespickten Gewebes einen Teil seines Gehirns. Eine Ummantelung aus tita-niumangereicherten Tripolymerstahl war benutzt worden, um seine zersplitterten Schädelkno-chen zusammenhalten, ebenso waren seine Rückenwirbel rekonstruiert worden. Panzerplatten waren für Rücken und Brust genutzt worden, um die Organe zu schützen, die längst aufgrund fortschreitender Nekrose entfernten Arme und das rechte Bein waren durch Prototypen neuer Prothesen ersetzt worden, die über das sogenannte PROPHET-Interface von seinem Gehirn gesteuert werden konnten.
Im Laufe der Zeit waren neue Modifikationen hinzugekommen, hatten man ihn verbessert.
Das linke Bein war durch implantierte knochenverstärkende Schienen in die Lage versetzt wor-den, das erhöhte Gewicht seines Körpers zu tragen, künstliches Muskelgewebe war verwandt worden, um es auf einen Leistungsnenner mit dem kybernetischen rechten zu bringen. Und schließlich hatte er die Krallen erhalten, kurz nachdem er zur neugegründeten Organisation ODIN gewechselt war...
Die Rückkehr in sein altes Leben war fast unmöglich gewesen, er hätte es verstanden, wenn Ann ihn verlassen hätte, wenn sie es mit dem Monster, zu dem sie ihn gemacht hatten, nicht unter einem Dach ausgehalten hätte. Doch sie war für ihn dagewesen, hatte ihm nicht den Rük-ken zugekehrt. Dafür war er ihr dankbar, denn ohne sie hätte er es wahrscheinlich nicht ge-schafft, seine Menschlichkeit zu bewahren, seine Persönlichkeit im Inneren des Metallschädels nicht zusammenhalten können.
In guten wie in schlechten Zeiten...
Die Erinnerung an das Versprechen, welches sie einander gegeben hatten, ließ seine Mundwin-kel zucken. Die Mimik war sparsam, doch besser als nichts.
ODIN hatte keinen Meisterstrategen benötigt, sie hatten eine lebende Waffe gebraucht, welche auch die gefährlichsten Aufträge ausführte. Und so war zu seinem Decknamen gekommen - Loki. Loki der Verräter unter den Nordgöttern... Die Ironie entging ihm nicht, würde seine nächste Aktion doch auf den Fall Direktor Wilforth F. Cedricks hinarbeiten...

\"Commander?\"

Instinktiv griff er nach der Maschinenpistole, welche neben ihm auf dem Sitz lag, schloß die stählernden Finger dann jedoch doch nicht um den Griff, sondern brachte den Wagen zum Ste-hen.
Die Stimme war vertraut, sie gehört einem seiner Agenten.
Der Mann trat aus dem Schatten eines Felsens.

\"Haben Sie es geschafft, Sir?\"

\"Ja. Wo sind die anderen?\"

\"Ich zeige es Ihnen.\"
Der andere kletterte in den Jeep, deutete auf einen kaum erkennbaren Pfad.
\"Dort entlang.\"

Der Pfad endete in einem Canyon, dort hatten die ODIN-Agenten ihr Lager aufgeschlagen - und dort wartete ein Frachthubschrauber.
Larsen fühlte eine tiefe Ruhe in sich aufsteigen. Die erste Hürde war erklommen. Seine alten Kontakte funktionierten noch...

*** NGE ***


Rei Ayanami humpelte den breiten Hauptkorridor entlang.
Sie hatte kein Ziel vor Augen, wollte einfach nicht in ihr leeres Apartment zurückkehren, wo die Einsamkeit, welche sie in diesen Momenten spürte, unerträglich gewesen wäre, wo nur der helle Mond am Nachthimmel ihr Gesellschaft geleistet hätte.
Plötzlich hörte sie ein Schluchzen.
Sie folgte dem Geräusch, fand auf einer Bank neben einem Trinkwasserspender den Ursprung des Schluchzens, dort saß Captain Katsuragi, das Gesicht in den Händen verborgen.
Rei betrachtete die ältere Frau eine Weile lang.
\"Captain?\"

Misato blickte auf.
\"Ja?... Ach, Rei, du bist es...\"

\"Fühlen Sie sich unwohl? Soll ich Doktor Akagi verständigen?\"

\"Nein.\"
Sie schüttelte den Kopf, holte ein Taschentuch hervor, faltete es auf die Größe einer Tisch-decke auseinander und schneuzte sich kräftig.
\"Aber danke.\"

Rei blickte sie an.
Weshalb bedankte Captain Katsuragi sich bei ihr? Sie hatte doch nur eine Maßnahme zur Er-haltung ihrer Funktionsfähigkeit vorgeschlagen, die sie sicher selbst kannte.

Misato sah Rei an.
\"Er ist weg... Shinji ist fort.\"

\"Ich weiß.\"

\"Ja?... egal... ich kann ihn sogar verstehen... wir alle haben ihn nur benutzt, haben gehofft, daß er sein Leben für uns riskiert...\"

Rei sagte nichts.
Warum erzählte der Captain ihr das? Zog sie sie etwa ins Vertrauen? Behandelte sie sie gerade wie einem Menschen und nicht wie eine Puppe, wie ein Werkzeug?

\"Er hat es nicht mehr ausgehalten... und ich habe ihn gehen lassen... dabei kann er nirgends hin-gehen... ich wollte mich um ihn kümmern, aber nicht einmal das habe ich geschafft. Und jetzt - jetzt sitze ich hier und jammere...\"

\"Sie wollten nicht, daß er geht.\"

\"Nein. Aber ich konnte ihn auch nicht halten.\"

Rei war versucht, den Kopf zu schütteln.
Ikari-kun hatte nicht wirklich gehen wollen, er hatte seine neuen Bekanntschaften nicht einfach zurücklassen wollen, sonst hätte er sich in der Bahnstation wohl kaum so verhalten.
Und der Captain hatte auch nicht gewollt, daß er ging.
Die Lösung war so einfach, lag auf der Hand, erforderte nicht einmal besondere Logik.
\"Sagen Sie es ihm.\"

\"Was meinst du, Rei?\"

\"Warum sagen Sie ihm nicht einfach, daß Sie möchten, daß er bleibt... daß Ikari-kun bleibt, nicht Pilot Ikari...\"

Misato schluckte. Reis Worte begannen einzusinken.
Sie sprang auf.
\"Rei, du bist ein Genie!\"
Damit rannte sie los.

\"Ich weiß.\" murmelte Rei. In ihrer Stimme schwangen weder Stolz noch Protzerei mit, nur die nackte Feststellung. Schließlich war sie so erschaffen worden, daß ihr Intellekt über dem Durchschnitt lag, weit über dem Durchschnitt.
Und sie hoffte, daß der Captain es schaffen würde, mit Ikari-kun zu sprechen, bevor dieser die Stadt verließ... und daß Ikari-kun ihr zuhörte...


*** NGE ***


Misato fuhr wie der Teufel - und dies sogar für ihre Verhältnisse.
Zu ihrem Glück war nur wenig Verkehr.
Mit quietschenden Reifen fuhr sie auf den Parkplatz vor dem Bahnhof, sprang aus dem Auto, ließ es einfach mitten auf dem Platz stehen, hechtete die Stufen zum Bahnsteig hinauf, als hinge ihr Leben davon ab.

Der Zug, mit dem Shinji zurückfahren würde, war gerade eingefahren...
Dann sah sie den jungen Ikari, der vor einer offenen Tür stand und sich nicht bewegen zu wol-len schien, denn die beiden Sicherheitsleute, die ihn begleitet hatten, waren gerade dabei, ihn in den Waggon hineinzubugsieren. Er wehrte sich nicht, tat aber selbst auch keinen Schritt.

\"Shinji!\" brüllte Misato aus Leibeskräften.

Er drehte den Kopf, seine Augen weiteten sich.
\"Misato...\"

Die beiden Männer in Schwarz hielten in ihrem Tun inne.
\"Captain...\"

\"Meine Herren, ich übernehme ab hier, Sie werden nicht mehr gebraucht.\"

\"Wir haben Anweisungen...\"

\"Ihre Befehle sind widerrufen.\"

\"Ja, Sir.\"
Die beiden entfernten sich.

Misato keuchte.
\"Shinji-kun, ich muß dir noch etwas sagen... ich...\"
Sie schnappte nach Luft.
\"Hör zu, ich möchte nicht, daß du gehst. Ich meine, wir kennen erst seit ein paar Tagen, aber... weißt du, ich habe dich bei mir einquartiert, weil ich dachte, es wäre nett, jemanden in der Nä-he zu haben, jemanden, mit dem man sich unterhalten kann...\"
Sie grinste.
\"Einen Mann im Haus, der Einbrecher verjagt und den Müll rausträgt... Shinji-kun, verstehst du? Ich wollte soetwas wie eine Familie... versteh mich bitte nicht falsch...\"
In ihren Augen glitzerte es feucht.

Shinji sah sie stumm an.
Ihr Interesse galt tatsächlich ihm, wie bei einer Mutter... nein, wohl eher wie bei einer großen Schwester... aber es war das erste Mal, daß jemand ihm soetwas sagen, daß er nicht allen egal war...
Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.
Seine Knie bebten plötzlich.
\"Misato... ich will nicht zurück... egal, was daraus erwächst... egal, was ich tun muß... ich will nicht wieder zurück...\"

Die Türen des Zuges schlossen sich und er fuhr ab.
Die beiden registrierten es nur am Rande.

\"Shinji-kun?\"

\"Ja?\"

\"Laß uns nach Hause gehen.\"
Kapitel 11 - Weiße Narben

Mit Misatos Erlaubnis blieb Shinji am nächsten Morgen der Schule fern und schlief sich richtig aus.
Als er am späten Vormittag die Augen öffnete und zur Decke sah, war es in seinem Denken keine fremde Zimmerdecke mehr.
Er war zuhause...


*** NGE ***


Das erste, was er nach Waschen, Ankleiden und Frühstücken tat, war Einkaufen zu gehen, Mi-sato war am Vortag nicht dazu gekommen und die Schränke waren für Shinjis Auffassung schon wieder recht leer, schließlich konnte man nie wissen, wann ein voller Vorratsschrank le-bensnotwendig werden könnte.
Draußen allerdings, als er schon wieder dabei war, die Einkaufstüten von Laden an der Ecke zurückzuschleppen, vertraten ihm Toji Suzuhara und Kensuke Aida den Weg.
Shinjis Laune sank auf den Tiefpunkt, wahrscheinlich wollte der größere und stärkere Junge ihn wieder einschüchtern.
Aber diesesmal nicht... diesesmal würde er die Wange nicht hinhalten, sich nichts mehr gefallen lassen...

Doch Suzuhara gab sich seltsam zurückhaltend.
\"Ikari, ich muß mit dir reden.\"

\"Ja?\"
Shinji zog die Augenbrauen hoch, blieb aber bereit, einem Schlag auszuweichen.

\"Toji möchte dir \'was sagen.\" grinste Kensuke.

\"Also, Ikari, ich... Ach, verdammt, ich kann das nicht!\"

\"Na los, Großer!\"

\"Hrmpf. Gut, gut, Aida... Also, Ikari, ich wollte dir sagen, daß es mir leid tut. Ähm...\"

\"Toji, das hatten wir doch geübt!\"

\"Okay, okay, nerv nicht! - Ikari, ich möchte mich bei dir entschuldigen... Ich habe dich ge-schlagen, ohne nachzudenken...\"

\"Das passiert ihm öfters.\"

\"Schnauze, Kensuke! - Also, ich wollte nur... ich war so wütend wegen meiner Schwester und...\"

Shinji nickte. Das hatte er ja schon gewußt.
\"Ist schon in Ordnung.\"

\"Und ich... Häh? Schon in Ordnung?\"

\"Ja, kein Problem.\"

\"Nein, nein. Ich schulde dir \'was.\"
Er baute sich vor Shinji auf, reckte das Kinn vor.
\"Verpaß mir eins, schlag zu, so hart wie du kannst.\"

Shinji starrte ihn an.
\"Nein.\"

\"Was? So eine Gelegenheit gebe ich dir nie wieder!\"

\"Ich find\'s ganz gut, wenn du in meiner Schuld stehst.\" erklärte Shinji, ging an den beiden vor-bei und grinste dabei über das ganze Gesicht.

\"Argh! Das darf doch nicht wahr sein!\"

Leise lachend marschierte Shinji auf den Apartmentkomplex zu, wo er jetzt wohnte.

Neben ihm hielt mit quietschenden Reifen ein Wagen.
Noch bevor er den blauen Sportwagen richtig erkannt hatte, war ihm schon der Name seiner Mitbewohnerin durch den Kopf geschossen - solche Bremsmanöver führte nur eine Person in Tokio-3 aus, die er kannte.

\"Hallo, Misato!\"

\"Shinji, du bist ja richtig guter Dinge. Spring rein, Ritsuko will ein paar Synchronisationstests machen.\"

\"Muß das sein?\"
Seine gute Laune verflog langsam.

Misato zuckte mit den Schultern.

\"In der Frage ist sie höherrangiger als ich.\"

\"Ja.\"
Das war der Deal, den er mit Misato geschlossen hatte. Damit man ihm erlaubt, in Tokio-3 zu bleiben, würde er im Gegenzug als Pilot von Einheit-01 zur Verfügung stehen. Aber deshalb mußte es ihm noch lange keinen Spaß machen...
\"Ich bringe nur schnell die Einkäufe nach oben.\"

Sie sah auf die Uhr.
\"Keine Zeit, pack die Sachen auf die Rückbank.\"

Toji und Kensuke schlossen zu ihm auf.
\"Hey, Ikari, ist das deine Mutter? - Guten Tag, Frau Ikari!\"

\"Nein, nein, Toji, dazu ist sie nicht alt genug, sicher seine Schwester! - Hallo!\"

Misato lachte.
\"Weder noch. Hallo, Jungs, ihr seid doch die beiden von gestern, oder?\"

\"Äh?\"

\"In der Steuerkapsel.\"

\"Uh, ja.\" - \"Gehören Sie auch zu NERV?\"

\"Ja. Aida, stimmt\'s? Ich bin Captain Misato Katsuragi, Shinjis Mitbewohnerin.\"

\"Mit\" - \"Be\" - \"Woh\" - \"Ne\" - \"Rin?\"
Die beiden starrten Shinji an.
\"Ikari, stimmt das?\"

\"Uhm, ja.\"

\"Wahnsinn\", flüsterte Kensuke. \"Öh, also, ich bin Kensuke. Und das ist Toji.\"

\"Hi!\" Suzuhara grinste über das ganze Gesicht.

\"Tja, Jungs, hat mich gefreut, euch kennenzulernen, aber wir müssen los. - Shinji?\"

\"Äh, ja.\"
Wie geheißen stellte er die Tüten auf die Rückbank, besann sich dann eines besseren und ver-staute sie im Fußraum, damit sie Misatos Fahrstil überlebten, bevor er sich auf dem Beifahrer-sitz niederließ.

Misato winkte noch einmal und fuhr dann an.

\"Wahnsinn!\" erklärte Toji.

\"Ja, heiße Braut.\"

\"Und die beiden wohnen zusammen. Verdammter Glückspilz, dieser Ikari!\"

\"Und einen heißen Wagen hat sie.\"

\"Häh? Darauf habe ich gar nicht geachtet.\"

\"Verdammter Glückspilz...\"


*** NGE ***


Rei Ayanami humpelte den Korridor zwischen dem Hangar-Areal und dem Haupteingang ent-lang, sie hatte die Nacht in einem der selten benutzten Bereitschaftsräume verbracht. Und am Morgen war ihr, als sie das Hauptquartier verlassen wollte, Doktor Akagi über den Weg gelau-fen, die sie sogleich zu einer Reihe von Tests abkommandiert hatte.
Sie hatte damit gerechnet, mit EVA-01 getestet zu werden, dem besten EVANGELION, über den NERV im Augenblick verfügte, doch dies war nicht geschehen.
Auf ihre Frage hin hatte der Doktor ihr mitgeteilt, daß Ikari-kun zu NERV zurückgekehrt war - und sich dann gewundert, daß Reis Synch-Ratio einen plötzlichen Sprung von 0,6 Punkten gemacht hatte.
Das Mädchen ließ es sich nicht anmerken, doch die Tatsache, daß der Captain es geschafft hat-te, Ikari-kun zurückzuholen, erzeugte bei ihm ein seltsames Gefühl von Zufriedenheit, wie sie es zuvor selten verspürt hatte.
Ikari-kun hatte die Stadt nicht verlassen... er hatte sie nicht zurückgelassen... sie war nicht al-lein...
Jetzt fühlte sie sich wieder in der Lage heimzugehen.
Durch den Haupteingang kam ihr der Captain entgegen.
Ikari-kun war bei ihr.

Die beiden Teenager blieben stehen, musterten einander.

\"Du bist also zurück.\" stellte Rei fest. Ihre Stimme verriet nicht, daß sie sich innerlich ganz un-ruhig fühlte. Warum schlug ihr Herz schneller? War sie krank? Dabei war sie noch nie krank gewesen. Und die Symptome entsprachen keiner ihr bekannten Krankheit.

\"Uhm, ja, Ayanami.\"

\"Ich dachte, du wärst gegangen.\"

\"Ich... ahm... nein, ich habe es mir anders überlegt.\"

\"Gut. Sonst hätte ich EVA-01 übernommen.\"
Sie setzte sich wieder in Bewegung, humpelte an ihnen vorbei.

\"Aya... Ayanami...\"

\"Ja?\"
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

\"Dein Fuß - wie geht es dir?\"

Er hatte sich nach ihrem Zustand erkundigt, obwohl ihm ihre Funktionsfähigkeit egal sein konnte, schließlich war er der Pilot von EVA-01, von dem alles abhing, und damit vielleicht der einzige Mensch, dem es hätte egal sein können, ob sie funktionierte... Ihre Gedanken be-wegten sich im Kreis.
Was sollte sie antworten?
- Die Wahrheit...
\"Das heilt.\"
Und damit ging sie.

\"Misato... Hat Ayanami etwas gegen mich?\"

\"Nein, Shinji-kun... Ich glaube, sie ist zu jedem so. Wahrscheinlich hat sie nie gelernt zu lä-cheln...\"

Er sah noch einmal über die Schulter, doch das schwere Tor hatte sich bereits wieder geschlos-sen.

\"Aber, Shinji-kun...\"

\"Ja, Misato?\"

\"Sie hat eben mit dir mehr Worte gewechselt, als bei jeder anderen Gelegenheit, die ich beo-bachtet habe. Vielleicht mag sie dich sogar.\"

\"Ahm...\"

Misato fuhr ihm neckend durchs Haar.
\"Du Frauenheld, du!\"

Er lief tiefrot an.
\"Misato!\"

Sie lachte.
\"Komm jetzt, suchen wir Ritsuko.\"


*** NGE ***


Der EVA-Hangar war riesig, und er war nicht der einzige Raum dieser Größe im Hauptquar-tier. Überhaupt schien die ganze Anlage für Riesen gebaut worden zu sein.
In Shinjis Augen leuchtete es durchaus ein, daß NERV seine Kommandozentrale unterirdisch in der Geofront errichtet hatte, ein Engel hätte das Hauptquartier wahrscheinlich mit ein paar einfachen Schlägen gegen tragende Pfeiler zum Einsturz bringen können.

Dennoch hatte er nicht mit dem gerechnet, was sie schließlich in der Halle, in welcher sie end-lich Ritsuko Akagi antrafen, ebenfalls vorfanden.

