Fan-Fiction's

Fanfiction Übersicht - Epik

Titel: Retelling a Story
Autor: Ulrich-Alexander Schmidt
Kurzbeschreibung: Retelling a Story lässt sich nur schwer zusammen fassen. Es ist eine der besten, wenn nicht die beste deutsche Fanfiction die es gibt.

Der Autor führt euch in eine Welt, aus der ihr nicht raus kommt, ehe ihr sie komplett durch gelesen habt.

Allerdings muss ich euch warnen. Mit insgesammt 322176 Wörtern (bei Schriftgröße 10 entspricht dies 857 Seiten) ist sie auch eine der längsten Fanfiction.


Retelling a Story 0:1

Retelling a Story 0:2
Neon Genesis Evangelion - FanFiction


Retelling a Story

0:2
(Episode 07 - 12)

(Abzweigung 04)



von Ulrich-Alexander Schmidt
Fassung vom 02.02.2002




Legal Boilerplate:
NGE und die Charaktere sind Eigentum von GAINAX, etc.pp.



Sämtliche Fehler in der Charakterisierung sind ganz allein mir selbst zuzurechnen.

Kapitel 15 - Atempause

Shinji konnte später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wielange er Ayanami so festgehalten hatte, irgendwann hatten sie Misato draußen nach ihnen rufen gehört und Ayanami hatte sich von ihm gelöst, ohne seinem Blick zu begegnen. Was blieb, war ein seltsames Gefühl von Lee-re - obwohl er es sich selbst nicht eingestehen wollte, war es kein schlechtes Gefühl gewesen, für jemand anders dazusein.

\"Sie suchen uns.\" flüsterte Rei.

Shinji nickte, rief dann in Richtung der Luke:
\"Wir sind hier - Ayanami ist in Ordnung.\"
Im nächsten Moment blickte er sie mit leichter Besorgnis an.
\"Das, ah, bist du doch, oder?\"

Sie nickte knapp.
\"Ja. Wir sollten gehen.\"
Rei wollte sich um den Sitz schieben, um die Kapsel verlassen zu können, verlor aber das Gleichgewicht.

Shinji griff zu ohne nachzudenken, fing Ayanami auf, ehe diese gegen den Sitz stürzen konnte.
Daß er dabei den Arm um ihre Leibesmitte gelegt hatte, rief bei ihm wieder starkes Erröten hervor.
\"Ent-Entschuldige.\"

Rei war, als dringe seine Stimme durch Watte an ihr Ohr.
Schwäche und Müdigkeit überkamen sie.
Natürlich - sie war jetzt seit zwei Tagen ohne Pause auf den Beinen, hatte sich keine Ruhe ge-gönnt. Und die kurze Phase der Bewußtlosigkeit konnte wohl kaum positiv ins Gewicht fallen. Wenn Ikari-kun sie nicht festgehalten hätte, hätte sie sich möglicherweise verletzt, weshalb also entschuldigte er sich? Wegen der körperlichen Berührung? Oder lag es nur in seiner Natur?
\"Keine Entschuldigungen mehr... es gibt keinen Grund\", sagte sie leise und stützte sich auf die Armlehne des Pilotensitzes.

\"Ich helfe dir\", murmelte Shinji.
Ayanami mußte ziemlich erschöpft sein, wenn sie ihre Schwäche derart offen zeigte.
Und sie war erschöpft, weil sie ihn vor dem Engel beschützt hatte...
\"Bist du sicher, daß du unverletzt bist?\"

\"Ja.\"

Er zögerte nur kurz, dachte nur kurz darüber nach, ob ihre Antwort seiner Frage oder seinem Hilfsangebot galt. Dann umrundete er den Sitz auf der anderen Seite und griff nach ihrem Arm, um ihn sich um die Schultern zu legen. Sie ließ es geschehen, stützte sich bereitwillig auf ihn.
\"Wir haben es geschafft... wir sind tatsächlich noch am Leben...\"

\"Ja, du hast den Engel vernichtet.\"