In der Halle befand sich der Leichnam des Engels, den er am Vortag besiegt hatte, er mußte während der Nacht vom Kampfplatz ins Hauptquartier gebracht worden sein, wo er jetzt von Wissenschaftlern untersucht wurde, die im Vergleich zu ihm wie Ameisen wirkten.
Und es stank in der Halle.
Die Belüftungsanlage, deren Dröhnen die Halle erfüllte, schien mit dem Gestank überfordert zu sein.
Es roch nach Tod.

Ritsuko Akagi stand auf einem Laufsteg in gut fünf Metern Höhe und machte sich Notizen, sie trug einen Schutzhelm und ein Headset, wahrscheinlich bekam sie von den wissenschaftlichen Teams Informationen, die sie sogleich verwertete.
Neben ihr stand ihre Assistentin, Maya Ibuki mit einem Laptop.

\"Hier.\"
Misato reichte ihm einen Helm von einem Tisch neben dem Eingang.

\"Wozu?\" fragte er laut, um die Belüftungsanlage zu übertönen.

Sie zuckte mit den Schultern.
\"Sicherheitsbestimmungen. Obwohl Gasmasken wohl angebrachter wären.\"

Ohne Widerrede ließ er sich von ihr den Helm aufsetzen, dann stiegen sie die Metalltreppe hin-auf.

\"Du bist also wirklich zurückgekommen.\" wurde Shinji von Ritsuko Akagi begrüßt, während ihre Assistenten ein \"Hallo\" und ein kurzes freundliches Lächeln für ihn übrig hatte, bevor sie sich wieder ihrem Computer zuwandte.

Shinji entschied sich, nicht näher darauf einzugehen.
\"Das ist also der Engel, den ich besiegt habe.\"

\"Ja. Er ist bereits in einen Verwesungszustand übergegangen, daher der Gestank.\"

\"Und ich dachte, du hättest wieder mit dem LCL experimentiert\", versuchte Misato zu scher-zen, was ihr allerdings nur einen bösen Blick von Ritsuko und Maya einbrachte, letztere konnte es nicht ausstehen, wenn jemand an ihrer Chefin Kritik übte.
Misato tat, als hätte sie es nicht bemerkt, drehte dann den Kopf und verdrehte die Augen.
Daß Ritsuko aber auch überhaupt keinen Spaß verstand! Aber so war sie schon auf der Uni ge-wesen...
\"Was macht ihr gerade?\"

\"Maya, erklär\'s ihr!\" forderte Akagi ihre Assistentin auf.

Ibuki war höchstens zwanzig, sie trug einen der NERV-Standard-Overalls.
\"Äh ja, ich habe eine Direktverbindung zu den drei MAGI-Computereinheiten, welche als un-ser Hauptsystem fungieren. Sie sind gerade mit der Analyse der Gewebeproben beschäftigt, die wir dem Engel entnommen haben.\"

\"Und?\"

\"Das Gewebe, aus dem der Engel besteht, entzieht sich jeder uns möglichen Analyse.\"

\"Toll. Und dafür der ganze Aufwand? Das sind Aliens, sollte eigentlich klar sein, daß wir sie nicht verstehen können.\"

\"Nicht ganz, wir...\"
Ibuki blickte Akagi fragend an.

Diese übernahm.
\"Eine Gewebeprobe aus der äußersten Schicht des Herzens hat ergeben, daß sein genetisches Muster dem menschlichen zu 99,89% entspricht.\"

\"99,89%? Das ist recht viel... Hm, das Viech hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit uns... Mo-ment mal, Ritsuko, die Zahl kommt mir bekannt vor...\"
Vor ihrem geistigen Auge sah sie die beiden EVANGELION-Einheiten.
\"Genau wie bei den EVAs...\"

\"Korrekt, Misato.\"

\"Warte mal... Du hast mir nie gesagt, woraus du sie gezüchnet hast... irgendwas mußte noch das Grundmaterial gewesen sein, ich dachte bisher immer, du hast menschliche Zellen modifi-ziert oder so... oder die eines Primaten... Ritsuko, du hast doch nicht...\"

Akagi sah sie an, schüttelte hastig den Kopf, machte eine Geste, sie solle schweigen.
\"Misato, das unterliegt oberster Geheimhaltungsstufe! Stell keine Fragen in diese Richtung.\"
Dabei schielte sie schräg nach unten.

Misato folgte ihrem Blick.
\"Kommandant Ikari...\"

Shinji, der das Gespräch der beiden Frauen nicht verfolgt, sondern lieber das Gewusel in der Halle beobachtet hatte, froh, daß sein Aufenthalt im EntryPlug noch etwas hinausgeschoben worden war, hatte das Eintreffen seines Vaters schon vorher bemerkt, aber geschwiegen.

Gendo Ikari hatte die Halle betreten und im selben Moment schien die Temperatur um mehrere Grad zu fallen, als seine Gegenwart bemerkt wurde.
Er sah kurz zu dem Laufsteg hinauf, beachtete seinen Sohn aber nicht, ließ sich nicht einmal anmerken, ihn überhaupt gesehen zu haben, ebensowenig wie er sich anmerken ließ, ob ihn der starke Verwesungsgestank störte oder nicht.
Sein ganzes Interesse schien einem fleckigen zusammengefallenen sackähnlichen Objekt zu gel-ten, welches sich auf der Ladefläche eines Transporters befand.
\"Das ist also sein Herz...\" murmelte Ikari.

\"Ja, Sir.\" bestätigte einer der Wissenschaftler.

Sein Kopf schoß herum, die Augen hinter den dunklen Brillengläsern fixierten den Mann, jag-ten ihm eine Heidenangst ein.
\"Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen.\"

Der andere nickte hastig und entfernte sich.

Der ältere Ikari zog seine Handschuhe aus und strich über die Oberfläche des Objektes.
Seine Handinnenflächen waren von hellen Narben überzogen... wie von Verbrennungen...

Shinji kniff die Augen zusammen.
\"Misato?\"

\"Ja?\"

\"Hat Vater sich die Hände verbrannt?\"

Katsuragi nickte.
\"Das ganze passierte vor etwas über einem Monat beim ersten Komplett-Aktivierungstest von EVA-00. Ich war damals noch nicht in Tokio-3 - ich bin selbst erst vor gut vier Wochen ins Hauptquartier versetzt worden. Aber Ritsuko war dabei.\"

Akagi blickte von ihren Notizen auf, als ihr Name fiel.
\"Hm?\"

\"Könntest du Shinji erzählen, was beim ersten Aktivierungstest von Einheit-00 geschehen ist?\"

\"Na gut. Alles fing ganz normal an - der DummyPlug wurde eingeführt, alle Systeme waren online, der ganze Prozeß halt. Nur daß der EVA erstmalig nicht von Halteklammern gefesselt wurde, sondern sich frei bewegen konnte. Rei schien alles unter Kontrolle zu haben, ihr Syn-chronwert erreichte schnell den üblichen Wert. Doch als wir den EVA über das Kabel mit ex-terner Energie zu versorgen begannen, drehte er plötzlich durch und begann, auf die Wände einzuschlagen. Der Notabschaltbefehl wurde ignoriert, worauf wir die Energieversorgung trennten. Die Ladung in den internen Akkus reichte nur für zwei Minuten, aber diese Zeit ge-nügte EVA-00, um das Test-Areal in Trümmer zu legen - wir sind dann in die neuen Räume umgezogen. In dieser Zeit wurde die Bakelit-Versiegelung eingeleitet, so daß der EVA am En-de bis zu den Knien quasi einbetoniert war.\"

\"Und Rei, vergiß Rei nicht.\" warf Misato ein.

Akagis Gesicht verdunkelte sich.
\"Wie könnte ich sie vergessen.\"
Es klang nicht ironisch, eher wie ein versteckter Fluch.
\"Das First Children aktivierte auf Befehl des Kommandanten die manuelle Notevakuierung des Plugs, allerdings reichte der Platz im alten Testcenter nicht, daß der Plug in sicherer Entfer-nung landen konnte, vielmehr schoß er wie eine Billiardkugel durch die Halle.\"

\"Und, ah, Ayanami?\"

\"Gleich, Shinji. Was sind ihr alle ungeduldig, muß wohl Misatos schlechter Einfluß sein.\"

\"Hey!\" beschwerte sich diese.

\"Gut, gut. Der Plug landete schließlich in einer Ecke des Areals. Kaum stand EVA-00 still, stürmte Kommandant Ikari aus dem Kommandoraum und zum Plug, wo er die glühendheiße Einstiegsluke mit bloßen Händen öffnete, statt auf die Profis zu warten. Daher rühren die Nar-ben. Rei hatte es übel durchgeschüttelt, der Mensch ist nicht dafür gemacht, mit zweihundert Stundenkilometern durch die Gegend geschleudert zu werden, selbst Rei nicht. Aber was sagte sie, als Ikari sie fragte, ob sie in Ordnung wäre? - \'Ja\'. Sie sagte \'ja\'. Schweres Schleuder-trauma, Gehirnerschütterung, innere Blutungen, gebrochene Knochen, aber sie sagt einfach \'ja\', weil sie ihn nicht irgendwie enttäuschen will.\"
Ritsuko schüttelte nur noch den Kopf.

\"Vater hat sie also gerettet?\"
Shinji versuchte, sich den Vorgang in Gedanken vorzustellen, doch es gelang ihm nicht, seinen Vater in den Handlungsablauf einzubringen, der Mann, welcher die Luke aufbrach, blieb ein gesichtloser Fremder.

\"Naja, die paar Sekunden, die er eher vor Ort war, hätten nun auch keinen Unterschied mehr gemacht.\"

\"Ritsuko, du bist furchtbar!\"

\"Und? - So, Shinji, hier gibt es nichts mehr zu sehen, laß uns die Tests durchführen...\"


*** NGE ***


Neben dem Frachthubschrauber stand ein Mann in einer abgewetzten Lederjacke.

Larsen stieg aus dem Jeep und ging zu dem anderen hinüber.
\"Lange her, Sergej.\" rief er auf Russisch.

\"Ja, Gospodin\", lachte der andere, wurde aber todernst, als er die blankliegenden stählernen Kieferknochen sah.
\"Ich hatte ja gehört, daß es Sie während des Impact übel erwischt hätte, aber das...\"

\"Kein Grund zur Aufregung. Danke, daß Sie gekommen sind.\"

\"Hach, natürlich bin ich sofort gekommen, als ich Ihre Nachricht erhalten hatte. Ihre Freunde sind recht schweigsam.\"

Larsen musterte den anderen.
Sergej Roshenkov hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Gegen Ende des Kalten Krieges hatten er und der Mann vom damals noch existierenden KGB öfters die Klingen gekreuzt, spä-ter mehrfach zusammengearbeitet. Nur einige dumme Zufälle in der beidseitigen Terminpla-nung hatten vereitelt, daß der Russe sein Trauzeuge gewesen war.
\"Ich benötige Ihre Hilfe, Sergej.\"

\"Deshalb bin ich hier, mein Freund. Wir haben uns gegenseitig Kugel um die Ohren gejagt und wir haben einander den Rücken gedeckt, wie könnte ich Ihnen da meine Hilfe verweigern?!\"

\"Danke. Könnten Sie mich und meine Leute hier wegbringen?\"

\"Kein Problem, wohin soll\'s gehen?\"

\"Zunächst einmal zurück in die Zivilisation. Ich benötige einen Mechaniker und einen Arzt.\"

\"Oi... Gut, kein Problem. Was noch?\"

\"Sergej, ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen - ich stehe derzeit auf der Vermißtenliste meines Dienstes, ebenso mein Team. Wir müssen untertauchen.\"

\"Alles kein Problem. Falsche Pässe - besorge ich. Kleidung, Waffen, Geld - kann ich alles orga-nisieren, ich weiß, daß Sie mich nicht hängenlassen mit der Rechnung.\"

\"Nein, natürlich nicht.\"

\"Also, worum geht es?\"

\"Eine Verschwörung auf höchster Ebene. Haben Sie schon einmal etwas von einer Gruppe na-mens SEELE gehört?\"

\"Heilige Madonna... man munkelt einiges in Agentenkreisen. Mächtige Leute, sehr mächtige Leute. Sie haben direkt in ein Wespennest gestochen. Naja, rufen Sie Ihre Leute zusammen, ich fliege Sie alle ersteinmal hier \'raus.\"


*** NGE ***


Vier Flugstunden und einen Nachmittag bei einem Arzt, der Larsens Verletzungen behandelte, später saß die Gruppe zusammen in einer Hotelsuite.
Larsen verteilte mehrere Stapel Papiere an die Mitglieder seines Teams.
\"Jeder von Ihnen wird sich um ein Mitglied der SEELE-Gruppe kümmern. Ihre Mission be-steht darin, der Zielperson so nahe wie möglich zu kommen. Führen Sie aber keine weiteren Aktionen aus, sondern warten Sie meine Anweisungen ab. Ich werde mich zurück ins Haupt-quartier begeben und Direktor Cedrick ausschalten, so daß ODIN SEELEs direkten Zugriff entzogen wird. So ich Erfolg habe, kann ich Ihnen dann weitere Unterstützung zukommen las-sen, wenn ich mich allerdings nicht binnen drei Wochen melde, brechen Sie Ihre Observationen ab und tauchen unter.\"
Niemand widersprach ihm.
\"Ich habe hier die fünf Personen, welche innerhalb der Verschwörung den größten Einfluß aus-üben: Lorenz Keel, Eigner von Keel Industries...\"

Die erste Akte wechselte den Besitzer.
\"Chen Li-Tsu, der ewige zweite Mann im Politbüro der Volksrepublik China.\"
Eine Agentin nahm die Akte in Empfang.
\"Kardinal Gaius Vinzenzo, die rechte Hand des Papstes. Francois Gellefair, der französische Außenminister. Scheich Abu Said Mustaffah, Öl-Milliardär.\"

\"Larsen, wenn Sie alle diese Männer töten lassen, hat das ein Chaos zur Folge... die Weltwirt-schaft...\"

Er nickte ob des Einwurfes des Russen.
\"Genau deshalb müssen wir Schritt für Schritt vorgehen...\"
Dann blickte er auf die letzten beiden Akten in seiner Hand, die enthielt Informationen über ODIN-Direktor Wilforth F. Cedrick, die andere über Gendo Ikari, den Kommandanten der UN-Organisation NERV...


*** NGE ***


Die Tage gingen ins Land.
Für Shinji stellte sich langsam Routine ein, vormittags ging er zur Schule, während es an jedem zweiten Nachmittag im Wechsel mit Ayanami im Testcenter anzutreten hieß, um Synchronisa-tionsübungen durchzuführen, um Waffentraining zu absolvieren, um Unterricht in Taktiken und Strategien zu erhalten und um sich genau mit den Funktionen des EVAs auseinanderzusetzen.
Auch im Kontakt mit Rei Ayanami stellte sich eine Art von Routine ein, die morgentliche Be-grüßung bestand aus einem stummen Nicken, das gleiche, wenn sie mittags in verschiedene Richtungen das Schulgelände verließen.
Mit der Zeit heilten auch Rei Ayanamis Verletzungen ab, anfangs war es nur die Kopfbandage, die sie nicht mehr trug, sondern sich auf ein großes mit Pflastern über dem Auge befestigtes Stück Verbandsmull beschränkte, dann die Krücke, schließlich der Verband um ihren Arm.
So sehr Shinji auch den inneren Drang verspürte, sich mit Rei zu unterhalten, welche vergli-chen mit ihm sich viel besser mit den EVAs auskannte, und die auch einen anscheinend viel besseren Kontakt zu seinem Vater besaß als er, er verspürte stets Hemmungen, sie anzuspre-chen. Und sie selbst begann auch kein Gespräch, obwohl es ihr ähnlich ging...

Eines Tages, gute drei Wochen nach seiner Ankunft in Tokio-3, beobachtete Shinji von der ausfahrbaren Wartungsbrücke aus, welche EVA-01 zu diesem Zeitpunkt auf Schulterhöhe um-gab, wie Ayanami den ausgefahrenen EntryPlug von EVA-00 inspizierte.
Natürlich, morgen waren die Reaktivierungstests für Einheit-00, wahrscheinlich wollte sie ganz sicher gehen, daß alles stimmte.
Und ihre PlugSuit paßte ihr wie angegossen, betonte ihre Figur, daß es eine Freude war, ihr zuzusehen. Zugleich schämte er sich ein wenig, daß er sie einfach anstarrte. Jede ihrer Bewe-gungen schien zugleich durchdacht und elegant.

Dann tauchte sein Vater im Hangar auf und gesellte sich zu Ayanami, welche sofort ihre Arbeit unterbrach. Die beiden unterhielten sich miteinander, doch Shinji konnte nicht hören, worum es ging. Allerdings konnte er sehen, wie sein Vater kurz zu lächeln schien.
In diesem Moment stach die Eifersucht wie ein glühendes Messer in sein Herz.
Warum sah er sie so an, weshalb konnte er ihn, seinen eigenen Sohn nicht so ansehen, oder we-nigstens mit ihm sprechen...
Mit hängendem Kopf verließ er den Hangar und gab sich den Rest des Tages seinen Depressio-nen hin.
Kapitel 12 - Peinlichkeiten Erster Güte

Der junge Ikari sah nach oben, er hockte am Rande der Laufbahn des Sportplatzes der Schule, sein Blick galt allerdings dem höhergelegenen Schwimmbecken, wo sich die Mädchen der Klasse 2-A aufhielten, während die Jungs Lauftraining hatten.
Ein Maschendrahtzaun trennte das etwa höhergelegene Gelände vom Rest des Sportplatzes.
Dort oben tummelten sich seine Mitschülerinnen in ihren Badeanzügen.
Doch seine Aufmerksamkeit galt nur dem blaßhäutigen Mädchen, welches mit dem Rücken ge-gen den Zaun lehnte, und gar nicht dazuzugehören schien.
Was sie wohl dachte?
Ob sie Angst hatte? - Immerhin stand heute für den späten Nachmittag der Reaktivierungstest von EVA-00 an. Und beim letzten Mal war sie ziemlich übel verletzt worden.
Obwohl Shinji nicht ganz nachvollziehen konnte, weshalb sie über bessere Heilkräfte verfügte als anderen Menschen, hatte er doch gesehen, in welchem Zustand sie sich bei ihrer ersten Be-gegnung befunden hatte - und soetwas sollte seiner Ansicht nach niemand durchmachen müs-sen.
Doch jetzt war von ihren Verletzungen nichts mehr zu sehen, sogar die Narbe unter ihrem Au-ge war während der letzten Woche, nachdem sie auch das große Pflaster entfernt hatte, von Tag zu Tag heller geworden, bis sie nicht einmal mehr zu erahnen war.
Ob sie wohl bemerkt hatte, wie er sie immer genau angesehen hatte?
Ayanami ließ sich nicht anmerken, ob sie Angst hatte, ob sie nervös war, oder ob sie überhaupt mental anwesend war, sie hockte nur dort oben, den Rücken gegen den Draht gelehnt, die Bei-ne - lange wohlgeformte Beine - angezogen...
Erstmals wurde ihm bewußt, daß sie von einer engelhaften Schönheit war. Sie war der erste Mensch mit blauem Haar, den er kennengelernt hatte. Ihr Körper machte einen kräftigen durchtrainierten Eindruck...

Und dann drehte Ayanami den Kopf und begegnete seinem Blick...

Ikari-kun sah sie an.
Warum starrte er sie so an?
Sie fühlte seinen Blick heiß auf ihrer Haut.
Und worauf starrte er? Ihren Busen? Ihre Beine?
Sah er in ihr doch nur ein Objekt?
Der Kommandant hatte sie am Vortag vor seinem Sohn gewarnt, er war nicht vertrauenswür-dig, auf ihn war kein Verlaß.
Aber er hatte doch gegen die Engel gekämpft und gesiegt... und er war zurückgekommen...
Sollte sich der Kommandant irren? Oder... hatte er sie vielleicht belogen?
Nein, das konnte nicht sein, der Kommandant würde sie nie belügen...

\"Eh, Ikari, wo schaust du denn hin?\"

Shinji zuckte zusammen, fühlte sich ertappt.
Toji hatte sich an ihn herangeschlichen, legte ihm jetzt kumpelhaft einen Arm um die Schultern und lümmelte sich dabei halb auf ihn.

\"Na, sag schon? Ja, unter unseren Mädchen sind schon ein paar ganz ansehnliche, was? Ruri da drüben, die hat doch mächtig Holz vor der Hütte, oder? Oder unsere Klassensprecherin, klasse Beine, nicht?\"

\"Äh...\"

\"Aber... ach so... Ayanami... na, was gefällt dir am besten an ihr? Diese hellen straffen Schen-kel?\"

\"Das... das ist es nicht.\"

\"Ach. Und das soll ich dir jetzt glauben?\"

\"Äh, ja.\"

Suzuhara verdrehte die Augen.
\"Himmel, das macht wirklich keinen Spaß. Was für ein Kerl bist du eigentlich?\"

\"Uhm...\"

\"Schon gut, schon gut, ich mache doch nur Spaß, Kumpel. Na, soll ich dir helfen?\"

\"Was? Wie? Äh...\"

\"Ich könnte dir ein paar Tips geben, wenn es um Schnecken geht. Oder soll ich ein bißchen nachhelfen und euch beide zusammenbringen?\"

Shinji hob abwehrend die Hände.
Irgendwie war ihm Suzuhara lieber gewesen, als er ihm noch eine scheuern wollte, anstatt plötzlich sein bester Kumpel zu sein.
\"Es ist wirklich nicht so.\"

\"Ach, stimmt ja, du wohnst ja mit dieser tollen Braut zusammen. Mensch, ich beneide dich, Al-ter, das glaubst du nicht!\"

\"Misato ist nicht... ich wohne nur bei ihr. Uhm, außerdem ist sie meine Vorgesetzte...\"

\"Ja, so eine Vorgesetzte hätte ich auch gerne. Aber sie scheint dir ja nicht zu reichen, so wie du Ayanami die ganze Zeit schon ansiehst.\"

\"Toji, bitte...\"
Dem größeren Jungen schien es einen unglaublichen Spaß zu machen, ihn aufzuziehen. Als Shinji wieder nach oben sah, war Ayanami vom Zaun verschwunden.
Er verspürte Bedauern, wieder eine verpaßte Gelegenheit...


*** NGE ***


Diesen Nachmittag standen keine Tests auf dem Programm, schließlich waren heute die Reak-tivierungstests für EVA-00.
Misato hatte Frühschicht gehabt, als Shinji heimkam, war sie selbst gerade zurückgekommen und stand unter der Dusche, wie ihm die achtlos hingeschleuderten Schuhe und das Wasserrau-schen verrieten.
Er sah sich um, ob sie in der kurzen Zeit es wieder geschafft hatte, ein heilloses Chaos anzu-stellen, dies schien zu ihren am stärksten ausgeprägten Talenten zu gehören.
Seufzend hob er ihr Uniformjackett auf und hängte es ordentlich über die Stuhllehne, wo es heruntergefallen zu sein schien, dann schaute er in den Vorratsschrank, was er kochen könnte.
Natürlich hatte er darüber schon mehrmals an diesem Tag nachgedacht und war in Gedanken die Vorräte durchgegangen.

PenPen lugte aus seinem Kühlschrank und sah ihn erwartungsvoll an.

Shinji konnte sich an den Vogel einfach nicht gewöhnen.
Ein Wellensittich, das war ein normales Haustier, oder ein Papagei, ein Hund oder eine Katze.
Aber ein Pinguin?
\"Ja, ja, du kriegst gleich \'was.\"

Die Badezimmertür wurde zugeschlagen, als Misato aus dem Bad kam und sie hinter sich zu-kickte. Sie trug Jeansshorts und ein recht knappes Top, welches bei Shinji starke Schweißaus-brüche hervorrief.
Obwohl er sich bemühte, sich auf das Essen zu konzentrieren, fing er in Gedanken an, Misatos körperliche Vorzüge mit denen anderer weiblicher Personen zu vergleichen, die er in den letz-ten Wochen kennengelernt hatte.
Ob Ayanami wohl...
Er schluckte. Das war keine Art, wie er von ihr oder Misato denken sollte...

\"Ah, Shinji, du bist ja schon da.\"
Sie grinste ihn an und ging, ein Handtuch um die Schultern, in ihren Raum, nur um sogleich wieder zurückzukommen.
\"Ich habe da \'was für dich.\"

\"Hm?\"

\"Hier.\"
Sie hielt ihm eine ID-Card mit seinem Bild unter die Nase.
\"Deine neue Security Card.\"

\"Ähm, danke.\"

\"Das System wurde umgestellt. Mit den alten Karten kommt ihr nicht mal mehr in den Zug. Ach ja, und die hier auch - Reis neue Karte, Ritsuko hat vergessen, sie ihr zu geben, könntest du sie ihr vielleicht nach dem Essen vorbeibringen? Sonst wird nichts aus dem Test heute abend - und der wiederum ist der Grund dafür, daß ich heute Doppelschicht schieben darf und sie ihr nicht selbst vorbeibringen kann. Du tust mir doch sicher den Gefallen, oder?\"

\"Uhm...\"
Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde.
Er sollte bei Ayanami vorbeigehen? Er wußte doch gar nicht, wo sie wohnte. Und unangemel-det bei einem Mädchen vorbeizugehen, das schickte sich doch nicht...
Trotzdem konnte er nicht anders, als ihr Bild anzusehen.
Ihre Augen waren so leer, so nichtssagend, ihr Gesicht auf dem Foto verriet kein Gefühl.
Wie konnte ein Mensch einen derart leeren Blick haben...
Er hatte sie am Tag seiner Ankunft gesehen, als sie verletzt auf der Rollliege gelegen hatte, als er sie festgehalten hatte. Da war etwas anderes in ihrem Blick gewesen - Schmerz, aber auch eine stumme Bitte nach Hilfe.

\"Hui, Shinji, du wirst ja knallrot, was hast du denn auf einmal?\"

\"Ah... ich... nichts...\"

\"Du bist du nicht etwa verliebt?! Hm, Rei ist eigentlich ein ganz nettes Mädchen, immer folg-sam, gibt keine Widerworte, zuverlässig...\"

\"Misato... sie ist doch keine Sache... ähm... und außerdem... außerdem liegst du ganz falsch... uhm, ich kenne sie doch kaum... und... ah... ich weiß gar nicht, wo sie wohnt... und... uh... kannst du sie nicht anrufen und... und ihr Bescheid sagen?\"
Er stammelte sich etwas zugleich, wie sie nur auf solch eine Idee kommen konnte. Sicher, er hatte zu Ayanami einen wahrscheinlich viel besseren Draht als seine und ihre Mitschüler, und sicher, er wollte nicht, daß sie zu Schaden kam, und sicher, sie sah toll aus, aber weshalb kam Misato nur auf eine solche Idee...

Misato lachte.
\"In ihrem Wohnblock ist der Handy-Empfang gestört - deshalb auch das neue Sicherheitssys-tem. Ich gebe dir noch schnell die Adresse, bring ihr nur die Karte bis sechzehn Uhr vorbei.\"

Wie konnte sie das nur von ihm verlangen, er hatte noch nie einen Mitschüler zuhause besucht, weder in Tokio-3 noch vorher , und erst recht keine Mitschülerin... auf soetwas wurde man von niemandem vorbereitet, das war etwas ganz anderes, als einen EVANGELION zu steuern...


*** NGE ***


Eine Stunde später befand er sich in einem Bezirk von Tokio-3, der ihm den ersten Eindruck vermittelte, dort vielleicht während eines der beiden Kämpfe mit EVA-01 hindurchgetobt zu sein.
Die Gebäude um ihn herum befanden sich in verschiedenen Baustadien, Konstruktionslärm von Preßlufthämmern und Sägen war ebenso allgegenwärtig wie Motorengeräusche.
Er blickte an einem verwahrlost erscheinenden Gebäude hinauf, vor dem sich die Müllsäcke stapelten.
Rasch verglich er die Adresse mit jener auf dem Zettel, den Misato ihm geschrieben hatte, bei-de stimmten überein.

Er suchte auf dem Klingelschild Ayanamis Namen, fand ihn, drückte den Klingelknopf.
Nichts geschah, aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage kam nur ein dumpfes Brummen.
Die Haustür war nur angelehnt.
Shinji überlegte.
Vielleicht war Ayanami gar nicht da, vielleicht war sie bereits zum Hauptquartier unterwegs... wäre es dann nicht besser, wenn er versuchte, so schnell wie möglich selbst dorthin zu kom-men, um ihr die Karte zu bringen? Bestimmt stand sie schon vor dem Haupttor und fragte sich, weshalb ihre alte Karte nicht funktionierte...
Und wenn sie nicht zum Hauptquartier unterwegs war?
Vielleicht war sie auch einkaufen, auch wenn ihm keine Läden in der Nähe aufgefallen waren, dann würde er sie verpassen und...
Er seufzte.
Am besten versuchte er es noch einmal an der Türklingel ihres Apartments, wenn sie nicht da war, konnte er ihr eine Nachricht hinterlassen und am Zugang zur Geofront auf sie warten.
Je länger er über den Plan nachdachte, umso besser erschien ihm sein Einfall.

Das Treppenhaus war voller Abfall, um den Shinji vorsichtig herumnavigierte.
Dem Aufzug hatte er nicht mehr als einen kurzen Blick geschenkt, angesichts des Zustandes des Hauses funktionierte er wahrscheinlich gar nicht.

Vierter Stock... Apartment 402...

Auch hier war der Flur schmutzig und voller Abfall, einen Hausmeister gab es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht - oder vielleicht lag er auch unter dem ganzen Dreck...

Das Namensschild wies auf die Identität der Bewohnerin hin.
Ayanami... hier also lebte sie, ganz allein...
Wie es wohl sein mochte, sein ganzes Leben allein verbracht zu haben...
Er hatte wenigstens jemanden gehabt, der sich um ihn gekümmert hatte... aber irgendwo waren ihre und seine Kindheit vergleichbar...
Kindheit... als ob diese Zeit schon so lange zurücklag... als ob er nicht vierzehn, sondern vier-zig Jahre alt war... und doch, vielleicht war seine Kindheit in dem Moment zu Ende gegangen, als er das erste Mal in den EVA gestiegen war... oder vielleicht im Augenblick seiner Ankunft in Tokio-3...

Auch hier drückte er auf den Klingelknopf, doch er hörte keinen Ton aus der Wohnung, vor deren Tür er stand.
Die Klingelanlage mußte kaputt sein, auch dies war keine Überraschung.
Was ihn allerdings verwunderte, war die Tatsache, daß Ayanami dennoch hier wohnte, daß man sie hier wohnen ließ.
Es stellte alles auf den Kopf, was er bisher über das Verhältnis zwischen ihr und seinem Vater gefolgert hatte. Wenn sein Vater sie an Kindesstatt aufgenommen und erzogen hatte, wie konnte er sie dann allein in diesem Gebäude wohnen lassen... wahrscheinlich gab es hier Ratten von der Größe von Schäferhunden... von Küchenschaben und anderem Getier ganz zu schwei-gen! Wahrscheinlich hatte sein Vater bei ihr als Erziehungsperson genauso versagt, wie bei ihm selbst...
Noch einmal versuchte er es mit der Klingel, bevor er sich aufs Klopfen verlegte.
Die Tür schwang knarrend auf - sie war gar nicht geschlossen gewesen!
Shinji schluckte.

Vor ihm erstreckte sich ein kurzer dunkler Korridor, dahinter ein abgedunkeltes Zimmer, in dem er von seinem Standort aus nur Umrisse wahrnehmen konnte.
Die Wohnung entsprach der Bauweise, die vor dem Second Impact in den überbevölkerten Städten Japans verwandt worden war - nach dem Impact hatte es Platz genug gegeben, so daß man wieder großzügiger baute...
\"Ayanami?\" rief er leise, ohne Antwort zu erhalten. \"Uhm, Ayanami, bist du da?\"
Er trat über die Schwelle.
\"Ich bin\'s, Shinji... äh, ich komme jetzt rein... uhm, ich habe deine neue ID-Card, Misato hat mich geschickt...\"
Jetzt, drei Schritte tiefer in der Wohnung, konnte er schon besser sehen.
Die Einrichtung des Hauptraumes vor ihm bestand aus einem ungemachten Bett, einem kleinen Kühlschrank und einem Schränkchen mit mehreren Schubladen.
Der Boden war mit Papieren, Verpackungstüten und gebrauchtem Verbandszeug übersät, letzteres konzentrierte sich in einer Ecke zu einem Haufen.
Auf dem Bett lagen die Sachen, welche Ayanami üblicherweise trug - ihre Schuluniform -, da-vor stand ein Paar Schuhe.
Nur das Mädchen, welche diese Sachen üblicherweise trug, fehlte.
Von dem Raum ging eine offenstehende Tür ab, hinter der eine kleine Küche lag.
\"Ayanami?\" versuchte er es noch einmal.
Es war so finster in dem Raum, er befürchtete, über irgendetwas stolpern zu können.
Shinji trat mit einem großen Schritt zu dem breiten Fenster und öffnete die Jalousie einen Spaltbreit, so daß etwas mehr Licht hineinfiel, schließlich sollte Ayanami ihn erkennen, wenn sie plötzlich heimkommen sollte, schon damit sie ihn nicht für einen Einbrecher oder schlimme-res hielt.

Auf dem schmalen Schränkchen lag eine Brille in einem offenen Etui.
War das ihre? Hatte Ayanami eine Brille?
Er hatte sie noch nie damit gesehen... vielleicht benutzte sie normalerweise Kontaktlinsen...
Vorsichtig griff er nach dem Gestell und hob es an.
Irgendwie kam es ihm bekannt vor.
Die getönten Gläser waren gesplittert, das rechte fehlte größtenteils, der Rahmen selbst war mit Klebeband zusammengeflickt.
Da war ein kleiner Namensaufkleber an der Innenseite des einen Bügels - G. Ikari...
Die Brille seines Vaters...

Er hörte ein Geräusch, eine Tür, die geschlossen wurde...
Sicher war Ayanami zurück...
Shinji drehte sich um, die Brille immer noch in Händen.

Die Tür, die geschlossen worden war, war jene zur Küche gewesen - er hatte ja nicht wissen können, daß man von dort in das winzige Bad der Wohnung gelangen konnte.
Es war tatsächlich Ayanami, die dort stand und ihn ansah.
Ihr Gesichtsausdruck verriet einen Moment lang Überraschung.
Wahrscheinlich hätte Shinji einen Anflug von Genugtuung oder sogar Freude verspürt über dieses Anzeichen, daß es sich bei ihr um keinen gefühlslosen Roboter handelte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß ihre einzige Bekleidung aus Badelatschen und einem um die Schul-tern geschlungenen Handtuch bestand...

Shinjis Kinnlade klappte nach unten.
Er ließ die Brille fallen, sie fiel auf den Boden zwischen die Bandagen.
Aus seiner Kehle entrann ein leises Keuchen.
Ayanami war nackt... und Blau war ihre natürliche Haarfarbe...
Wie hatte er nur...
Was machte er denn...
Rasch wandte er den Blick ab.
Es schickte sich nicht, sie anzustarrten, war ohne jeden Respekt...
\"Tut... tut mir leid... ich wollte nicht... wollte nicht...\" stammelte er, die Augen vorsichtshalber mit dem Arm abschirmend, um nicht unabsichtlich einen weiteren Blick auf ihren alabasternen Körper zu erhaschen, ansonsten stand er da wie gelähmt.
\"Wirklich, das...\"

Einen Augenblick lang hatten sich ihre Augen geweitet, als sie die Brille fallen sah.
Sie ging an ihm vorbei, bückte sich nach der Brille, ergriff sie vorsichtig wie einen zerbrechli-chen Schatz.
Die Brille des Kommandanten, heruntergefallen, als er die heiße Luke aufgestemmt hatte, um sie aus dem EntryPlug zu holen, damals, nach dem fehlgeschlagenen ersten Aktivierungstest von EVA-00, zerbrochen auf dem harten Boden des alten Test-Areals in der Geofront... ihr einziger Schatz, ihr einziger Hinweis darauf, daß es Menschen gab, denen sie nicht völlig egal war...
Und Ikari-kun hatte sie fallengelassen...
Glücklicherweise war sie nicht noch stärker beschädigt worden...
Weshalb regte Ikari-kun sich derart auf? Gut, sie hatte ihn nicht hineingebeten, aber es würde schon einen wichtigen Grund geben, weshalb er sich in ihrer Wohnung aufhielt.
Rei richtete sich auf, um die Brille an ihren Platz im Etui zurückzulegen.

\"Ich... uh... ich habe nichts gesehen...\" stieß Shinji hervor.
Endlich wich die Lähmung aus seinen Gliedmaßen. Zugleich übernahm der Fluchtreflex.
Er mußte weg, mußte aus der Wohnung, es war nicht richtig, wenn er sich hier aufhielt, solan-ge sie nicht bekleidet war, war ihr gegenüber respektlos...
Doch schon der erste Schritt, den er tat, endete im Desaster, sah er in seinen Bemühungen, den Blick von ihr abgewandt zu halten, doch nicht, wohin er trat.
Im nächsten Moment verhakte sich sein Fuß schon mit dem ihren, er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit den Armen rudernd nach vorn. Dabei versuchte er noch Halt zu finden, fand ihn auch in etwas weichem, zugleich straffen und nachgiebigen. Doch auch dieser Halt gab nach...

Ikari-kun brachte sie genau in dem Moment zu Fall, als sie sich noch nicht ganz aufgerichtet hatte, sonst hätte sie wahrscheinlich ihr Gleichgewicht behalten können. Als er dann auch noch versuchte, sich an ihr festzuhalten, stürzte auch sie, fand sich schließlich am Boden liegend wieder mit seinem Gewicht auf ihr.

Shinji riß während des Sturzes die Augen weit auf.
Doch er schlug nicht hart auf, konnte den Fall mit den Händen abfangen.
Dann erkannte er, was er angerichtet hatte - er hatte Ayanami ebenfalls umgerissen, war auf ihr gelandet.
Wieder war er wie gelähmt.
Ihr Haar roch nach Shampoo, kein starker Geruch, nur ein Geruch nach Seife und Sauberkeit...
Ihrer Haut haftete ein Geruch an, den er automatisch mit LCL assoziierte, egal welche Ge-schmackszusätze Doktor Akagi auch verwandte...
Ihr warmer Atem streifte sein Gesicht, während sie ihn erneut überrascht ansah, nicht ängstlich oder wütend...
Ihre Haut fühlte sich noch etwas feucht an, war auch etwas kühl...
Und dann bemerkt er, daß seine Hand auf der linken ihrer apfelförmigen Brüste lag...

\"Könntest du aufstehen?\" fragte Rei leise mit fester Stimme.
Zwar hatte sie keine Befürchtungen, von seinem Gewicht zerquetscht zu werden, doch er übte einen unbequemen Druck auf ihre rechte Hüfte aus.
Sie war verwirrt. Die Berührung seiner Hand auf ihrer Brust hätte sie sogar als irgendwie an-genehm einstufen können, wenn er nicht so fest zugedrückt hätte, wie ein Eintrinkender, der sich an einen Rettungsreifen klammerte.
Aber wenigstens hatte sie die Brille weder losgelassen, noch sich an den Bruchkanten der Glä-ser geschnitten.