Wieder sah er Ayanami an.
Und was war mit ihrer Leistung? Ohne sie wäre der Einsatz gescheitert.
\"Nur dank dir. Vielleicht... vielleicht, wenn wir das alles hinter uns haben, wenn wir uns nicht mehr gegen weitere Engel verteidigen müssen... vielleicht werden wir uns dann an diesen Tag erinnern und feststellen, wie gut es ist, am Leben zu sein...\"

\"Ikari-kun, wie meinst du das?\"

\"Ich... ahm... das ist...\"

Draußen warteten bereits Misato, Akagi und eine gemischte Gruppe aus Technikern, Ingenieu-ren und Ärzten auf sie.
Misato begrüßte sie mit nach oben ausgestreckten Daumen.
\"Gut gemacht! Der Einsatz war ein voller Erfolg!\"
Doch ihre strahlende Siegermiene verdüsterte sich, als sie sah, daß Shinji Rei praktisch trug, daß diese kaum in der Lage war, die Füße voreinanderzusetzen.
\"Ritsuko...\"
Schon war sie bei den beiden Piloten und stützte Rei von der anderen Seite.

Akagi musterte Rei ohne mit der Wimper zu zucken.
Das First Children schien die Augen kaum noch offenhalten zu können.
\"Keine äußeren Verletzungen, wahrscheinlich Erschöpfung. Also hat auch ihre Konstitution durchaus normale Grenzen.\"

Misato blickte die andere wütend an.
\"Bist du eigentlich noch Ärztin? Hilf ihr!\"

Ritsuko Akagi deutete einem der Sanitäter, eine Trage zu bringen.
Dann wandte sie sich den Schäden an Einheit-00 zu. Für das First Children gab es im Termi-nalDogma genug Ersatzteile, sogar ganze Ersatzkörper, doch der EVA war weitaus schwerer zu ersetzen...
\"Bringen Sie sie ins Hauptquartier, ich kümmere mich nachher um sie.\"

\"Shinji, fahr mit.\" sagte Misato leise.

Ritsuko wanderte langsam um EVA-00 herum.
Die Schäden an der Brustpanzerung des EVAs waren schwer, die Legierungen waren ge-schmolzen und warfen auch außerhalb des eigentlichen Radius\', in dem der Strahl des Engels getroffen hatte, noch Blasen und Wellen. Allerdings waren die Schäden in gewisser Weise den-noch nur oberflächlich, hatten den Kern, das Herz des EVAs, nicht freigelegt oder gar beschä-digt. Das genaue Ausmaß und die voraussichtliche Dauer der Regeneration würde sie aller-dings erst ermitteln können, wenn EVA-00 wieder in seinem Käfig im Hangar war, wo sie ihre Instrumente zur Verfügung hatte.
Sie seufzte leise, vor ihr würde wieder eine Reihe von Nacht- und Doppelschichten liegen, nur gut, daß Gendo nicht im Hauptquartier war und ihr daher nicht auch noch seine Forderungen unterbreiten konnte.
\"Misato, die Aufräumtrupps können anfangen, laß uns zurückfahren.\"


*** NGE ***


Rei fühlte sich müde. Ihre Arme erschienen ihr bleischwer, die Augen ließen sich nur mit gros-ser Anstrengung offenhalten.
Am Rande hatte sie registriert, wie der Captain und Ikari-kun ihr geholfen hatten, sich auf die Trage zu legen und wie diese in einen Krankenwagen verladen worden war. Auch daß der Wa-gen gleich darauf angefahren war, war ihr zwar aufgefallen, hatte im Augenblick aber keine Be-deutung.
Ihre Hand... was war mit ihrer Hand...
Ikari-kun... er hockte neben ihr und hielt ihre Hand... hielt sie, als wäre es eine Kostbarkeit von unermeßlichem Wert...
Seine Hände fühlten sich seltsam an... ja, sie waren bandagiert...
Sie blinzelte, um klarer sehen zu können.
Seine Wangen schimmerten feucht. Er weinte... warum weinte er? Was war so traurig, daß ihm die Tränen kamen? Oder hatte er Schmerzen?
\"Ikari-kun... warum weinst du?\"

\"Es...\"
Er blickte auf.
\"Ich bin nur froh, daß du am Leben bist.\"

\"Ich verstehe nicht.\"
Sie verstand nicht, weshalb er deshalb weinte.
\"Man kann auch vor Freude weinen?\"

\"Ich... ah... ja... Ayanami... ich schulde dir mein Leben... und... uhm... danke.\"
Dabei drückte er ihre Hand sanft.