Was...
Ohne später imstande zu sein, seinen Bewegungsablauf nachvollziehen zu können - und dabei schneller als ein gewöhnlicher Mensch - schoß er regelrecht in die Höhe und machte einen wei-ten Satz aus dem Zimmer hinaus bis in den schmalen Korridor.
\"Argh... das... das wollte ich nicht... wirklich nicht...\"

Rei erhob sich, legte die Brille auf das Schränkchen und griff dann nach der bereitliegenden Kleidung, zog sich ohne Hast an.
In ihren Augen war Ikari-kun kein Feind, auch wenn er ungefragt in ihre Privatsphäre einge-drungen war. Seltsamerweise kümmerte sie das überhaupt nicht, doch es lag nicht daran, daß andere Menschen ihre Privatsphäre ohnehin zumeist nicht beachteten, daß sie genaugenommen eine solche gar nicht besaß, schließlich hatte die Mission bei allem Vorrang. Ikari-kun aller-dings schien bemüht, ihr mit Respekt zu begegnen, schien den Vorfall zutiefst zu bedauern, je-denfalls entschuldigte er sich ohne Unterbrechung. Wofür? - Daß er sie umgestoßen hatte? Das war ein Unfall gewesen... dabei machte er doch sonst keinen so tollpatschigen Eindruck... Oder daß er sie nackt gesehen hatte? Das hätte sich ohnehin über kurz oder lang nicht vermeiden las-sen, schließlich benutzten sie im Hauptquartier dieselbe Umkleidekabine, wenn auch an ver-schiedenen Tagen oder wenigstens verschiedenen Zeiten...
Weshalb also erinnerte seine Gesichtsfarbe an eine überreife Tomate? Und weshalb starrte er auf seine Hände, als gehörten sie nicht zu ihm?
Aber es mußte einen Grund geben, warum er hier war, irgendetwas wichtiges...
\"Was willst du?\" fragte sie, hoffte, daß er mit seinem unzusammenhängenden Gestammel aufhörte.

Überrascht hielt er tatsächlich inne und wandte automatisch den Kopf, nur um sofort wieder zurückzuzucken, als er sah, daß sie mittlerweile zwar mit einem weißen Höschen bekleidet, aber damit beschäftigt war, ihren Büstenhalter am Rücken einzuhaken. Sein Gesicht nahm so-fort einen noch tieferen Rotton an.
\"Äh... äh... ich... Misato... die Karte...\"
Seine Gedanken waren völlig durcheinander.

\"Welche Karte?\"
Endlich hatte sie ihren BH geschlossen.
Wer auch immer diesen Verschluß entwickelt hatte, war äußerst ineffizient verfahren, den Ver-schluß am Rücken anzubringen... vielleicht hätte Ikari-kun ihr helfen können, aber einerseits hatte man ihr beigebracht, niemals um Hilfe zu fragen, wenn sie eine Sache auch allein erledi-gen konnte, andererseits machte er keinen äußerst kompetenten Eindruck in diesen Dingen...

\"Deine... deine neue ID-Card... Misato... sie hat gesagt... du könntest sonst nicht ins Haupt-quartier... und es sei dringend... ah... äh...\"

Sie setzte sich auf ihr Bett, begann, ihre Socken überzustreifen.
Warum konnte er nicht einfach zusammenhängend berichten? Hatte man ihm nie gesagt, daß dies einer Verständigung viel zuträglicher war?
Aber die neue Karte war wichtig, das stimmte. Wenn sie sich zum Test verspätet hätte, wäre der Kommandant unzufrieden ob der Verzögerung gewesen. Ikari-kun hatte also wirklich nicht grundlos in ihr Apartment betreten. Als Eindringling sah sie ihn gar nicht erst.

\"Sie hat mich... uh... vorbeigeschickt und... ich... ich hatte unten geklingelt und die Haustür war offen... und dann hatte ich hier geklingelt... uhm, ich meinte, an der Wohnungstür und... ah... aber die Klingel scheint kaputt zu sein... und da habe ich geklopft... und deine Tür war auch offen und da wollte ich eine Nachricht... Tut mir leid...\"

Warum wiederholte er sich nur immerzu? Daß es ihm leidtat wußte sie inzwischen.
Sie hatte also wieder vergessen, die Tür fest genug zuzuziehen, die seit einiger Zeit nicht mehr richtig schloß, folglich lag ein Teil der Verantwortung dafür, daß er ihre Wohnung betreten hatte, bei ihr selbst. Eine andere, fremde Person hätten die Sicherheitskräfte, welche sie rund um die Uhr beschützen sollten, sicherlich aufgehalten...
Aber wenigstens hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen wollen, er war also doch in der Lage, entsprechende Gedankengänge zu verfolgen, alles andere hätte auch der Einschätzung wider-sprochen, die sie sich von ihm gemacht hatte.
Sie griff nach ihrer Bluse.
\"Leg die Karte einfach hin.\"

\"J-ja.\"
Mit zitternden Fingern holte er die Karte aus seiner Hemdstasche und legte sie auf den kleinen Kühlschrank.
\"Es tut mir leid... wirklich...\"
Noch einmal schluckte er.
Sie wandte ihm den Rücken zu, knöpfte gerade ihre Bluse zu.
Hatte sie gar keine Angst, gar keine Sorge, er könnte...
Wenn sie die Tür offenstehen ließ, konnte jeder in ihre Wohnung und...
Warum hatte sie nicht um Hilfe gerufen, oder war in die Küche gelaufen, wie wohl eine norma-le Reaktion ausgesehen hätte...
\"Ich... ah... ich warte unten auf dich... und...\"
Er schluckte wieder.
\"Es tut mir leid.\"
Damit warf er sich herum und floh regelrecht aus der Wohnung.


*** NGE ***


\"Verdammt...\" flüsterte Shinji. \"Verdammt... verdammt... verdammt...\"
Wie hatte es nur soweit kommen können?
Sicher haßte sie ihn jetzt, glaube, er hätte sich ihr aufdrängen wollen...
Er war Dreck, Unrat, nichts wert...
Er würde verstehen, wenn sie ihn bei der Polizei anzeigte, schließlich hatte er in ihrer Wohnung nichts verloren gehabt, hätte einen Zettel ebensogut unter der Tür hindurchschieben können...
Shinji saß auf einer Bank neben dem Hauseingang, von der die Farbe schon vor langer Zeit ab-geblättert zu sein schien.
Jetzt war er fast froh über den Baulärm, übertönte er doch seine eigenen Gedanken.
Dann sah er Ayanami und wäre am liebsten im Boden versunken vor plötzlich wiederaufkom-mender Scham. Sie trug jetzt wieder ihre Schuluniform, die einzige Kleidung, in der er sie kannte, sah man von der PlugSuit ab. Doch seine Phantasie spielte ihm im ersten Augenblick einen Strich und zeigt ihm eine Ayanami, die nicht einmal mehr ein Handtuch trug...

Rei verließ das Haus.
Ikari-kun saß auf der alten Bank neben dem Eingang, immer noch - oder schon wieder? - mit hochrotem Kopf.
Sie sah ihn kurz an, setzte sich dann in Bewegung in Richtung der Bahnstation.
Er senkte den Blick, blieb sitzen.
Wollte er denn nicht mitkommen?
Oder wollte er vielmehr noch ein wenig auf der Bank sitzenbleiben? - Gut, sollte er, schließlich war seine Anwesenheit bei den Tests nicht erforderlich...
Dann rief er plötzlich ihren Namen.

\"Ayanami, gehst du zum Hauptquartier? Warte doch!\"

Hinter sich hörte sie hastige Schritte.
Er lief ihr nach, hoffentlich nicht, um sich wieder endlos für etwas zu entschuldigen, das sie selbst fast schon wieder vergessen hatte.
Doch daß er, nachdem er zu ihr aufgeschlossen hatte, nur schweigend und schuldbewußt auf seine eigenen Füße blickte, während er wenigstens zwei Schritt Abstand hielt, war auch nicht viel besser. Auch in der Bahnstation stand er neben ihr wie ein Fremder.
Die Schweigen hatte etwas bedrückendes, war ganz anders als die Stille, an die sie gewöhnt war, die sie meist selbst in ihrem Kopf erschuf als Barriere gegen den Lärm der Welt.

Die Bahn kam.
Die beiden Teenager stiegen ein in den leeren Wagen, nahmen an entgegengesetzten Enden Platz.

Ayanami holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche, begann darin zu lesen.

Was wohl in dem Büchlein stand...
Shinji hatte sie schon mehrmals in dem Buch lesen sehen, wenn sie nichts anderes zu tun hatte.
Die Stille stand zwischen ihnen wie eine Mauer, aber er brachte kein Wort hervor, so sehr er sich auch den Kopf zermarterte.
Nachdem, was er getan hatte, konnte sie ihn nur hassen, er hatte sie berührt, auf eine Art und Weise, zu der er nicht das geringste Recht gehabt hatte...

Der Zug hielt in einer jener Stationen, von denen auf man per Aufzug in die Geofront gelangen konnte. Schweigend stiegen sie aus, Rei voran. Beiläufig benutzte sie ihre neue ID-Card, um den Aufzug zu aktivieren.
Als die Türen aufglitten, trat sie in die Liftkabine.
Ikari-kun folgte ihr nicht, blieb draußen stehen...
Die Türen schlossen sich bereits wieder, ohne daß er sich in Bewegung setzte.
Was sollte das?
Warum kam er nicht? Immerhin hatte er sich doch so bemüht, zu ihr aufzuschließen...
Mit einer blitzartigen Geste hämmerte sie die Faust gegen den Schalter der Tür, trat einen hal-ben Schritt vor, um zu verhindern, daß sie sich ganz schlossen, sah ihn fragend an.

Shinji hatte vor dem Aufzug gestoppt.
Wie sollte er die scheinbare endlose Fahrt in der engen Kabine mit Ayanami überstehen? Er fühlte sich ja jetzt schon mehr tot als lebendig. Sein Herz hämmerte so heftig, daß er vermein-te, seine Brust würde zerspringen, zugleich verkrampften sich seine Eingeweide.
Er konnte da nicht hinein, nicht jetzt...
Doch Ayanami verhinderte, daß die Türen sich schlossen.
Weshalb tat sie das? Sie mußte doch befürchten, daß er während der Fahrt die Gelegenheit ausnutzte...
Und doch sah sie ihn fragend an und drehte sich zur Seite, so daß er hineingehen konnte.

\"Worauf wartest du? Wir haben nicht ewig Zeit?\"

\"Uhm, ja, Ayanami...\"
Mit zitternden Knien schob er sich in die Liftkabine, drückte sich dabei mit dem Rücken derart gegen die Wand, daß zwischen ihm und Ayanami ein Lkw hätte hindurchfahren können.
Dann gab sie die Tür frei, erlaubte, daß die Türen sich schlossen und der Aufzug sich in Bewe-gung setzte.
Wieder breitete sich diese furchtbare Stille aus...
Shinji preßte die Lippen zusammen.
Wenn er nicht bald etwas sagte, würde die Stille für immer zwischen ihnen stehen...
Und noch mehr als jetzt konnte sie ihn nicht hassen...
\"Ayanami... hast du... hast du gar keine Angst?\"

\"Angst? Wovor?\"
Was wollte er? Natürlich gab es etwas, vor dem sie Angst hatte, sie fürchtete sich zu versagen, hatte Angst davor, daß die Mission scheiterte... aber das konnte er nicht meinen, er wußte ja nicht einmal von der Mission...

\"Wovor...? Uhm, naja, in den EVA einzusteigen... beim letzten Mal wurdest du so schwer verletzt...\"

Das also wollte er wissen, ob der EVA ihr Angst machte...
Nein, der EVANGELION selbst bereitete ihr keine Furcht, nur die Dunkelheit, die in ihm zu lauern schien, die sie bis in ihre seltenen Träume verfolgte, die der Grund dafür war, daß sie manchmal den Zeitpunkt des Einschlafens soweit wie möglich hinauszögerte... die Dunkelheit, welche sie zu hassen schien...
Aber darüber konnte sie nicht mit ihm sprechen, er würde es nicht verstehen, wie auch, EVA-01 war angeblich perfekt, Ikari-kun würde ihre Furcht diesbezüglich nicht nachvollziehen kön-nen, niemand konnte das, auch Doktor Akagi nicht, der gegenüber sie es angesprochen hatte - und die nur gelacht und sie angesehen hatte, als ob sie den Verstand verloren hätte...
\"Hast du keine Angst?\"
So verhielten sich doch die Menschen - eine unliebsame Frage mit einer Gegenfrage beantworten...

Shinji holte tief Luft.
Sie sprach mit ihm...
\"Ich... natürlich habe ich Angst... es wäre seltsam, wenn es anders wäre...\"
Es lag ihm auf der Zunge, von der bösartigen Dunkelheit zu sprechen, die nach ihm griff, wenn EVA-01 gegen einen Engel kämpfte... aber das würde sie ihm wohl nicht glauben, wo er doch selbst nicht einmal wußte, ob die Finsternis ihren Ursprung nicht in seinem eigenen Herzen hat-te...
Ayanami blickte ihn lange schweigend an, der Blick ihrer scharlachroten Augen bohrte sich bis in sein Herz, bannte ihn.

\"Hast du keinen Glauben in die Arbeit deines Vaters?\"

Ihre Stimme klang so sanft...
Was sollte diese Frage?
Sein Vater...
Vertrauen...
Seinem Vater vertrauen...
Nein, das konnte er nicht, er hatte kein Vertrauen in die Arbeit seines Vaters.
\"Wie... wie sollte ich, bei diesem Vater?\"

Rei sagte nichts, blickte ihn nur an.
In ihren Augen war Enttäuschung zu lesen.
Ihre Finger zuckten...
Ikari-kun vertraute dem Kommandanten nicht... wie konnte er seinem Vater nicht vertrauen... wie konnte er ihr soetwas sagen?
Ohne den Kommandanten würde er nicht existieren... und sie ebenfalls nicht, wenn der Kom-mandant nicht das von Yui Ikari begonnene Klonprojekt zu Ende geführt hätte, dessen Ergeb-nis sie war... sie selbst war das Ergebnis der Arbeit des Kommandanten, und wenn Ikari-kun nicht an das Werk seines Vaters glaubte, dann glaubte er auch nicht an sie...
In diesem Augenblick hätte sie ihn ohrfeigen können...
\"Kommandant Ikari ist der einzige, an den ich glaube.\" flüsterte sie.
Damit brach sie den Blickkontakt.
Kapitel 13 - Finsternis

\"Reaktivierungstest von EVA-00 beginnt\", verkündete Ritsuko Akagi eigentlich völlig überflüssigerweise.

Shinji stand im Hintergrund des Kommandoraumes des Test-Areals, neben ihm lehnte Misato gegen die Wand.
Weiter vorn stand Gendo Ikari mit Ritsuko Akagi an der großen Panzerglasscheibe, auf der an-deren Seite der Scheibe war die große Hangarhalle, nur war diesesmal das LCL abgelassen und EVA-01 in einen anderen Raum der Anlage gebracht worden, so daß sich nur EVA-00 im grel-len Licht der Scheinwerfer befand, an den Schultern noch von den Klammern gehalten.
Der Plug mit Ayanami war bereits eingeführt worden, einer der vielen Bildschirme im Raum zeigte die Übertragung aus dem EntryPlug, zeigte Ayanamis blasses Gesicht.

\"Rei, bist du bereit?\"

\"Bestätigt.\"

Ihre Stimme klang so tonlos...
Was, wenn der EVA erneut amoklief... hatte sie wirklich keine Furcht?
Shinji starrte auf den Rücken seines Vaters, welcher mit hinter dem Rücken verschränkten Händen dastand und sich ebenfalls keine Emotion anmerken ließ.
Hatte Ayanami in ihn wirklich ein solches Vertrauen?
Was hatte dieses Vertrauen begründet, warum hatte sie solch ein Vertrauen?
Was hatte sein Vater getan, um dieses Vertrauen zu verdienen?
Er konnte sich keine Antwort vorstellen...
In seinen Augen würde sein Vater Ayanami fallenlassen, sobald sie ihm nicht mehr von Nutzen war, ebenso wie er ihn jederzeit fallenlassen würde...
Ayanami...
Ob sie nervös war?
Ob sie auf ihn wütend war, ob dies Auswirkungen auf den Test haben würde?

Die Systeme von EVA-00 wurden, eines nach dem anderen, online geschaltet.

\"Ersten Kontakt öffnen... Hauptstromquelle angeschlossen... Akkus geladen... Kritischer Punkt der Spannung überwunden. Alles Systeme bereit.\"

\"Beginnen mit Phase 2.\"

\"Bestätigt. Öffnen der Kontakte zwischen EVA-00 und Pilotin... Synch-Ratio ansteigend... Notwendiger Basis-Level erreicht... Standard-Ratio des First Children erreicht... Synch-Ratio hat sich eingepegelt. Lebenszeichen des Piloten normal. Puls ruhig. Synchronisation stabil.
Alle Nervenlinks geschlossen! Verbindung zum Zentralnerv steht.\"

\"Maya, Gegencheck!\"

\"Check 1 bis 2590 klar! Noch 2,5 bis zur absoluten Grenzlinie! 1,7! 1,2! 0,9...\"

Shinji lauschte den Angaben Maya Ibukis, sah dabei am Rücken seines Vaters vorbei auf EVA-00. Der EVANGELION zeigte keine Reaktion, brach nicht aus seinen Fesseln aus, spielte nicht verrückt... tat nichts, daß... Ayanami in Gefahr gebracht hätte...

\"0,5... 0,4... 0,3... 0,2... 0,1...\"

Gendo Ikari versteifte sich ein wenig.
Wahrscheinlich war Shinji der einzige, der den kurzen Muskelreflex wahrnahm.
Sein Vater war also auch unruhig, rechnete möglicherweise mit dem schlimmsten...

\"Borderline klar! Aktivierung von EVA-00 abgeschlossen!\"

\"Übergang zum Getriebe-Test!\"

\"Beginnen mit Testlauf...\"

Irgendwo im Raum summte ein Telephon.
Einer der Techniker nahm ab, reichte den Hörer dann an Kommandant Ikari weiter.

\"Was ist, Fuyutsuki?\"
Ikari lauschte, legte dann den Hörer auf.
\"Den Test abbrechen! EVA-01 einsatzbereit machen! Alarmstufe Eins!\"

Shinji zuckte zusammen.
\"Was...\"

Seine Frage ging im Jaulen der Sirenen unter, welche Blauen Alarm verkündeten - Engelalarm!

\"Zieh dich besser um\", sagte Misato. \"Ich muß in die Kommandozentrale.\"

\"Uh... ja...\"
Er wandte sich zum Gehen, warf einen letzten Blick auf seinen Vater, der immer noch durch die Glasscheibe blickte, sah im Hintergrund, wie der EntryPlug aus EVA-00 entfernt wurde.
Sein Vater drehte sich immer noch nicht um, obwohl Shinji sich wünschte, er möge sich ihm nur kurz zuwenden, ihm nur knapp bestätigend zunicken...
Doch dies geschah nicht, wie üblich war er für ihn Luft.
Shinji verließ den Raum, ging das kurze Stück über den Gang und betrat die Umkleidekabine.
Hastig zog er sich aus und schlüpfte in die PlugSuit.
Wie üblich legte sich das Material eng auf die Haut.
Als er sich umdrehte, um die Kabine durch die Tür zu verlassen, stand Ayanami in der Tür.
Er zuckte zusammen.
\"Ayanami...\"

\"Ikari-kun.\"

\"Weiß du... uhm, weißt du, was los ist?\"

\"Nein. Ich soll mich in Bereitschaft halten.\"

\"Dann wird es wohl ein Engel sein...\"

\"Wahrscheinlich.\"

Also mußte er wieder hinaus, um zu kämpfen...
EVA-00 würde wohl im Hangar bleiben, da der Reaktivierungstest nicht abgeschlossen worden war und seine volle Funktionsfähigkeit damit nicht mit Sicherheit feststand.
Ayanami würde sich also nicht in Gefahr begeben. - Ganz im Gegensatz zu ihm...
Ob sie wohl noch auf ihn wütend war?
Vielleicht würde er nicht zurückkommen...
\"Ayanami... ich... wollte dir noch etwas sagen...\"

Sie blinzelte.
\"Was?\"

\"Es tut mir leid.\"

\"Das hast du bereits gesagt... mehr als einmal.\"

\"Dann... bist du nicht ärgerlich?\"

\"Nein.\"

\"Nicht? Ich dachte... uhm... du würdest mich hassen...\"

\"Wofür? Warum sollte ich dich hassen?\"

\"Weil ich... weil ich dich nackt gesehen habe... und weil ich... ah...\"
Er starrte wieder auf seine Hand.