\"Ich hatte dir mein Wort gegeben, Ikari-kun.\"

\"Das... aber... Ayanami, deshalb... deshalb hättest du doch nicht... Bitte, versprich mir nur, nie wieder soetwas zu tun.\"

\"Was?\"
Wieder verstand sie die Bedeutung seiner Worte nicht.
War er mit ihrem Tun nicht einverstanden? Hätte sie vielleicht untätig bleiben sollen? Aber das war ihr doch gar nicht möglich gewesen...

\"Bitte, sag nicht wieder \'Lebe wohl\', es ist zu traurig... ich möchte nicht... möchte nicht darü-ber nachdenken, was...\"
Shinji schluckte.
\"Du hättest sterben können.\"

\"Ja.\"
Das Risiko war ihr völlig bewußt gewesen. Wollte er denn nicht begreifen? Oder konnte er es nicht verstehen, weshalb sie so gehandelt hatte?

\"Ayanami... ich... ich will dich nicht verlieren... ich will nicht, daß jemand wegen mir zu Scha-den kommt... verstehst du?\"

Sie nickte stumm.
Sie bedeutete ihm tatsächlich etwas... nur was? Wo stand sie für ihn in der Bedeutung?
Ikari-kun nannte sie nur Ayanami, wenn auch auf eine Art, die anderen völlig abging. Auch an-dere riefen sie bei ihrem Nachnamen, doch nicht mit demselben Respekt wie Ikari-kun...
Ayanami... welche Bedeutung hatte der Name? Sie hatte keine Familie, nicht einmal im weite-sten Sinne. Die anderen Körper im Klontank, ihre Schwestern, waren nur leere seelenlose Hül-len, die auf ihre Aktivierung warteten, wenn ihre derzeitige Hülle zu großen Schaden nahm... der Name war bedeutungslos, nur eine Bezeichnung. Es gab keine anderen Ayanamis, keine El-tern, Großeltern, Onkel, Tanten, Geschwister... nur sie... es war die Maske, welche sie nach außen trug, eine Barriere zwischen ihr und den anderen, einem AT-Feld nicht unähnlich in sei-ner Wirkung.
\"Ikari-kun... gestern hast du mir deine Freundschaft angeboten...\"

\"Ja.\"
Worauf wollte Ayanami hinaus? Wollte sie ihm sagen, daß sie mit ihm nichts mehr zu schaffen haben wollte, weil sie wegen ihm verletzt worden war?

\"Ich habe sonst keine Freunde... aber ich wäre gern dein Freund, wenn es dir recht ist...\"
Ihre Augen fielen immer wieder zu, die Müdigkeit wurde mit jeder Sekunde stärker.

\"Natürlich, Ayanami, natürlich ist es mir recht!\"

\"Ja. Ikari-kun...\"

\"Ayanami?\"

\"Nein, nicht Ayanami... Rei.\"

\"Ich... uhm... Rei...\"
Er ließ die Buchstaben auf seiner Zunge rollen, befand, daß sie weit besser zu dem blassen Mädchen paßten, als der Nachname.
Fast feierlich nahm er ihre schmale Hand mit seiner bandagierten rechten.
\"Und ich bin Shinji.\"

\"Es... freut mich... deine Bekanntschaft zu machen, Shinji-kun.\"

Ihr Gesicht blieb unbewegt, verriet nicht, ob sie es ernst meinte, oder sich vielleicht über ihn lu-stig machte... noch letzteres wies er weit von sich, kaum daß der Gedanke aufgekommen war.

Sie blickte ihn an, fragte sich, weshalb er sie halb erwartungsvoll, halb enttäuscht ansah.
\"Shinji-kun, was ist?\"
Unsicherheit kam in ihr auf, schaffte es sogar, den Schleier der Müdigkeit kurz beiseite zu fe-gen.
\"Ich... ich weiß nicht, wie ich mich in so einer Lage verhalten soll.\"
Niemand hatte sie darauf vorbereitet, sich mit einem anderen Menschen derart vertraulich zu unterhalten, niemand hatte sie darauf vorbereitet, daß jemand ihr Freund sein wollte. Warum konnte ihr nicht einfach jemand befehlen, wie sie zu reagieren hatte, es hätte alles soviel leich-ter gemacht...

\"Uhm, ich glaube... hm... du solltest... lächeln...\" flüsterte Shinji.

Lächeln...
Ja, eine solche Mimik war der Situation wohl angemessen...
Lächeln, ein Verziehen der Mundwinkel nach oben...
Ein Zeichen von Freundlichkeit...
Ihre Mundwinkel zuckten, wanderten langsam nach oben, formten ein Lächeln.

Shinjis Augen weiteten sich.
Er hatte Ayana... Rei nie zuvor lächeln gesehen. Doch es war nicht nur ihr Mund, der lächelte, sondern auch ihre Augen.

Warum sah er sie so überrascht an?
Machte sie etwas falsch? Hatte sie statt eines Lächelns eine verzerrte Grimasse produziert?
Ihre Mundwinkel sanken wieder nach unten in Ruhestellung.
\"Ika... Shinji-kun, was ist?\" fragte sie sichtlich betroffen. Die Müdigkeit zehrte an ihrer Selbst-kontrolle.

\"Nichts... nur... du hast ein wunderschönes Lächeln...\"

Damit hatte sie nicht gerechnet.
Wunderschön...
Eine Wertung. Aber zugleich auch ein Kompliment...
Ihr erstes wirkliches Kompliment, keine Bestätigung ihrer Funktionsfähigkeit, keine Benotung oder Bewertung, nichts, um das sie gebeten oder das sie erhofft hatte... er hatte es freiwillig und von sich heraus gemacht... ihr erstes Kompliment... auch darauf hatte sie niemand vorbe-reitet...
Eine feine Röte überzog ihre Wangen.
\"Findest du?\"

Shinji nickte nur, glaubte hinter der starren Maske, die sie sonst zur Schau trug, einen kurzen Blick auf ihr wahres Selbst erhascht zu haben.

\"Danke.\"
Rei schloß die Augen, war außerstande, sie länger offenzuhalten.
Aber das mußte sie auch nicht, sie konnte schlafen. Shinji-kun war an ihrer Seite, nichts konnte ihr geschehen...


*** NGE ***


Shinji blieb bei Rei auch nach dem Eintreffen im Hauptquartier und begleitete sie auf die Kran-kenstation, wo sie sich kraftlos - und mit ein wenig Hilfe von ihm und einer Krankenschwester - von der Rollliege erhob und in das bereitstehende Bett begab.
Es war dasselbe Zimmer, in dem Shinji bereits zweimal zu sich gekommen war, unwillkürlich fragte er sich, ob die medizinische Sektion des Hauptquartiers vielleicht nur aus dem langen Flur und diesem einen Raum bestand.

\"Shinji-kun... du schuldest mir nichts.\" flüsterte Rei kaum verständlich, ehe sie sich zusammen-rollte und weiterschlief.

Kurz darauf trafen Misato Katsuragi und Ritsuko Akagi ein.

\"Sie schläft\", wisperte Shinji und deutete auf das Bett.

\"Ich muß sie untersuchen\", erklärte Akagi und gab sich keine Mühe, ihre Lautstärke zu däm-pfen.