\"Weshalb sollte ich dich dafür hassen? - Dann müßtest du mich jetzt auch hassen.\"

\"Ich? Warum? Uh...\"
Da dämmerte es ihm, wahrscheinlich hatte sie ihn beobachtet, wie er die PlugSuit angelegt hatte.

\"Also?\"

\"Aya-Ayanami, wie könnte ich dich hassen?... Doch nicht deswegen...\"

\"Genau.\"

\"Dann... besteht zwischen uns kein... böses Blut?\"

Wieder blinzelte sie, schien über seine Formulierung nachzudenken.
Blut...
Sie haßte Blut, der Anblick erregte bei ihr Übelkeit.
Weshalb hatte Ikari-kun diese Formulierung verwenden müssen?
Er schien ein Freund solcher Redewendungen zu sein...
\"Nein.\"

\"Dann... das ist gut... Hm, ich... uhm, ich muß wohl los.\"

\"Ja.\"
Sie gab den Weg frei.
Ikari-kun schien unendlich erleichtert.

Trotzdem machte Shinji keine Anstalten, den Raum zu verlassen, stattdessen hielt er ihr die Hand entgegen, fühlte, daß er diesen Augenblick ausnutzen mußte, der sich vielleicht nie wie-derholen würde.
\"Ayanami... Freunde?\"

Rei blickte auf die ihr entgegengestreckte Hand.
Was meinte Ikari-kun?
Freunde...
Er bot ihr seine Freundschaft an... warum? Weil sie nicht wütend auf ihn war? Oder aus ande-ren Gründen?
Freundschaft...
Ihr waren zwei Definitionen dieses Begriffes bekannt, der erste war eine andere Bezeichnung für Kameradschaft, der andere eine für eine Beziehung, die mit menschlicher Paarung in Ver-bindung stand. Welche Art von Freundschaft meinte Ikari-kun?
Würde er auf eine Paarung abzielen, hätte er dies bereits in ihrem Apartment versuchen kön-nen, schließlich waren sie in dieser Beziehung kompatibel... also ging es ihm wohl mehr um Kameradschaft. Ja, dies war auch die logischere Alternative, sie waren beide Piloten, sie muß-ten einander im Falle eines gemeinsamen Einsatzes vertrauen können... aber dazu war sie ohne-hin bereit - er nicht? Oder weshalb bot er ihr seine Freundschaft an? Vielleicht war es auch eher eine Art zwischenmenschliches Ritual, bei dem man sich seine gegenseitige Unterstützung ver-sicherte...
Andererseits... sie hatte beobachtet, wie Ikari-kun und die Mitschüler Suzuhara und Aida sich untereinander verhielten... es war verbunden mit einem Grad an Vertraulichkeit, mit dem ihr noch niemand begegnet war, auch nicht der Kommandant, und sie wußte nicht, ob sie selbst dazu bereit war...
Und weshalb hatte sie ihn beim Umziehen beobachtet, ohne etwas zu sagen? Und weshalb hat-te sie sein Hinterteil mit dem Begriff \'knackig\' assoziiert?
Aber es war Ikari-kun, um den es ging...
Langsam hob sie die Hand, brachte sie der seinen entgegen.
Der Kontakt war nur kurz, bestand aus einem schwachen Händedruck seinerseits.
Hielt er sie für so zart, daß er es nicht wagte, fester zuzudrücken?
Weshalb war er selbst kurz zusammengezuckt?
Er schien zufrieden.

\"Ich... ich muß los.\"
Shinji verließ die Umkleidekabine, betrat durch die gegenüberliegende Tür den Hangarbereich, eilte über Stege und Brücken zum EntryPlug, der sich bereits in Stellung über dem Steuernerv von EVA-01 befand. Seine Hand schmerzte leicht von dem schraubstockartigen Griff, den Ayanami ausgeübt hatte...


*** NGE ***


\"Die Verbindung ist abhörsicher, Sie können mit Ihren Leuten in ASGARD ohne Bedenken Kontakt aufnehmen, Gospodin.\"
Larsen nickte.
Er vertraute auf die Aussage des früheren KGB-Agenten.
Seine eigenen Leute, die anderen fünf RABEN, waren längst zu ihren neuen Einsatzorten auf-gebrochen, nur er war zurückgeblieben, war bei Sergej in einem früheren Unterschlupf des KGB in Istanbul untergekommen.
Die Einrichtung des Gebäudes entsprach dem neuesten Stand der Technik, nach dem Zusam-menbruch der UdSSR hatte Sergej sich als Schmuggler und Informationshändler selbständig gemacht.
\"Danke.\"
Er wandte sich dem Terminal zu.

Sergej klopfte ihm auf die Schulter... schlug plötzlich heftig gegen seinen Hals...

\"Was...\"
Seine Hand zuckte hoch, berührte die Stelle, wo der Russe ihn getroffen hatte.
Dort war etwas, an der synthetischen Haut klebte etwas... ein Gerät...
Er versuchte es abzureißen, doch er spürte seine Finger nicht mehr.
Dann kippte er zur Seite...


*** NGE ***


Wolf Larsen schob sich aus dem Versorgungsschacht, der zu einem Netzwerk von Schächten gehörte, welches unter Wilhelmshaven lag. Die Tatsache, daß bisher kein Alarm angeschlagen hatte, konnte nur bedeuten, daß die Sicherheitssysteme in Bezug auf seine Person blind waren, daß es seinen Verbündeten gelungen war, seinen Zugang zu sichern.
Vor drei Tagen war er in der Arkologie am Ufer der immer noch zugefrorenen Nordsee einge-troffen, seit dem Impact hatte sich das Klima in Nordeuropa derart abgekühlt, daß der Konti-nent bis zu den Alpen das halbe Jahr lang unter Eis und Schnee lag und selbst während der kur-zen Sommermonate waren die Temperaturen nicht einmal mehr ansatzweise jene, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts geherrscht hatten. Die Explosion in der Antarktis hatte zuviel Staub in die Atmosphäre geschleudert, als Folge erreichte nur noch ein Teil der bisherigen Sonneneinstrahlung die Oberfläche. Und die Tatsache, daß sich die Erdachse spontan mit ei-nem großen Sprung verschoben hatte und der magnetische Nordpol jetzt knapp nördlich von Island lag, hatte es auch nicht einfacher gemacht.
Die Überlebenden der großen Katastrophe hatten sich in südlichere Gefilde geflüchtet, einige jedoch hatten sich entschieden zu bleiben und die Industriestandorte nicht dem Eis zu überlas-sen. So waren die Arkologien entstanden, Städte unter mächtigen Kuppeln aus verstärktem Plexiglas, jede durch Treibhäuser und eigene Kraftwerke größtenteils unabhängig.
Wilhelmshaven war der nördlichste europäische Hafen, der während knapp sieben Monaten im Jahr benutzt werden konnte, der gesamte Frachtverkehr ins Inland lief über die Arkologie ab, die inzwischen zwei kleinere Ableger gegründet hatte.
Larsen war mit einem Passagierflugzeug aus Istanbul gekommen, versteckt im Bereich des Fahrwerkes. Kälte und Luftmangel hatten ihn weit weniger betroffen, als dies bei einem norma-len Menschen der Fall gewesen wäre, dennoch war er froh gewesen, nach der Landung sein Versteck verlassen zu können.
Die nächsten Tage hatte er größtenteils im Untergrund der Stadt mit Warten verbracht, aus Sicherheitsgründen verlief die Kommunikation mit seinem Vorgesetzten nur langsam.

Doch jetzt war es soweit, er hatte Order zum Zuschlagen bekommen.
Wenn ihm nur nicht alles so unwirklich erschienen wäre...
Häufig hatte er den Eindruck, sich selbst über die Schulter zu blicken, dann wieder schienen ganze Tage im Zeitraffer zu vergehen, während der er nichts tat, außer zu warten.

Der Hauptrechner des ODIN-Hauptquartiers, der auch die Sicherheitssysteme kontrollierte, würde für genau fünf Minuten abgeschaltet werden, ausreichend Zeit, um Direktor Cedricks Büro zu stürmen und ihn festzusetzen.
Die einzige Frage, die sich Larsen stellte, war die, weshalb der Stellvertretende Direktor nicht selbst gegen den Verräter in ihren Reihen vorging. Doch Spender hatte seine diesbezüglichen Zweifel zerstreut, indem er ihm erklärt hatte, niemandem sonst vertrauen zu können.

Der Versorgungstunnel endete im untersten Kellergeschoß der ODIN-Anlage.
Larsen hielt sich an den Plan, wandte sich den Aufzugsschächten zu.
Eine der Kabinen setzte sich in diesem Moment in Bewegung, er spurtete los, hängte sich an die Unterseite. Sein Körper ermüdete nicht, die kybernetischen Hände würden ihren Griff erst lösen, wenn er am Ziel angekommen war...
Es ging aufwärts, Stockwert um Stockwerk.
Cedricks Büro lag im sechzehnten Stock des Hauptquartiers, der Aufzug würde im siebzehn-ten halten.
Der Boden des Schachtes war in der Dunkelheit längst verschwunden, als die Liftkabine hielt.
Larsen trat heftig von innen gegen die Schachttüren, trat sie aus ihren Leitschienen, stieß sich dann kräftig ab und rollte in den Korridor dahinter.
Jemand schrie erschrocken auf.
Er ignorierte die Stimme, zog im Aufstehen seine Waffe.
Bis zu Cedricks Büro waren es nur wenige Schritte.

Wieder fühlte er sich einen Moment lang wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing und den Weg einschlug, der ihr vom Puppenspieler vorgegeben wurde. Doch der Auftrag, den man ihm gegeben hatte, war klar - Cedrick eliminieren, sowie jeden Widerstand.
Die Tür zu Cedricks Vorzimmer flog krachend aus den Angeln, als er sie eintrat.
Die Sekretärin des Direktors sprang auf, streckte die eine Hand nach dem Alarmknopf, die an-dere nach ihrer Dienstwaffe aus.
Sie erreichte weder den einen noch die andere, sackte in der nächsten Sekunde zusammen, als seine Kugel ihr die Stirn zertrümmerte.
Die nächste Tür wurde von ihm niedergewalzt.

Direktor Cedrick ließ fassungslos den Telefonhörer sinken, in den er gerade noch gesprochen hatte.
\"Larsen... Sie leben!\"

Er hob die Waffe, der Lichtstrahl des Laserzielgerätes bildete einen roten Punkt über Cedricks Herzen.
\"Ich habe Ihren Hinterhalt überlebt.\"

\"Was...\"

Larsen krümmte den Finger um den Abzug, wunderte sich dabei selbst über seine Handlung.
Die Sekretärin hatte keine Gefahr bedeutet, er hätte sie ebensogut niederschlagen können, ehe sie den Alarmknopf erreicht hätte...

\"Legen Sie die Waffe weg, Commander!\" stieß Cedrick hervor.

Der andere mußte sterben, wenn die SEELE-Verschwörung zerbrochen werden sollte... aber das war doch gar nicht nötig, es gab andere Möglichkeiten, ihn unschädlich zu machen...
Sein Finger bewegte sich ohne sein Zutun, zog den Abzug durch.

Cedrick flog nach hinten.

Er hatte ihn erschossen, kaltblütig getötet... dabei wäre Cedrick lebend wertvoller gewesen...
was geschah mit ihm?
In der nächsten Sekunde sackte sein kybernetisches Bein zusammen, als die Servomotoren aus-fielen... nein, nicht ausfielen, abgeschaltet wurden...
Sein anderes Bein konnte die plötzliche Gewichtsverlagerung nicht ausgleichen
Er fiel...
Der Versuch, den Sturz mit den Händen abzufangen, schlug fehl, seine Arme gehorchten ihm nicht mehr. Lang schlug er hin. Seine Augen übertrugen kein Bild mehr, von einer Sekunde zur anderen war er blind. Nur sein Gehör funktionierte noch.

Jemand betrat den Raum, mehrere Personen.

\"Direktor Cedrick ist tot, Sir.\"

\"Das sehe ich.\"
Larsen identifizierte die Stimme als die von Direktor Rabinowitz, einem Mitglied des Triumvi-rates, welches ODIN leitete.

\"Und sein Mörder liegt hier am Boden - der abtrünnige Agent Wolf Larsen.\"
Es war die Stimme des Stellvertretenen Direktor, die Stimme seines Vorgesetzten...

Larsen wollte etwas antworten, doch auch sein mechanischer Kiefer versagte den Dienst, er spürte nicht einmal mehr sein gesundes Bein.
Da begriff er - jemand hatte die synthetischen Schnittstelle zwischen seinem Gehirn und seiner Kybernetik abgeschaltet. Seine Lungen waren ohne Stimulation durch die Kybernetik nicht im-stande zu atmen, sein Herz nicht zu schlagen... er würde in Bälde sterben...
Und in diesem Augenblick sah er die Dinge so klar wie selten zuvor...

\"Ist er tot?\"

\"Ich kann keine Verletzungen erkennen.\"

\"Dann wird die Sicherheitsschaltung angesprochen haben\", erklärte Spender.

Welche Sicherheitsschaltung? Er hörte zum ersten Mal davon... was wußte Spender? Warum stellte der Mann, der ihn ausgebildet hatte und dem er mehr vertraute als sonst jemandem in-nerhalb des Dienstes, ihn als Mörder da? Er besaß doch die nötigen Unterlagen, um alles auf-zudecken, um die Verschwörung um SEELE zu enttarnen.

\"Es war richtig von Ihnen, damals die Installation einer Notabschaltung zu empfehlen, ich habe Larsen nie getraut... er war zu sehr Maschine, viel zu wenig Mensch, hier sehen wir, was pas-siert, wenn wir die Kontrolle verlieren.\"

\"Ich stimme Ihnen zu, Direktor.\"

\"George, Sie werden bis auf weiteres den Posten des verstorbenen Direktors einnehmen.\"

\"Ja, Sir.\"

Spender... Wie hatte er nur so dumm sein können... Spender hatte ihn erst auf SEELE ange-setzt, hatte dafür gesorgt, daß er Ryoji Kaji bei NERV einschleuste, hatte unterstützt, daß Asu-ka zur EVA-Pilotin ausgebildet wurde... Er hatte ihn davon überzeugt, daß Cedrick eine Ge-fahr darstellte... und dabei hatte er ihm ODIN ausgeliefert... und ihm wahrscheinlich dabei ge-holfen, an die Spitze von SEELE vorzurücken, indem er seine RABEN in die Nähe der wich-tigsten Mitglieder des Zirkels ausgeschickt hatte... wie hatte er ihm nur glauben können...

Dann wurde es dunkel um ihn, auf eine Art, die nichts mit Sehen zu tun hatte...


*** NGE ***


\"Und?\" fragte Wilforth F. Cedrick leise und blickte auf die liegende Gestalt auf dem Tisch hin-ab.
Wolf Larsen war mit Stahlklammern an den Tisch gefesselt, ein visor-artiges Gerät befand sich über seinen Augen. Sein linkes Bein zuckte unkontrolliert.

\"Er sieht und hört alles, was wir ihn sehen und hören lassen.\" erwiderte Sergej.

\"Sehr gut. Richten Sie unserem Freund meinen Dank aus.\"

\"Das werde ich.\"
Der Russe blickte auf Larsen.
\"Armer Narr...\"

\"Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er ein noch besserer Killer für SEELE sein, als er ohnehin schon war. Wir nehmen ihm das Vertrauen in den Dienst und seine Verbündeten.\"

\"Hm...\"

\"Sie klingen, als würden Sie bedauern, ihn verraten zu haben... Sie waren befreundet, nicht wahr?\"

\"Freundschaft füllt nicht den Magen.\"

\"Gut, daß wir uns verstehen. Wenn wir die Welt neu erschaffen, werden wir Ihre Dienste nicht vergessen. - Und unser... Freund hier... er wird uns NERV auf dem Silbertablett liefern, sobald wir Ikari nicht mehr benötigen. Sie haben recht, er war ein Narr... ein Narr, indem er glaubte, es mit SEELE aufnehmen zu können.\"


*** NGE ***


Um Shinji herum stiegen kleine Bläschen auf, als das LCL-Gemisch die Luft aus seinen Lungen preßte.
Die Monitore vor ihm leuchteten auf, verkündeten Einsatzbereitschaft.

\"Shinji?\"

\"Misato.\" bestätigte er den Kontakt.

\"Wir haben ein Objekt geortet, welches sich Tokio-3 nähert. Die MAGI-Rechner haben es als Engel identifiziert, Codebezeichnung: Ramiel.\"

\"Verstanden, wann schickt ihr mich raus?\"

\"Gleich. Wir wollen noch einen Augenblick warten, bis der Engel in Waffenreichweite ist.\"

Einer der kleineren Monitore zeigte den Abendhimmel über Tokio-3, ein roter Punkt symboli-sierte den Engel, der im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel herabstieg.

\"Uhm, wo kommen die eigentlich her?\"

\"Das wüßten wir auch gerne - dann könnten wir endlich einen Gegenangriff zumindest planen.\"

Engel... wenn es wirklich Engel waren, würde Misato wahrscheinlich sogar die Himmelpforten stürmen lassen, um dem Schöpfer die Meinung zu sagen...
Shinji fror plötzlich, doch es lag nicht an dem LCL, das hatte wie immer Körperwärme.
Ihm war, als hätte ihn etwas kaltes gestreift.
Er lauschte mit geschlossenen Augen, lauschte nach einem Geräusch, nach einem Beweis, daß er nicht allein in der Kapsel war, daß da etwas lauerte...
Während der Tests hatte er immer nach Zeichen gesucht, ob da noch etwas war, doch die Ein-drücke, die während der bisherigen Kämpfe über ihn eingebrochen waren, hatten sich nicht wiederholt.
Also war er doch die Quelle dieses verzehrenden Hasses...
Und jetzt würde er wieder kämpfen müssen. Er verspürte Furcht, nicht vor dem Engel, sondern vor dem, was er tun könnte, wenn ihr wieder die Dunkelheit umfing...

\"Wir haben Sichtkontakt. Shinji, Start wird eingeleitet - 20 Sekunden Countdown.\"

\"Uh... Klar.\"
Inzwischen routinemäßig überprüfte er den Sitz seiner Gurte, damit die Beschleunigung, mit der der EVA an die Oberfläche katapultiert werden würde, ihm nicht die Luft abschneiden würde, checkte noch einmal die Anzeigen.
Wieder überlief es ihn eiskalt, so als wäre jemand über sein Grab gelaufen...
Seltsamer Gedanke...

Der Engel ähnelte vom Äußeren her einem langsam rotierenden tiefblauen Edelstein, hatte gar keine Ähnlichkeit mit seinen beiden Vorgängern.

\"Hey, Shinji-kun, was meinst du, ob es irgendwo eine passende Fassung dafür gibt?\" versuchte Misato, welche denselben Vergleich gezogen hatte, die Lage etwas aufzulockern.

Der Countdown wurde langsam herabgezählt.
Dann raste EVA-01 im Aufzug an die Oberfläche.

\"Ein Waffenbunker mit Positronengewehr befindet sich zu deiner Linken.\"

\"Verstanden.\"
Misatos Hinweis war überflüssig, er wußte längst, wo die über die ganze Stadt und die nähere Umgebung verteilten Waffenlager lagen. Dasselbe galt für die Anschlußstellen der Energiever-sorgung. In den letzten Wochen hatte er die Standorte mit einer Intensität lernen müssen, daß er sich imstande fühlte, sie im Schlaf zu nennen.

Der Abstand zur Oberfläche verringerte sich.
Shinji bereitete sich auf den Ruck vor, mit dem der Lift zum Stehen kommen würde.
Im gleichen Moment würde er nach dem Gewehr greifen und das Feuer eröffnen... und den Engel hoffentlich vernichten, bevor es zu einem Nahkampf kommen konnte...

\"Shinji, der Engel lädt sich mit Energie auf! Sei vorsichtig!\"

Der erwartete Ruck erfolgte, das Gewehr flog förmlich in seine ausgestreckte Hand...

\"Shinji! Ernergieentladung! Weg da!\"

Im gleichen Augenblick, in dem sich die Finger des EVAs um das Gewehr schlossen, schoß von dem Engel ausgehend ein dunkelroter Energiestrahl auf den EVA zu, traf ihn frontal gegen die Brust.

Shinji brüllte auf vor Schmerz, vermeinte, selbst getroffen worden zu sein.
Im Plug heizte sich das LCL auf, kochte einen Augenblick lang.
Shinjis Lungen brannten... sein Herz raste schneller und schneller...
Eine entsetzliche Angst überfiel ihn, Angst um seine Existenz, Angst, derart schwer verletzt worden zu sein, daß er die Schäden nicht mehr regenerieren konnte, Angst, am Herzen verletzt worden zu sein, Angst, daß sein Kern beschädigt worden sein konnte...
Es war zuviel für ihn - sein Herz blieb stehen...
Schlaff sank er im Pilotensitz zusammen.
Es wurde dunkel um ihn...


*** NGE ***


\"Shinji-kun! Antworte! Bitte!\" brüllte Misato in das Mikrophon ihres Headsets. \"Antworte!\"
Der EVA auf dem Monitor hing leblos in den Halteklammern, ein großes schwelendes Loch in der Brustpanzerung... und das nach nur einem Treffer.
Die Waffe, welche der Engel benutzte, mußte eine unglaubliche Energieentfaltung besitzen.
Und der Engel selbst schien mit dem Auftauchen von Einheit-01 gerechnet zu haben.
Doch daran dachte sie nicht, ihr Blick galt allein dem Jungen, der leblos in den Gurten des Pilo-tensitzes hing.
Er hatte ihr vertraut, hatte darauf vertraut, daß sie ihn anleiten würde...
Er war ihr anvertraut worden...

\"Lebenszeichen des Piloten im kritischen Bereich!\"

\"Holt ihn zurück!\"

\"Bestätigt.\"

Der EVA verschwand wieder im Aufzugsschacht...

\"Überwachung meldet Herzstillstand bei Pilot Ikari!\"

\"Ein Medo-Team in den Hangar!\"

\"Medo-Team verständigt. Ankunft von EVA-01 im Hangar in vierzig Sekunden! Kühlung vor-bereitet.\"

Misato sah hinauf zu Gendo Ikaris Kommandostand.
Wie üblich zeigte der bärtige Mann keine Regung, selbst jetzt, da sein einziger Sohn mit dem Tod rang.
\"Kaltherziger Bastard...\" flüsterte sie so leise, daß nur sie selbst es hörte.


*** NGE ***


Vom über dem Steuernerv von EVA-00 schwebenden EntryPlug aus beobachtete Rei Ayanami das Geschehen. Auf dem obersten Bildschirm der InterKom-Verbindung konnte sie das aus dem Plug von EVA-01 übertragene Bild sehen.

Ikari-kun war verletzt... der Engel hatte ihn verletzt!
Dem Gesprächswechsel in der Zentrale nach, welchen sie ebenfalls hören konnte, stand sein Hert still... Ikari-kun war tot...
Kälte faßte nach ihrem Herzen.
Gerade eben noch hatte sie mit ihm gesprochen, hatte seine angebotene Freundschaft ange-nommen... und jetzt warteten die Ärzte darauf, daß EVA-01 in den Hangar zurückkehrte.
Hoffentlich... nein, sicher konnten sie Ikari-kun helfen... und wenn nicht sie, dann der Kom-mandant. Der Kommandant hatte sie erschaffen, sicher konnte er auch Ikari-kun retten!
Ikari-kun mußte leben... er war ihr einziger Freund...
EVA-01 kam im Hangar an, stand noch nicht ganz ruhig, als der EntryPlug schon evakuiert wurde. Die Mediziner handelten sehr schnell, holten Ikari-kun aus dem Plug, begannen noch vor Ort mit Wiederbelebungsmaßnahmen.

\"Wir haben einen Herzschlag! Weiter beatmen, wir bringen ihn auf die Krankenstation!\"

Leise nur kam die Stimme aus dem Lautsprecher des Außenbeobachtungssystems, doch Rei hätte völlig taub sein müssen, um sie nicht zu hören.
Zugleich war ihr, als finge ihr eigenes Herz wieder an zu schlagen.
Ikari-kuns Herz schlug wieder. Er würde leben.
Sie blickte auf den Hauptmonitor, sah durch die Augen ihres EVAs, wie Ikari-kun auf einer Rollliege aus dem Hangar gebracht wurde.

\"Er lebt, hört ihr, er lebt!\" hörte Rei die Stimme des Captains über Funk aus der Zentrale.

Sie konnte nichts für ihn tun...
Ihr Blick fiel auf jenen Monitor, der das Bild des Engels von der Oberfläche übertrug.
Der große geschliffene Diamant war über der Stadt zum Stehen gekommen.
... aber sie konnte ihn rächen...
\"Captain Katsuragi?\"

In der Kommandozentrale zuckte Misato heftig zusammen, als Rei Ayanamis geisterhaft flü-sternde Stimme aus dem Lautsprecher ihres Headsets drang.
\"Ja, Rei?\"

\"Schicken Sie mich nach oben. Jemand muß den Engel aufhalten.\"

\"Rei, das...\"

\"Nein.\" warf der Kommandant in den Raum und schwieg dann wieder.

Misato schluckte.
\"Rei, du bleibst in Bereitschaft. Wir wissen zuwenig über den Gegner.\"

Rei nickte.
Der Kommandant hatte es befohlen und sie mußte seinen Befehlen folgen... aber sie mußte es nicht mögen...
\"Wie ist Ikari-kuns Status?\"

\"Er kommt durch.\"

\"Gut.\"
Sie ließ nicht zu, daß ihre Stimme ihre Erleichterung verriet.


*** NGE ***


Der Engel hatte eine Extremität ausgefahren und mit dem Boden in Kontakt gebracht. Kurz darauf entpuppte sich das, was auf den ersten Blick als Standbein durchgegangen wäre, als gi-gantischer Bohrer.

\"Was zum...\" stieß Misato hervor. In den letzten Minuten hatte ihre Aufmerksamkeit mehr Shinjis Zustand gegolten.
\"Ein Bohrer?\"

\"MAGI sind bei der Auswertung!\" - \"Erste Panzerungsschicht durchbrochen!\"

Auf dem Bildschirm tauchte ein Querschnitt des Gebietes auf, zwischen Tokio-3 und der Geo-front lagen insgesamt 24 Panzerungsschichten, jede fünfte war von einer besonderen Dicke.

Nicht zum ersten Mal, doch erstmalig in solcher Intensität, fragte Misato sich, weshalb die En-gel mit ihren Angriffen auf das NERV-Hauptquartier abzielten. War es, weil sich hier die EVAs befanden, die es mit ihnen aufnehmen konnten? - Eher unwahrscheinlich, die Engel hät-ten überall auf der Welt zuschlagen können, ohne daß die EVAs rechtzeitig vor Ort hätten auf-tauchen können. Was also zog sie nach Tokio-3?
Es mußte etwas sein, daß sich im Hauptquartier befand... oder vielleicht darunter...
Misato wußte, daß sich unter dem CentralDogma, dem inneren Bereich des Hauptquartiers, ein weiterer Bereich lag, das TerminalDogma, welcher jedoch nur Kommandant Ikari und einer Handvoll anderer, zu denen sie nicht gehörte, zugänglich war.
War dort das, was die Engel suchten?

Die drei Supercomputer der MAGI-Klasse, welche nicht nur als Hauptrechner von NERV dienten, sondern auch fast alle Vorgänge in der Stadt über ihnen steuerte, hatten inzwischen berechnet, wie lange der Engel brauchen würde, um in die Geofront vorzudringen, demnach würde er am morgigen Tag kurz nach Mitternacht die letzte Panzerungsschicht durchdringen.
Wieviel Zeit ihnen dann noch blieb bis zum prophezeiten Third Impact, war ihr nicht bekannt.
Jetzt war es fast Mitternacht, sie hatten etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, um den Engel aufzuhalten...


*** NGE ***


Mit dem Morgen lagen nach einer durchwachten Nacht erste Erkenntnisse vor, denenzufolge der Engel auf jede auch nur potentielle Bedrohung innerhalb des Stadtgebietes mit aller Macht und maschinenhafter Präzision reagierte, sobald etwas, das er als Gefahr einzustufen schien, in einen bestimmten Radius eindrang, wurde es unter Beschuß genommen und zerstört.
Und dieser Radius war größer als die Wirkungsreichweite der Positronengewehre.
Nicht sicher jedoch war, ob die Waffenreichweite des Gegners auch diesem Radius entsprach, oder ob sie größer war und der Engel nur sein direktes Umfeld freihalten wollte.
Allerdings war es durch mehrere Versuche mit Hilfe der Verteidigungssysteme der Stadt, wel-che dabei größtenteils vernichtet worden waren, gelungen, die ungefähre Stärke des AT-Feldes zu bestimmen, welches das Ziel: Ramiel umgab.

Während Misato beim MAGI-System in Auftrag gab, in der Umgebung mögliche Standorte zu bestimmen, von denen aus man den Engel unter Beschuß nehmen konnte, und während in ih-rem Kopf ein Plan heranreifte, wie man den Engel vielleicht noch stoppen konnte, verließ Gen-do Ikari das Hauptquartier mit unbekanntem Ziel, nachdem er das Kommando seinem Stellver-treter, Kozo Fuyutsuki übergeben hatte.
Misato Katsuragi machte sich nicht die Mühe, die Motive des Kommandanten zu hinterfragen, sie war sich sicher, ohnehin nur aufzulaufen. In ihren Augen war es jedoch bezeichnend, daß der Oberbefehlshaber von NERV bei der ersten wirklichen Krise seine Stellung verließ und verschwand, während sein Sohn auf der Krankenstation immer noch nicht das Bewußtsein wie-dererlangt hatte und die Techniker unter Akagi hektisch daran arbeiteten, die beschädigten Tei-le der Panzerung von Einheit-01 auszutauschen und die Regeneration des darunterliegenden Gewebes zu beschleunigen.
Und Rei befand sich immer noch in voller Bereitschaft in der Steuerkapsel von Einheit-00.
Bei letzterem Gedanken lächelte Misato plötzlich.
Ohne Kommandant Ikaris Veto konnte sie beide EVAs und beide Piloten in ihren Plan mitein-beziehen. Mit dem Sub-Kommandanten würde sie schon klarkommen, dieser stand in ihren Au-gen mit beiden Beinen fest auf der Erde und würde die Notwendigkeit einsehen.
Sie mußte nur noch klären, von wo aus der Engel unter Beschuß genommen werden sollte, wie dies geschehen würde und wer wann letztendlich den Abzug betätigen würde.
Die MAGI nannten einstimmig den Tokio-3 gelegenen Hang des Fugotoyama als besten Punkt, von dem aus ein Angriff gegen das Ziel: Ramiel gestartet werden konnte.
Verblieb nur zu klären, ob es auch eine Waffe mit einer entsprechenden Reichweite gab, die imstande war, einen ausreichend fokussierten Energiestrahl abzufeuern, mit dem man das AT-Feld des Engels knacken konnte. Auch hierzu hatten die MAGI bereits Berechnungen ange-stellt, die benötigte Energiemenge hatte bei einem der Brückenoffiziere zu dem Ausruf geführt, daß man damit ja das ganze Land versorgen konnte.
Und damit hatte Misato schon das Wo und das Womit beantwortet, verblieben nur noch das Wie und das Wer.
Bei letzterem würde sie Shinji wegen seiner höheren Synchronrate bevorzugen, vorausgesetzt, er wachte in den nächsten Stunden auf und war fit genug für einen Einsatz.
Und das Wann war nicht wirklich ein Problem, der Angriff mußte erfolgen, bevor der Engel in die Geofront vorstieß, also spätestens kurz nach Mitternacht.
Bezüglich des Wie ließ sie bereits Nachforschungen entstellen und erfuhr, daß die Entwick-lungsabteilung von NERV an einem bis dahin nicht getesteten Energiegeschütz arbeitete, von dem allerdings schon ein Prototyp existierte, den man mit dem Zielcomputer eines EVAs kop-peln konnte.
Als schließlich Shigeru Aoba von der Brückencrew äußerte, daß vielleicht ein zweiter Schuß notwendig werden würde, modifizierte sie den Plan entsprechend unter der Voraussetzung, daß der Engel möglicherweise imstande war, auch den Hang des Fugotoyama unter Beschuß zu nehmen. In dieser Version ihres Planes würden beide EVAs, die ihnen zur Verfügung stan-den, zum Einsatz kommen, der eine als Schütze, der andere als Schild.
Eine weitere Recherche im Arsenal des Hauptquartiers stieß Misato auf eines der Dinge, die ganz klar unter die Rubrik \'hier sammelt sich wirklich alles an\' fielen - die keramikbeschichte-te Unterseite eines alten Space Shuttles, hitzebeständig genug, um die Reibungshitze beim Ein-tauchen in die Atmosphäre auszuhalten, und - wie die MAGI berechneten - auch dem Energie-strahl des Engels eine Minute zu widerstehen.
Misato brauchte eigentlich alles nur zusammenzutragen, die EVAs auf dem Berg Stellung be-ziehen lassen und zu beten, daß der Plan klappte. Und natürlich mußte Shinji aufwachen, damit auch zwei Piloten zur Verfügung standen.
Für den Transport zum Einsatzort würden Schwertransporter sorgen, ein Liftausgang für die EVAs befand sich auch außerhalb des Angriffsradius\' des Engels innerhalb der Hügel, so daß der Feind die Vorbereitungen vielleicht nicht einmal bemerken würde.
Katsuragi rückte ihr Headset zurecht, fühlte sich so wach und bereit wie schon lange nicht mehr, wobei sie hoffte, daß dieser Zustand auch anhalten würde.
\"Rei?\"

Der Kopf des Mädchen im EntryPlug von EVA-00 ruckte hoch.
\"Ja, Captain?\"
War es soweit? Würde sie nach oben in den Kampf geschickt werden?
In den letzten Stunden war sie in Gedanken mehrere verschiedene Szenarien durchgegangen. Abhängig von der Reaktionsgeschwindigkeit des Engels und dem Punkt, an dem sie die Ober-fläche erreichte, könnte es ihr durchaus möglich sein, einen, maximal zwei Schüsse aus einem mitgebrachten Positronengewehr auf ihn abzufeuern
Sie fürchtete den Tod nicht. Sie war ersetzbar...

\"Wir gehen einkaufen.\"

*** NGE ***


Eine halbe Stunde später hatte Misato alles, was sie benötigte, das heißt, EVA-00 schleppte die gepanzerte Shuttlehälfte auf dem Rücken und trug den Prototypen des Lasergeschützes in den Händen, während Misato in einem kleinen Elektroauto vor ihm durch die hohen Gänge des Hauptquartieres fuhr, dabei ab und an kurz den Kopf drehte und der Pilotin zuwinkte.
Sie brachten die beiden Teile nach draußen, wo sie auf Schwertransporter verladen und abge-fahren wurden.

Am Berg selber sollten inzwischen Bautrupps damit beschäftigt sein, eine Stellung auszuheben, während Technikerteams die nötigen Energieleitungen verlegten und Kühlaggregate installier-ten, damit das Geschütz nicht aufgrund der immensen Energiemenge, die durch es hindurchge-leitet werden sollte, eventuell beschädigt wurde, ehe es überhaupt zum Einsatz kam.
Zugleich wurden im ganzen Land Vorbereitungen für eine kurzfristige Überlastung des Strom-netzes, sowie ein Umleiten der Energie von den Kraftwerken nach Tokio-3 getroffen.

Katsuragi beorderte Rei aus dem Plug in einen Besprechungsraum, wo sie in Gegenwart des Subcommanders, Doktor Akagis und ihrer Assistentin, sowie der verschiedenen Sektionschefs den Plan noch einmal in allen Einzelheiten durchkaute und auf mögliche Schwachstellen unter-suchte.
Akagi gab bekannt, daß Shinji bis zum Mittag aufgewacht sein sollte, er hatte keine bleibenden Schäden davongetragen.
Misato wandte sich Rei zu.
\"Geh auf die Krankenstation und warte bei Shinji. Wenn er erwacht, will ich unverzüglich ver-ständigt werden. Du kannst ihm dann den Zeitplan erklären.\"

\"Verstanden.\"
Rei nickte und setzte sich in Bewegung.
Sie sollte über Ikari-kun wachen... eine profane Aufgabe, welche ihre Fähigkeiten nicht einmal ansatzweise auslasten würde, und die auch andere ausführen konnten, wozu verfügte NERV sonst über einen umfangreichen Stab von qualifizierten Ärzten, Schwestern und Sanitätern?
Allerdings erkannte sie die Bedeutung, die Ikari-kun für Captain Katsuragis Plan hatte. Vielleicht sollte sie ja sicherstellen, daß Ikari-kun bis zum Beginn des Einsatzes nichts zustieß.
Andernfalls würde sie selbst das Geschütz bedienen... dann würde Ikari-kun gar nicht erst in Gefahr geraten... wahrscheinlich würde sie EVA-01 benutzen können, da die Reaktivierungs-test mit Einheit-00 nicht abgeschlossen worden waren.
Und weshalb rief die Aussicht, längere Zeit mit ihm allein zu sein, ein seltsam prickelndes Ge-fühl in ihrer Magengegend hervor? Sie hatte doch nichts zu sich genommen, das eine allergi-sche Reaktion hätte hervorrufen können...
Immer noch über die Situation nachdenkend, erreichte sie die Krankenstation des Hauptquar-tiers. Der vorherrschende sterile Geruch erinnerte sie an die Zeit, die sie selbst dort verbracht hatte, nachdem sie bei EVA-00s Amoklauf schwer verletzt worden war. An diesem Ort hatte sie die Einsamkeit in ihrem Herzen mit voller Macht gespürt, wenn teilweise Tage vergingen, in denen nur ab und an eine Schwester nach ihr sah und die Transfusionströpfe austauschte.
Ikari-kuns Zimmer hatte sie schnell gefunden, im Augenblick war nur eines auf der ganzen Sta-tion belegt. Die Krankenstation im Hauptquartier war nur für NERV-Angehörige vorgesehen, für Zivilisten gab es medizinische Eirichtungen auf der Bunkerebene, welche wie ein vergrabe-ner Ring die Stadt umgab. In diesem Moment dachte sie kurz an die Schwester von Mitschüler Suzuhara, welche sich immer noch dort befand, vertrieb den Gedanken aber rasch wieder.
Ikari-kun lag auf dem Bett, die dünne weiße Decke zeichnete seinen darunterbefindlichen Kör-per ab. Demnach trug er keine Kleidung. Seine PlugSuit hing über der Lehne eines Stuhles.
Rei fand seinen Anblick seltsam interessant und besorgniserregend zugleich.
Interessant, weil der von der Decke ab der Brust verborgene Teil seines Körper ihre Phantasie auf eine zuvor nicht vorgekommene Weise anregte, besorgniserregend, weil er immer noch schlief, wobei sein Gesicht eine wächserne Blässe angenommen hatte.
Atmete er auch richtig? Ja, wahrscheinlich, seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sehen, wie seine Halsschlagader unter der Haut pochte. Die Augen hinter den geschlossenen Lidern schienen sich zu bewegen.
Ob er wohl träumte? Sie fragte sich, wie es wohl war zu träumen, sie selbst konnte sich nicht genau erinnern, jemals geträumt zu haben, weder während ihrer Zeit im Klontank, noch in der Reifungskammer oder später, es gab nur Erinnerungsfetzen, die mit der Dunkelheit in EVA-00 in Verbindung standen. Vielleicht würde sie ihn später fragen, wie es war zu träumen...
Doch vorerst mußte sie darauf warten, daß er erwachte, ganz wie es der Captain befohlen hat-te.
So nahm sie auf dem Stuhl neben seinem Bett Platz und wachte über seinen Schlaf...
Kapitel 14 - Glaube

\"Ich will nicht sterben...\"

\"Ich will so nicht sterben...\"

\"Ich will leben...\"

Drei Stimmen, welche dieselben Worte wieder und wieder wiederholten, drei verschiedene Stimmen, die eine seine eigene, die anderen eine Frauen- und eine Männerstimme, von denen ihm nur die Frauenstimme vertraut vorgab... woher nur...