Als Reaktion bewegte sich das Mädchen und öffnete die Augen.
\"Doktor.\"
Jemand war da, der ihr Anweisungen geben konnte, in dessen Gegenwart sie nicht denken mußte... Um Befehlen zu folgen, mußte sie nicht hellwach sein.
Schlaftrunken setzte sie sich auf. Die wenigen Minuten der Ruhe hatten zwar noch nicht aus-gereicht, aber sie fühlte sich ausreichend regeneriert, um die Untersuchung über sich ergehen lassen zu können.
Automatisch betätigte sie den Dekompressionsschalter ihrer PlugSuit und begann sich aus dem Oberteil zu schälen.

Von Shinji kam ein dumpfes \"Ah...\", zugleich preßte er die Hand gegen die Nase.

Akagi bedachte ihn mit einem strafenden Blick.
\"Misato, nimm ihn mit, ich denke nicht, daß er hier zuschauen muß.\"

\"Ritsuko, ich...\" wollte Misato ihrer Wut über die andere Ausdruck verleihen, stoppte dann aber. Es war nicht gut, wenn sie sich vor den Kindern stritten, immerhin waren sie ihre vorge-setzten Offiziere und damit Vorbilder.
Schöne Vorbilder...
Misato sah Akagi finster an.
\"Wir unterhalten uns später. - Komm, Shinji, du willst sicher auch aus den Sachen heraus, oder?\"

\"Uhm, ja.\"
Widerstandslos folgte er Misato, versuchte dabei das Bild von Reis Brüsten und den hellen Au-reolen, welche gerade unter dem Stoff der PlugSuit zum Vorschein gekommen waren, aus sei-nem Kopf zu verdrängen - erfolglos...


*** NGE ***


Eine eiskalte Dusche später saß er umgezogen in Misatos Wagen und döste während der Fahrt auf dem Beifahrersitz. Seine Hände taten bereits nicht mehr so weh wie noch vor einer guten Stunde, das lag wahrscheinlich an der kühlenden Salbe mit dem starken Erdbeeraroma, welche der Sanitäter noch im Krankenwagen aufgetragen hatte.

Misato ließ ihn in Ruhe, in ihren Augen hatte er sich den Schlaf redlich verdient, sie überlegte sogar, ihn für den heutigen Tag in der Schule zu entschuldigen, schließlich sollte er auch mer-ken, daß sein Tun honoriert wurde - und für Misato, die selbst nur ungern die Schulbank ge-drückt hatte, war ein freier Tag durchaus eine Option.
Und vielleicht war auch noch genug Geld in der Kasse, um mit Shinji und Rei zur Feier des Sieges etwas essen zu gehen - und wenn nicht würde sie halt das entsprechende NERV-Konto für Sonderausgaben anzapfen, die beiden hatten sich eine Abwechslung verdient!
\"Shinji?\"

\"Hm?\"

\"Sag mal, was hältst du von Rei?\"

\"Uhm...\"

Die Tatsache, daß er sofort tiefrot anlief, war ihr beinahe Antwort genug.
\"Ihr habt gut zusammengearbeitet - oder gab es irgendwelche Probleme?\"

\"Nein.\"

Die Antwort kam hastig, vielleicht etwas zu hastig.
\"Wirklich keine?\"

\"Nein... wir sind Freunde.\"

Misato brauchte einen Moment, um die Antwort zu verdauen.
Ihr oft deprimierter Schützling und das stille Mädchen hatten also Freundschaft geschlossen... Kurz darauf erschien ihr das gar nicht mehr so abwegig, die beiden schienen sich zu ergänzen wie zwei Seiten einer Münze.
\"Das ist gut... Ich glaube, sie ist sehr einsam, sie kann sicher einen Freund gebrauchen...\"


*** NGE ***


Viel zu früh begann der Wecker zu piepen.