Das Gefühl, lebend gekocht zu werden...

Nach Atem schnappen...

Das rasende Herz, welches in seiner Brust zu explodieren scheint...

Schmerz...

Der Schmerz, als sich sein Körper in seine Bestandteile auflöst...

Die Dunkelheit, welche nach ihm greift, ihn fortträgt ins Vergessen...

Schmerz...

Das Krachen brechender Knochen...

Wasser, das über ihm zusammenschlägt...

Schmerz, der ihn fortträgt...

\"Ich will leben...!\"


*** NGE ***


Shinji Ikari fuhr in die Höhe.
\"Ich will leben...\" stieß er hervor.
Eben noch hatte er sich im EntryPlug von EVA-01 befunden...
War bei lebendigem Leibe geröstet worden...
War in seine Moleküle aufgelöst worden...
War an einer Betonmauer zerschmettert worden...
War tausendfach gestorben.
\"Mama...\" flüsterte er, als eine halb verschüttete Erinnerung in ihm hochkam, seine Mutter, die an seinem Bett gesessen und ihm Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hatte, seine Mutter, die er vor vielen Jahren verloren hatte und die ihm jetzt in diesem Moment doch so nahe zu sein schien...
Da saß tatsächlich jemand an seinem Bett...
\"Ah...\"
Sein Blick klärte sich.
Das Bild seiner Mutter, welches er eben noch vor Augen gehabt hatte, verblaßt, schrumpfte, nahm andere Farben an, obwohl sich die Züge seltsamerweise nur geringfügig veränderten.
\"Ayanami...\"

Rei zuckte zusammen, als Ikari-kun in die Höhe schoß, plötzlich aufrecht im Bett saß.
Seine Decke rutschte von seiner Brust, entblößte seine Hühnerbrust. Ikari-kun war nicht kräf-tig gebaut, aber das war für die Mission auch nicht nötig, die Muskeln lieferte der EVA.
Doch als er nach seiner Mutter rief, überlief es sie eiskalt, so daß sich ihre Freude darüber, daß er endlich aufgewacht war, in Grenzen hielt.
Sie blickte ihn schweigend an, sah, wie er die Augen zusammenkniff, sie endlich erkannte, ih-ren Namen flüsterte.
Ayanami... der Name, den man ihr gegeben hatte, mit dem jeder sie ansprach. Sie verband nichts damit. Doch Ikari-kun... wenn er sie ansprach, dann voller Respekt. Niemand sonst sprach mit Respekt zu ihr... der Captain war freundlich, aber sie kannte sie nicht... der Doktor schien sie nicht leiden zu können, ihr schien es Vergnügen zu bereiten, sie mit Nadeln zu pie-sacken und endlos zwischen den Tests warten zu lassen... und der Kommandant... ihr Schöpfer sah sie an und wenn er einmal etwas anderes sah, als ein Werkzeug in seinem Plan, dann sah er sie, jene nach deren Vorbild sie erschaffen worden war, deren Gesicht sie hatte...
Aber Ikari-kun... er schien in ihr eine Person zu sehen.
\"Du bist wach.\" stellte sie fest.
Etwas in ihr schien ihr zurufen zu wollen, daß sie etwas anderes hätte sagen sollen, doch ihr war nicht klar was.

\"Wo...\"
Er sah sich um.

\"Krankenstation. NERV-Hauptquartier. Geofront.\" gab sie ihm die gewünschte Auskunft.

Er nickte.

Sie stand auf, drückte erst den Rufknopf neben der Tür und holte dann den Wagen, der auf dem Gang stand, und auf dem sich ein Tablett mit Essen befand.
Es war das übliche Krankenhausessen, Rei hätte es nicht angerührt, wenn ihr Leben davon ab-gehangen hätte, die Hälfte davon bestand mit ziemlicher Sicherheit aus Stoffen, welche ihr Körper nicht vertrug. Während ihres eigenen längeren Aufenthaltes auf der Krankenstation war sie intravenös ernährt worden. Aber vielleicht konnte Ikari-kun der seltsam gefärbten Pampe etwas abgewinnen, die sich in den Mulden des Tabletts befand.
\"Dein Essen. Du sollst essen, sobald du aufgewacht bist.\"

Nahrungsaufnahme war wichtig für den Erhalt der menschlichen Funktionsfähigkeit. Auch sie mußte essen.
Dennoch starrte er das Tablett nur an.

\"Ich will nichts essen.\"

\"Du solltest aber, wir brechen in...\" sie sah auf die Uhr, berechnete die verbleibende Zeit bis zum Beginn des Einsatzes, \"zweiundsiebzig Minuten auf.\"

\"Was?\"

Sie holte ihr Notizbuch hervor, um sein Wissen auf den aktuellen Stand zu bringen.
\"14:00 Uhr - Die Piloten treffen im Hangar ein.
14:30 Uhr - EVA-00 und EVA-01 werden aktiviert
15:00 Uhr - Ausrücken, die EVAs verlassen den Stützpunkt über Schacht 14.
16:00 Uhr - die EVAs treffen beim provisorischen Hauptquartier am Fuß des Fugotoyama ein.
19:30 Uhr - die EVAs gehen am Hang des Fugotoyama in Stellung und graben sich ein.
Von da an Bereithalten für weitere Befehle.
19:37 Uhr - Sonnenuntergang. Zu diesem Zeitpunkt sollten die EVA spätestens einsatzbereit sein.
23:50 Uhr - Voraussichtlicher Beginn des Einsatzes - die Geschützstellung wird mit der Ener-gie von ganz Japan versehen.
23:55 Uhr - Voraussichtlicher Zeitpunkt, zu dem die Geschützstellung einsatzbereit ist.
00:13 Uhr - Voraussichtlicher Zeitpunkt des Third Impact, so es nicht gelingt, den Engel auf-zuhalten.\"

Shinji trat der Schweiß auf die Stirn, zugleich begann er zu frieren.
\"Ich soll... ich soll wieder in das Ding steigen? Bei dem, was mir gerade passiert ist?\"
Die Erinnerung an den Schmerz kehrte zurück, an den Eindruck, wieder und wieder zu ster-ben, gekocht, atomisiert, aufgelöst, zerschmettert und zerrissen zu werden.

Rei sah ihm in die Augen, sah die Furcht, die ihn erfaßt hatte.
Nur konnte sie seine Angst nicht verstehen, er hatte doch überlebt! Jeder von ihnen konnte im Einsatz fallen... auch wenn sie es auf eine Art bedauern würde, die sie selbst nicht genau hätte beschreiben können, sollte ihm etwas zustoßen. Die Mission hatte doch Vorrang! Wenn sie den Engel nicht aufhielten, würde dies das Ende bedeuten, für sie, für ihn, für alle. Wenn sie fiel, so war sie ersetzbar... doch er war es nicht... deshalb würde sie ja auch den Schild benutzen und ihm und EVA-01 die nötige Deckung geben statt umgekehrt...
Aber er mußte sich entscheiden, was er tun wollte, noch war Zeit, den Einsatzplan zu ändern und auf einen EVA umzuarbeiten, vielleicht konnten die Konstruktionsteams, die jetzt schon am Berg arbeiteten, auch noch eine feste Stellung errichten...
Dann erinnerte sie sich daran, wie Ikari-kun ursprünglich dazu gebracht worden war, in den EVA zu steigen, wie sie es in den Aufzeichnungen gesehen hatte.
\"Wenn du nicht willst, dann geh. Dann steuere ich EVA-01.\"
Er sah sie an, sein Blick veränderte sich... sie hatte also die richtigen Worte gewählt.
\"Ein Feigling würde die Operation ohnehin nur gefährden.\"
Ikari-kun kniff die Augen zusammen...
\"Die Personaldaten sind schnell umgeschrieben.\"
Sie stellte sich seinem Blick. Ikari-kun schien es nicht ausstehen zu können, als Feigling be-zeichnet zu werden... zugleich fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben Scham, sie schämte sich dafür, derart mit ihm umzuspringen, fühlte sich seiner Freundschaft nicht wert, weil sie ihn ausnutzte.
Sie wandte sich ab, konnte seinen Blick nicht mehr ertragen... noch wenige Augenblicke und sie hätte... sich bei ihm... entschuldigt... Sie hatte sich noch nie zuvor bei jemandem entschul-digt... oder auch nur den Drang dazu verspürt...
\"Und iß etwas...\" murmelte sie beim Rausgehen.

Shinji starrte auf die zugefallene Tür.
\"Ayanami...\" murmelte er.
Die Angst war seltsamerweise fort, wenigstens für den Moment.
Sie hielt ihn für einen Feigling...
Und obwohl ihm das eigentlich hätte egal sein können - schließlich wollte sie, daß er sich in Lebensgefahr begab -, aber das war es nicht. Ihre Worte nagten an ihm.
Jeder hätte ihn einen Feigling nennen können, angesichts seiner jüngsten Erlebnisse hätte er wohl nur mit den Schultern gezuckt, doch Ayanamis Worte hatten ihn tiefer getroffen. Was an-dere von ihm dachten, war ihm egal, wenn sie ihm schon den Respekt und die Anerkennung verwehrten, die er sich seiner Ansicht nach mit den beiden letzten Kämpfen verdient hatte, konnten sie seinetwegen von ihm denken, was sie wollten... nur bei ihr war es ihm nicht egal...
Langsam griff er nach dem Tablett...


*** NGE ***


Punkt drei Uhr nachmittags öffnete sich in der Tokio-3 abgewandten Seite eines Hügels ein bis dahin unter der Vegetation verborgenes Metallschott.
Mit stampfenden Schritten verließen EVA-00 und EVA-01 den versteckten Zugang zur Geo-front.
Der Einsatz hatte begonnen.
Zwischen den Piloten herrschte Funkstille, der eine war der Ansicht, der anderen nichts mehr zu sagen zu haben, bis er ihr bewiesen hatte, kein Feigling zu sein, die andere wußte nicht, was sie hätte sagen sollen - und zum ersten Mal in ihrem Leben zerbrach sie sich den Kopf darüber.
Sie umrundeten die Stadt weitläufig, blieben dabei auf der anderen Seite der Hügel und außer Sicht des Engels.
Wie im von den MAGI aufgestellten Zeitplan vorgesehen, erreichten sie eine Stunde später das Basislager am Fuß des Berges, wo Misato Katsuragi und der taktische Stab Quartier bezogen hatten, während Subcommander Fuyutsuki in der Geofront die Stellung hielt.
Das Gelände und die Rückseite des Berges waren übersät von würfelförmigen Kühlaggrega-ten, die mit dicken Kabeln untereinander vernetzt waren. Vor Ort befand sich auch ein neuer Netzanschluß für die Versorgungskabel der EVAs.
Dann machten sie sich an den Aufstieg zur Geschützstellung.
Provisorische EVA-Käfige waren in der Geschützstellung vorbereitet worden, so daß die Pilo-ten zum letzten Briefing ihre EntryPlugs verlassen konnten. Zwischen den Käfigen verliefen mehrere Verbindungsstege. Das Areal wurde von zahlreichen großen Scheinwerfern ausge-leuchtet, die EVAs hingegen erschienen als gewaltige Schattenwesen, die am Rand des er-leuchteten Feldes zu lauern schienen.

Misato Katsuragi, Ritsuko Akagi und Maya Ibuki waren noch anwesend, nach der letzten Be-sprechung würden sie sich in das Basislager zurückziehen.
Misato deutete auf die Gegenstände in der Stellung.
\"Das dort ist eine Positronenkanone, allerdings nur ein Prototyp. Wir haben ihn mit dem Ab-zugsystem eines gewöhnlichen Gewehrs versehen, die Montage ist jedoch nur provisorisch, die Waffe ist unseren Berechnungen zufolge imstande, das AT-Feld des Engels zu durchschlagen, allerdings ist sie für einen mehrfachen Gebrauch noch nicht zu gebrauchen, da jeder Schuß an ihrer Präzision zehrt. Das heißt, daß maximal drei Schüsse möglich sein werden.
Dieser Schild dort ist eigentlich das Unterteil eines Space Shuttles, es wurde im Laufe des Ta-ges speziell behandelt und sollte imstande sein, dem Feuer des Gegners siebzehn Sekunden lang standzuhalten, maximal zwanzig.
Das Gewehr nachzuladen nimmt dreißig Sekunden in Anspruch, die Prozedur entspricht dem Laden eines gewöhnliches Positronengewehres, allerdings kommt eine längere Kühlphase dazu. Der erste Schuß muß sitzen.
Shinji, du wirst das Gewehr abfeuern, deine Synchronrate ist höher.\"

\"Verstanden.\"
Shinji nickte knapp, bemühte sich, ein entschlossenes Gesicht zu machen.

\"Rei, du bist für die Defensive zuständig.\"

\"Verstanden.\"
Sie hatte vorher schon gewußt, daß sie diesen Part übernehmen würde. Sie würde für Ikari-kuns Sicherheit verantwortlich sein... und sie würde nicht scheitern...

Akagi trat vor, wandte sich direkt an Shinji, ignorierte Rei völlig.
\"Shinji, der Energieausstoß des Gewehrs wird vom Magnetfeld der Erde, der Erdrotation und einigen anderen Dingen beeinflußt, das mußt du bei deinem Schuß berücksichtigen.\"

\"Uhm... das habe ich nicht geübt.\" warf er ein, fühlte seine größtenteils ohnehin nur vorge-täuschte Entschlossenheit bröckeln.

\"Ich habe den Zielcomputer entsprechend neu programmiert, es werden jetzt zwei Fadenkreuze auf deinem Monitor auftauchen, wenn diese sich in der Mitte treffen und überlappen, mußt du feuern. In der Kapsel wurde ferner ein Zielvisor montiert, der die Daten des Zielcomputers gleich auf die Netzhaut überträgt und dadurch die Reaktionszeit um einige Millisekunden ver-ringert.\"

\"Ja, verstanden.\"

\"Wegen der langen Kühlphase wird jeder Schuß nach dem ersten zu einem unkalkulierbaren Risiko. In dieser Zeit mußt du eventuellem Gegenfeuer des Engels ausweichen. Als letzte Möglichkeit steht der Schild zur Verfügung.\"

Shinji sah zur Seite, wo Ayanami in ihrer PlugSuit unbeweglich wie eine Statue mit ausdrucks-losen Gesicht neben ihm stand.
Wenn sein erster Schuß nicht saß, würde er Ayanami in Gefahr bringen, die dann den Gegen-schlag abwehren müßte... wenn er versagte, konnte sie verletzt oder gar getötet werden... er durfte nicht scheitern...

\"Gut, macht euch fertig und wartet auf weitere Anweisungen! Es ist nicht mehr viel Zeit, jetzt, in diesem Augenblick, werden die ersten Schaltungen vorgenommen, um uns den Strom des ganzen Landes zur Verfügung zu stellen.\"

Beide bestätigten, gleichzeitig und völlig synchron.

\"Viel Glück\", flüsterte Misato, sah beiden noch einmal in die Augen und ging dann zu dem Ge-ländewagen, wo Akagi und Ibuki bereits auf sie warteten.


*** NGE ***


Mitternacht rückte näher.

Die beiden Piloten saßen auf den metallenen Laufstegen an der Oberseite der provisorisch auf-gebauten Käfige, jeweils getrennt durch einen Abgrund.

Shinji Ikari hockte im Schneidersitz neben dem riesigen Kopf seines EVAs, dessen Augen jetzt noch tot und leblos waren, in Bälde jedoch aufglühen würden, wenn der Roboter mit Energie versorgt wurde. Immer wieder sah er zur Seite, hoffte auf eine Reaktion seiner Kampfgefähr-tin.

Rei Ayanami blickte starr geradeaus, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, wirkte in Shinjis Augen irgendwie verloren und dennoch entschlossen. Ihre ohnehin blasse Haut schien im Mondlicht noch bleicher, ihr bläuliches Haar hatte etwas gespenstisches, ebenso ihre schar-lachroten Augen.
Sie wußte, daß Ikari-kun sie immer wieder anblickte, doch diesesmal war sie es, die einen Kloß im Hals zu spüren schien, der jedes Wort abwürgte. Was konnte sie schon sagen? Ihn um Ver-zeihung bitten, daß sie ihn in diese Lage gebracht hatte? Sie hatte sich noch nie bei jemandem entschuldigen müssen, hatte immer nur getan, was man ihr gesagt hatte...
Wann nur hatte sie begonnen, ihre eigenen Gedanken zu denken...
Bevor Ikari-kun in Tokio-3 aufgetaucht war, war alles einfacher gewesen. Danach war alles viel zu kompliziert geworden... Plötzlich hatte sie sich verpflichtet gefühlt, den anderen Piloten zu beschützen. Seine Handlungen hatten in ihr den Wunsch geweckt, ihn zu verstehen, um bes-ser mit ihm zusammenarbeiten zu können. Er hatte sich besorgt über ihre Verletzungen ge-zeigt, war ihr mit Freundlichkeit und Respekt begegnet, hatte ihr seine Freundschaft angebo-ten... Sie hatte versucht, ihre Gefühle zu unterdrücken und zu ignorieren, so wie sie es seit Be-ginn ihrer bewußten Existenz getan hatte, doch sie konnte sich der Erkenntnis nicht verschlies-sen, daß sie für ihn Sympathie empfand, daß sie Ikari-kun mochte. Nicht, weil er der Sohn des Kommandanten war, nicht weil er ebenfalls EVA-Pilot war, auf den sie sich mit ihrem Leben verlassen können mußte, sondern weil er der war, der er war, weil er ihr ähnlich war... und jetzt hatte sie es nicht nur mit dieser Sympathie, sondern auch noch mit einem Gewissen zu tun.

\"Wir könnten sterben...\" murmelte Shinji.
Ayanami war mutig, sie schien keine Angst zu kennen, ihm hingegen schlotterten die Knie beim Gedanken daran, was sie vorhatten. Wenn der Engel schneller reagierte, als man es berechnet hatte... wenn er die Leistung seines Energiestrahles verstärken konnte... wenn der Prototyp des Geschützes versagte... wenn er vorbeischoß... wenn der Schild eher unter der Hitze nachgab... wenn, wenn, wenn...