Shinjis erster Gedanke war, den Wecker aus dem Fenster zu werfen und sich wieder auf die an-dere Seite zu drehen, da fiel ihm ein, weshalb er die Weckuhr eine halbe Stunde vorgestellt hat-te. Ohne Hast ging er ins Bad, wechselte die Verbände um seine immer noch stark geröteten Hände, kleidete sich an und ging dann in den Wohnraum, wo Misato halb auf dem Tisch lag und schlief, den Kopf auf den gekreuzten Unterarmen, neben sich ein leeres Sechserpack ihrer Lieblingsmarke.
Während Shinji sich in der Nacht völlig fertig ins Bett geschleppt hatte, hatte sie noch ein paar Dosen geöffnet, um die nötige Bettschwere zu erreichen - nur hatte sie es dann nicht mehr in ihr Bett geschafft.
\"Misato?\" fragte Shinji leise.

Die Antwort bestand aus einem langgezogenen Schnarchlaut.

Er stieß sie vorsichtig mit dem Zeigefinger gegen den Oberarm an.

Ihre Antwort war ein weiteres Schnarchen.

Shinji zuckte mit den Schultern, hob ihre Jacke auf, die sie auf den Boden geworfen hatte, und hängte sie ihr über die Schultern, dann schlicht er leise um sie herum und sammelte die Dosen ein, belegte anschließend mehrere Scheiben Toastbrot mit Wurst, Käse und Salatblättern, wo-bei er immer noch eine Lautlosigkeit an den Tag legte, die einen Ninja in Verlegenheit gebracht hätte, verstaute die Brote in seiner Frühstücksbox und diese dann in seiner Tasche, füllte an-schließend den Futternapf des Pinguins mit einem Rest vom vorgestrigen Tag, den er noch im Kühlschrank gefunden hatte, und schlich dann aus der Wohnung.
Den Zettel, den Misato mit dem rechten Ellenbogen an den Tisch genagelt hatte, welcher ihm mitteilen sollte, daß er nicht zur Schule gehen müsse, sah er nicht.


*** NGE ***


Zwanzig Minuten später stand er zum wiederholten Male vor dem maroden Gebäude, in dem Ayanami... Rei, korrigierte er sich in Gedanken..., wohnte.
Sein Entschluß, nach ihr zu sehen, ob sie in Ordnung war, war während der Fahrt dorthin aller-dings ins Wanken geraten, schließlich war es durchaus möglich, daß sie noch auf der Kranken-station im Hauptquartier war und sich ausschlief - oder daß sie dies in ihrer Wohnung tat und er sie nur stören würde.
Er ließ sich auf die Bank neben dem Hauseingang sinken und stützte das Kinn auf beide Hände.
Warum war alles nur so kompliziert...
Bei seinen Pflegeeltern hatte er einfach nur existiert, sie hatten nichts von ihm verlangt, waren froh gewesen, daß er sie in Ruhe gelassen hatte, hatten ihm sogar das Cello gekauft, damit er sich beschäftigte... das Cello... es war bisher nicht angekommen, dabei hatten sie ihm gesagt, sie würden ihm alles, was nicht in seine Reisetasche gepaßt hatte, nachschicken... ob es unter-wegs verlorengegangen war? Oder ob sie es - und ihn - vergessen hatten? Das Musikinstru-ment selbst war ihm dabei gar nicht wichtig, er spielte es zwar - und nach Ansicht derer, die ihn hatten spielen hören, spielte er sehr gut -, doch sein Herz hing nicht daran.
Noch vor vier Wochen war alles soviel einfacher gewesen, bevor der Brief seines Vaters einge-troffen war und alles verändert hatte. Er hatte nichts erwartet und man hatte nichts von ihm er-wartet... er hatte einfach... funktioniert...
Und jetzt...
Jetzt erwartete man von ihm, daß er mit einem Riesenroboter - vor dem er eine Scheißangst hatte - gegen irgendwelche Aliens für den Fortbestand der Menschheit kämpfte, wobei Misato selbst ihm nicht hatte mehr sagen können. Jetzt wurde er jedesmal von besagten Aliens erst einmal kräftig durchgewalgt, eher er mit viel Glück doch noch siegen konnte... war das eigent-lich ein besonderes Naturgesetz? - Um die Welt zu retten und den Engel schließlich besiegen zu können, mußte er sich erst halbtot schlagen lassen?
Auf der anderen Seite hatte er Freunde gefunden... Menschen, für die er kämpfte...
Wäre es nur um seinen Vater gegangen, es hätte ihm keine Probleme bereitet, die Stadt wieder zu verlassen, wahrscheinlich hätte er die Engel sogar noch angefeuert.
Einen langen Augenblick lang gab er sich der Phantasie hin, der erste Engel, der dunkle Riese namens Satchiel, würde seinen Vater durch die Straßen von Tokio-3 hetzen... wahrscheinlich würde sein Vater bei weitem nicht so ruhig und unnahbar sein, vielleicht würde er sich sogar die Seele aus dem Leib schreien, damit irgendein armer Idiot ihm zu Hilfe eilte...
Shinji mußte lächeln bei dem Gedanken.
Seinetwegen konnte sein alter Herr geradewegs zur Hölle fahren und dort verrotten!
Aber wahrscheinlich würde sogar der Teufel sich von dem kalten Blick durch die getönten Brillengläser einschüchtern lassen...
Nein, wegen seines Vaters steuerte er EVA-01 definitiv nicht.
Und damit kamen seine Gedankengänge zu seinem nächsten Problem, einem Problem namens Rei Ayanami, wobei er sich Mühe gab, sie sich in bekleidetem Zustand vorzustellen.
Bei ihr hatte er das Gefühl, nicht jedes Wort vorher genau abwägen zu müssen...
Misatos Worte fielen ihm wieder ein, als sie ihn bat, Rei die ID-Karte vorbeizubringen... es war erst vor zwei Tagen gewesen, doch es schien bereits eine Ewigkeit zurückzuliegen... vielleicht veränderte sich die Wahrnehmung von Zeit, wenn man beinahe gestorben war... sie hatte ihn gefragt, ob er in Rei verliebt sei, natürlich war es nur Spaß gewesen, hatte sie ihn nur aufziehen wollen... doch inzwischen war ihm klar, daß er ihre Frage nicht mehr hätte wahrheitsgemäß verneinen können. Allerdings war er sich nicht sicher, ob eine Bejahung der Wahrheit entspro-chen hätte, er wußte nur, daß er für Rei etwas empfand, das man nur als positiv bezeichnen konnte, Sympathie, Freundschaft... den Wunsch, daß ihr nichts mehr zustieß...
Wie war es überhaupt verliebt zu sein? Er kannte niemanden, den er hätte fragen können. Sein Vater war definitiv kein Kandidat, der sich mit seinem einzigen Sohn in Ruhe hinsetzen und ihm die ganze Sache erklären würde... Toji und Kensuke bewahrten vielleicht gewisse Hefte in ihren Spinden auf, würden ihm aber auch nicht weiterhelfen können... Misato würde es ihm vielleicht erklären können, aber dazu würde er wahrscheinlich ersteinmal einen dem ihren an-nährend gleichen Alkoholpegel im Blut benötigen, um sie zu verstehen... Himmel, wenn Pen-Pen doch nur richtig sprechen könnte, der Pinguin war in seinem Bekanntenkreis mit ziemlicher Sicherheit der einzige, welcher auf dem Gebiet Erfahrung besaß und sie mit ihm hätte teilen können...
Shinji seufzte.
Da saß er nun auf dieser alten Bank, während um ihn herum Baumaschinen ratterten und lärm-ten, und sinnierte darüber nach, mit einem Pinguin über den Sinn des Lebens zu sprechen...
Es mußte am LCL liegen... ganz sicher...
Ein Schatten fiel auf ihn.