\"Warum sagst du soetwas?\"
Ikari-kuns Worte machten es ihr nicht leichter.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die bangen Momente, in denen sie darauf gewartet hatte, daß der beschädigte EVA-01 nach der ersten Begegnung mit dem Ziel: Ramiel in den Hangar zu-rückkehrte, erinnerte sich der Wut, die in ihm aufstieg, als sie von Ikari-kuns Zustand erfuhr, eine Wut, die nicht der Dunkelheit aus dem Herzen des EVAs entsprungen war.

\"Ist es dir völlig egal, was geschehen könnte?\" fragte er überrascht.

Es war ihr nicht egal, deshalb würde sie ja dem Schild halten und nicht EVA-01... aber das konnte sie ihm schlecht sagen, konnte ihm nicht sagen, daß sie ersetzbar war, daß sich im Ter-minalDogma noch dutzende an Ersatzkörpern für sie befanden, von denen sie einen nach dem Ende der Existenz dieser Hülle in Besitz nehmen konnte... und vielleicht würde dies auch der bessere Weg sein, denn der Übergang würde ihre Erinnerungen teilweise auslöschen, so daß sie sich vielleicht nicht mehr mit verwirrenden Gefühlen herumschlagen mußte... Jedenfalls hatte Doktor Akagi ihr so die Begleiterscheinungen einer neuen Inkarnation mit seltsam hämischen Unterton erklärt.
\"Es ist meine Aufgabe, EVA-00 zu steuern.\"

\"Ja, aber weshalb tust du es?\"

Sie blickte kurz zur Seite, sah ihn einen Moment lang an, ehe ihr Blick wieder in die Ferne schweifte. Zu seiner Überraschung lag in ihrem Blick Traurigkeit, und er fragte sich, ob sie sich vielleicht genauso einsam fühlte wie er selbst.
\"Wegen meiner Verbindung.\"
Warum mußte Ikari-kun soviele Fragen stellen? Wie sollte sie ihm erklären, daß sie zum Teil auch hier war, um dafür zu sorgen, daß er nicht zu Schaden kam? Schließlich war er nicht er-setzbar... wahrscheinlich würde der Kommandant schnell einen anderen geeigneten Piloten fin-den, doch Ikari-kun war nicht ersetzbar... nicht in ihrem Herzen...

Shinji war überrascht.
Verbindung...
Was meinte Ayanami damit?
\"Verbindung? Zu meinem Vater?\"
Der zweite Satz war voller Bitterkeit. Er erinnerte sich, wie er vor kurzem seinen Vater und Rei beobachtet hatte, wie sie sich unterhielten, wie sein Vater ihr die Aufmerksamkeit gewid-met hatte, die er ihm, seinem eigenen Sohn, verweigerte.

Zum Kommandanten? Wie kam Ikari-kun auf den Gedanken? Ihre Mission diente dem Schutz und der Rettung aller Menschen...
\"Nein, zu allen Menschen.

\"Zu allen... Du besitzt innere Stärke, Ayanami, du bist viel stärker als ich es je sein werde.\" flü-sterte er resignierend. Sie mußte ein großes Verantwortungsgefühl besitzen, um so reden zu können.

\"Ich habe nichts anderes.\" antwortete sie ebenfalls flüsternd, hoffte, daß ihm die Traurigkeit nicht auffiel, welche sie verspürte.

Ihr monotoner Tonfall jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
\"Nichts anderes?\" wiederholte er. Seine Kehle wurde trocken.

In diesem Moment erloschen in der Stadt alle Lichter.

Rei stand auf.
Die Operation begann... ab jetzt durfte sie nicht zulassen, daß irgendwelche Gefühle die Ober-hand bekamen, in Ikari-kuns und ganzen Welt Interesse.
\"Es ist soweit.\"

\"Ja.\"
Er erhob sich aus seinem Schneidersitz, schüttelte die Beine aus.
Sein Blick fiel auf das halb im Schatten verborgene Gesicht des EVAs, ihm war, als funkelten die Augen kurz auf.
\"Ayanami...\"

\"Ja?\"

\"Ich habe Angst.\"
Das Geständnis war gar nicht schwer, sie wußte es doch ohnehin.

Rei verharrte an der Zugangsluke, preßte die Lippen zusammen, wollte zuerst keine Antwort geben und einsteigen. Doch sie konnte es nicht, spürte seinen stummen Blick in ihrem Rücken.
\"Du wirst nicht sterben... Ich werde dich beschützen.\"

Shinji schluckte trocken. Ihrem Tonfall entnahm er, daß sie es absolut ernst meinte.
\"Ayanami...\"

\"Leb wohl...\"
Ikari-kun konnte nicht wissen, wie weit sie bereit war zu gehen, um ihn zu schützen.
Vielleicht würde sie an diesem Abend ihre zweite Existenz beenden, nur um in wenigen Tagen wieder zu erwachen, ohne sich an ihn oder seine Freundlichkeit zu erinnern. Die Situation rechtfertigte einen Abschiedsgruß.


*** NGE ***


Die EVAs waren inzwischen völlig aktiv, EVA-01 kniete hinter dem Geschütz, während EVA-00 schräg vor ihm hockte, den Schild bereit.

\"Shinji, Rei?\"

\"Ja, Misato?\" - \"Ja, Captain Katsuragi?\"

\"Es ist jetzt gleich zwölf Uhr. Die Operation beginnt. Shinji, wir geben dir die gesamte Energie von Japan.\"

\"Bereit.\"
Seine Stimme verriet die Unsicherheit und die Angst nicht, die ihn erfüllten. Er wollte Misato nicht beunruhigen. Und er wollte sich selbst keine Schwäche gestatten, mußte seine Gefühle unter Kontrolle halten, damit der EVA sie nicht reflektierte und vielleicht wieder zum Berser-ker wurde und angriff, was sich in seiner Nähe befand...
Shinji verfolgte die Anzeigen, welche den Energieanstieg anzeigten. Immer mehr Energie wur-de in das Gewehr geleitet.
Er klappte das Zielvisier nach unten.
Sein Herz schien viel schneller zu klopften als normal, als er den Engel in der Vergrößerung se-hen konnte.

Ramiel hatte inzwischen bis auf die letzte Panzerschicht alle durchdrungen, stand kurz davor, in die Geofront einzudringen. Es war höchste Zeit...

Der Anblick brach noch einmal die Erinnerung auf, noch einmal sah er durch die Augen von Einheit-01 den grellen Energiestrahl auf sich zurasen, glaubte er den Aufprall zu spüren, ver-meinte er, in der sich aufheizenden LCL-Flüssigkeit lebendig gekocht zu werden. Dann war da nichts mehr, nur Dunkelheit, eine stille, kalte Dunkelheit, nicht die haßerfüllte Finsternis, die er kennengelernt hatte, sondern die Stille des Todes.
Plötzlich fürchtete er sich vor dem Tod, eine Angst, von der er vor seiner Ankunft in Tokio-3 geglaubt hatte, sie wäre ihm fremd - warum auch nicht, weshalb hätte es ihm auch nicht egal sein sollen, ob er lebte oder starb, wenn der eigene Vater ihn wie Dreck behandelte, die Ziehel-tern eigentlich nur immer auf den nächsten Unterhaltscheck warteten und die Mitschüler ihn als Waisenkind verhöhnten... doch jetzt hatte sich etwas geändert, es gab Menschen, denen er et-was bedeutete... Misato, sie hatte ihn bei sich aufgenommen... in seiner neuen Klasse wurde er respektiert, nicht nur weil er einen EVA steuerte... er hatte Freunde gefunden, auch wenn Su-zuhara ihm anfangs ein neues Gesicht hatte verpassen wollen... Suzuhara, Aida... und Ayana-mi... Ayanami, schweigsam, geheimnisvoll...
Wegen ihr saß er im Pilotensitz - damit sie ihn nicht für einen Feigling hielt... und wenn er den Kampf überlebte und gleich im Anschluß damit begann, dann konnte er sich vielleicht erfolg-reich einreden, daß es ganz anders war, daß er aus anderen Gründen in den EVA gestiegen war... genauso wie beim ersten Mal nach seiner Ankunft... es war alles nur eine Frage des Selbstbetruges...
Trotzdem hatte er Angst.
Doch die Angst zu sterben war nicht so stark wie die Furcht vor der Dunkelheit und dem Haß, welche ihn überkamen, sobald EVA-01 in den Kampf ging.
Er aktivierte das Interkom, stellte eine Verbindung zu Einheit-00 her, um es ihr zu sagen, um diese vielleicht letzte Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.
\"Ayanami?\"

\"Ja, Ikari?\"

Was er ihr eigentlich hatte sagen wollen, war vergessen, sein Mut verloren, stattdessen fragte er nur:
\"Bist du bereit?\"

\"Ja.\"

Die Zeitanzeige sprang auf Mitternacht. Das Gewehr hatte genug Energie.

Er zielte.

Die Zielvorrichtung half ihm, die Haltung von EVA-01 zu korrigieren, der Engel war nun ge-nau im Fadenkreuz.
\"Feuer\", flüsterte Shinji und drückte ab. Ein heller Energiestrahl schoß aus der Gewehrmün-dung auf den Engel zu.

Im gleichen Moment reagierte Ramiel, vielleicht hatte er seine Feinde schon vorher entdeckt, sich aber absichtlich ignorant verhalten, solange sie keine Gefahr für ihn darstellten, vielleicht verfügte er aber auch über entsprechende Reflexe. Sein eigener Energiestrahl jagte auf die Schützenstellung zu.

Die Strahlen trafen sich über Tokio-3, lenkten einander ab.

\"Daneben...\" zischte Shinji und befolgte die Anweisungen, die er über Funk erhielt, um einen weiteren Schuß vorzubereiten. Er war plötzlich ganz ruhig, es gab nur noch ihn, das Gewehr und den Engel. Einen Moment lang wurde Ramiel in seiner Vorstellung vom Gesicht seines Vaters ersetzt.
Wut stieg in ihm auf, doch es war seine eigene Wut, eher hilfloser Zorn als zerstörerischer Haß.

Wieder feuerte der Engel.

EVA-00 brachte den Schild in Position, der Energiestrahl traf auf die Keramikschichten, be-gann sie langsam zu schmelzen.

Shinji blickte auf den Chronometer, verglich die beiden Countdowns miteinander. Der eine zeigte an, wie lange es noch dauern würde, bis das Gewehr wieder bereit war. Der andere sag-te ihm, daß der Schild diese Zeit nicht standhalten würde, daß zwei Sekunden fehlen würden.

Der Kanal zu Einheit-00 war noch offen, er sah, daß Ayanami ihr Gesicht vor Anstrengung verzog. Shinji begriff - der Schild mochte den Strahl aufhalten, doch die Energie war stark ge-nug, entfaltete genügend Hitze, daß sich auch EVA-00 erhitzte, daß sich das LCL im Inneren des Plug langsam erwärmte... Ayanami schwebte in Lebensgefahr... und alles nur, weil er ver-sagt hatte...
\"Ayanami, wenn der Schild geschmolzen ist, dann wirf ihn weg und lauf!\"
Es war ihm plötzlich egal, daß er dann ungeschützt war, daß er wahrscheinlich den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde. Sie war viel mutiger als er, sie mußte leben... Sicher kam sie ohne ihn besser klar, ohne jemanden, der ständig Furcht zeigte, der sich nur entschul-digte...

\"Nein.\"
Der Schild gab nach, zerfiel. EVA-00 richtete sich auf, fing den Energiestrahl mit seinem eige-nen Körper auf.
Ikari-kun mußte leben!
\"Ich werde dich... Ahhhh!\"
Die Verbindung brach ab.

\"Ayanami!\" brüllte Shinji aus Leibeskräften.

\"Gewehr bereit!\" drang Misatos Stimme aus dem Lautsprecher. Sie war aufgeregt, nervös, aber nicht so nervös wie der Junge unter dem Visier.

Shinji mußte nicht mehr zielen. Er wußte, wo sich der Engel befand, konnte ihn fast spüren, es war, als führte jemand seine Hand, ein wohlwollender unsichtbarer Mitstreiter, welcher den Haß zurückhielt, der nun aus der Dunkelheit aufzusteigen schien.
Er drückte ab...

Die folgende Explosion zeigte ihm, daß er getroffen hatte, daß Ramiel vernichtet worden war, doch das war ihm fast egal, seine Mitstreiterin war wichtiger.

\"Ayanami!\" brüllte er wieder ihren Namen, auf eine Antwort hoffend.
Es kam kein Funkkontakt zustande, der Bildschirm blieb dunkel. Einheit-00 war reglos neben Einheit-01 zusammengesunken, die Brustpanzerung völlig zerschmolzen.
\"Das darf nicht...\"
Kurz entschlossen packte er das Element der Rückenpanzerung, die den EntryPlug-Zugang be-deckte, riß es heraus.
Es war ihm egal, ob er dabei den EVA beschädigte oder vielleicht sogar zerstörte,

Der EntryPlug von Einheit-00 schoß hervor, heiße LCL-Flüssigkeit wurde ausgestoßen.

\"Shinji, wir sind unterwegs, in einer Viertelstunde sind wir...\"
Er schaltete die ComPhalanx ab, durfte sich von Misato jetzt nicht ablenken lassen.
Für Ayanami ging es vielleicht um Sekunden...

Er ließ EVA-01 den Plug ergreifen und sanft auf dem Boden ablegen, brachte den Roboter dann in eine liegende Haltung und führte manuell die Evakuierung des eigenen Plugs durch, so daß er auf Bodenniveau die Einstiegsluke verlassen konnte.
Eilig hastete er zu dem anderen Plug hinüber, griff nach dem Handrad der Zugangsluke.
Shinji zuckte zurück. Die Plastikummantelung war heiß.
Wie sollte er die Luke öffnen, wenn er sie nicht entriegeln und aufziehen konnte, ohne sich da-bei die Hände zu verbrennen? - Und wenn schon, Ayanami war wichtiger...
Erneut ergriff er das Handrad mit beiden Händen, hatte mit einem kräftigen Ruck bereits eine halbe Umdrehung geschafft, bevor er der Hitze gewahr wurde, die sich durch seine Handschu-he fraß.
Eine weitere Vierteldrehung... es stank nach angekokelten Plastik, der Gestank kam von seinen Handschuhen... Shinji biß die Zähne zusammen.
Noch eine halbe Umdrehung... ein leises Knacken... der Schmerz war inzwischen unerträglich, in seinen Augen standen Tränen.
Mit einem letzten Kraftakt zog er die Luke auf, kletterte in dunkle Innere, zerrte sich dabei die Handschuhe herunter und ließ sie achtlos fallen.
In seinen Händen pochte und pulsierte es.
Wo war Ayanami?
Der Pilotensitz... vorsichtig tastete er nach der Lehne, unterdrückte bei der Berührung seiner geschundenen Hände mit der Rückenlehne einen Schmerzenslaut. Ob er ähnliche Narben da-vontragen würde wie sein Vater? Er verscheuchte den Gedanken sofort wieder. Schmerz war relativ, er würde vergehen. Ayanami war wichtiger. Sie hatte ihn beschützt...


*** NGE ***


Ikari-kun hatte den Engel verfehlt!
Doch es war nicht sein Fehler gewesen, vielmehr hatten sie den Engel unterschätzt, hatten ge-glaubt, er würde die Vorbereitungen auf dem Berg nicht bemerken, würde die beiden Riesen in der Geschützstellung übersehen...
Ihren Gedanken fehlte die ansonsten immanente Logik, statt mit taktischer Analytik betrachtete sie die Lage voller Emotion.
Jetzt war ihr Part gekommen, wie sie es versprochen hatte.
Sie stemmte sich mit dem Schild gegen den nächsten Energieschuß, hielt die Glut von EVA-01 und Ikari-kun fern.
Ihre Lippen bildeten Worte, eine stumme Bitte...
Der Schild gab nach.
Ikari-kun forderte sie auf, sich zurückzuziehen...
Warum wollte er sich opfern? Oder verkannte er, daß nur sie zwischen ihm und dem Engel war?
Er durfte nicht zu Schaden kommen... sie hatte es ihm versprochen... sie würde ihn beschü-tzen... sie wollte ihn beschützen... und wenn sie überlebte, dann würde sie ihn auch in Zukunft beschützen...
Mit ausgebreiteten Armen sprang sie in die Bahn des Energiestrahls, ließ EVA-00 ihn mit der Brust abfangen, erkauft Ikari-kun die nötige Zeit für den nächsten Schuß.
Im Plug wurde es unerträglich heiß. Sie spürte, wie sie die Kontrolle über den EVA verlor.
Dann erloschen unter Begleitung heller Blitze die Monitoren, verstummte der Lautsprecher.
Ein lauter Schrei hallte durch ihren Kopf.
Dann versank sie in Dunkelheit.

Schmerz...

Der Anblick einer riesigen Flutwelle, welche den Himmel verdunkelte...

Das konnte nur ein Traum sein, doch sie hatte noch nie geträumt... also vielleicht eine Ein-bildung, eine Halluzination?

Die Wassermassen schlugen über ihr zusammen, begruben sie, schleuderten sie fort...

Sie wollte so nicht sterben...

Hart wurde sie gegen einen Betonpfeiler geschleudert, spürte, wie in ihr etwas brach.

Schmerz...

Noch mehr Schmerz...

Mehr Schmerz als sie glaubte auszuhalten...

Ihre Lungen füllten sich mit Wasser, brodelndem Wasser...

Sie war allein... ganz allein...

Niemand war mehr da...

War dies der Third Impact?
Hatte er alles fortgerissen, was existiert hatte?
War nur sie übriggeblieben?
Warum?
Warum nur sie?
Warum war sie nicht ebenfalls gestorben, endgültig gestorben?
War dies die Strafe?
Ikari-kun... sie hatte ihn verloren...

Schmerz...


*** NGE ***


Shinji fuhr erschrocken zusammen, als er ein schmerzerfülltes Stöhnen hörte.
Eilig schob er sich um den Sitz herum.
Durch die Luke fiel nur wenig Licht in Innere des Plugs, dennoch konnte er Ayanami erkennen, die bewußtlos in ihren Gurten hing wie ein nasser Sack.
\"Ayanami...\" stieß er hervor, berührte sie an den Schultern. \"Ayanami!\"
Sie zuckte leicht unter seiner Berührung.
\"Ich... ich bringe dich hier \'raus!\"
Seine suchenden Hände fanden die Verschlüsse der Gurte und öffneten sie, erneut ergriff er sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.
\"Ayanami, komm zu dir! Bitte, komm doch zu dir!\"

Langsam öffnete sie die Augen.
\"Ikari-kun...\"
Er lebte... er hatte es geschafft... und jetzt war er bei ihr!
Sie fühlte sich schwach und elend, zitterte stark.
War er es wirklich? Oder wieder nur ein Trugbild?

Im nächsten Augenblick hielt Shinji eine am ganzen Körper zitternde Rei Ayanami in den Ar-men, wußte nicht, wie er reagieren sollte, hielt sie einfach nur fest und strich sanft über ihren Rücken, obwohl seine Hände ihm zuzuschreien schienen, es zu lassen, während sie leise schluchzende Laute von sich gab.
\"Es ist gut... Aya... Ayanami... es ist gut...\" flüsterte er.

Auch nachdem der Schock abgeklungen war, ließ sie Ikari-kun nicht los, hielt ihn weiter fest, ließ sich weiter festhalten, fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben außerhalb der Reifungs-kammer geborgen und sicher...
Er hatte sie nicht im Stich gelassen, war gekommen, um ihr zu helfen, nicht weil sie ein Werk-zeug, ein Teil eines größeren Planes war, sondern weil er sie als Person sah.
Von diesem Tag an gab es zwei Menschen, an die sie glaubte...
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