\"I... Shinji-kun?\"

Er sah auf, sah Rei in ihrer Schuluniform vor ihm stehen, sprang auf, kollidierte fast mit ihr.
\"Ah... uhm... Rei... Guten Morgen.\"

\"Was tust du hier?\"
Sie war überrascht.
Sollte Shinji-kun wieder etwas vorbeibringen? Dann hatte sie wohl nicht ausdrücklich genug klargemacht, daß er ruhig in ihr Apartment hätte kommen können.
Oder stand ein weiterer Einsatz an? - Wahrscheinlich nicht, sonst wäre sie bereits anderweitig verständigt worden.
Oder... wollte er sie vielleicht abholen?
Sie wünschte sich, über mehr theoretische Kenntnisse der Paarungsgewohnheiten und -rituale der menschlichen Spezies zu verfügen. Alles was ihr in dieser Beziehung bekannt war, stammte aus dem Biologielehrbuch - nur handelte es sich bei dem Biologielehrer der 2-A um denselben alten Lehrer, der in einem fort die offizielle Version des Second Impact wiederkäute. Und je-mand, den sie diesbezüglich fragen konnte, fiel ihr auch nicht ein. Der Kommandant war über derartiges sicher erhaben. Der Doktor würde sich in Fachbegriffen und dergleichen ergehen und sie anschließend weiteren Tests und Untersuchungen unterziehen. Der Captain schien zwar durchaus entsprechende Lebenserfahrungen zu besitzen, kam aber nicht als Informationsquelle in Betracht, da sie und Shinji-kun in einer Wohnung lebten. Und ansonsten... vielleicht gab es da eine Person...

\"Ich... ahm... ich habe auf dich gewartet, weil, uhm, ich wollte wissen, wie es dir geht.\"

Reis Mundwinkel zuckten kurz, brachten dann aber doch kein Lächeln zustande.
Freude und Besorgnis hielten einander die Waage, Freude darüber, daß sie Shinji-kun genug bedeutete, daß dieser vor ihrem Haus auftauchte, Besorgnis darüber, wie weit dies noch gehen würde und ob es vielleicht ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigen könnte.
\"Es geht mir gut.\"

\"Das... uhm... freut mich.\"
Shinji lächelte.
\"Willst du zur Schule?\"

\"Ja.\"
Sie hätte den Doktor um ein Attest fragen können - doch der Doktor hätte wahrscheinlich ihr Ersuchen abgelehnt, Akagi hegte spürbare Antipathien gegen sie. Sie hätte auch daheim bleiben und später eine Entschuldigung schreiben und einreichen können - in der NERV-Charta gab es einen kleinen unauffälligen Passus, der sie dazu berechtigt hätte -, da sie es insgeheim durchaus schätzte, ab und an länger zu schlafen, als eigentlich nötig war. Dennoch war sie aufgestanden, hatte sich fertiggemacht und die Wohnung verlassen - weil sie gehofft hatte, Shinji-kun in der Schule begegnen, nur würde sie sich das wahrscheinlich nie eingestehen...

\"Uhm, kann ich dich begleiten?\"

Sie blickte ihn mit gerunzelter Stirn an.
Weshalb stellte er immer so viele überflüssige Fragen?
Mußten Menschen immer reden? Konnten sie nicht die Stille genießen?
Aber ihre Gedanken waren weder noch Ärger, noch von Unwillen begleitet, eher von Unver-ständnis.
\"Natürlich. Es ist derselbe Weg.\"
Dabei kam es ihr alles andere als ungelegen...

Auf dem Weg zur Bahnstation und während der Minuten, die sie auf dem Bahnsteig warteten, setzte Shinji mehrmals zum Sprechen an, brachte aber nicht mehr als \"Uhm...\" und \"Ahm...\" über die Lippen, was Rei jedesmal mit einem fragenden Blick quittierte.
Sie waren die einzigen Menschen auf dem Bahnsteig, auch der Zug, welcher endlich einfuhr, war kaum belegt, der hintere Waggon war völlig leer.
Rei setzte sich auf den nächstbesten Platz und griff aus Gewohnheit nach ihrem Notizbuch, während Shinji die gegenüberliegende Bank ansteuerte.

Sie sah auf.
Warum schien Shinji-kun Abstand zwischen sich und sie bringen zu wollen?
Warum hatte er auf sie gewartet, wenn er sich nun doch auf die andere Seite setzte?
Demonstrativ nahm sie ihre Tasche von dem Sitzplatz neben sich und stellte sie auf den Boden zwischen ihre Beine.
Wenn er das nicht verstand, war ihm nicht mehr zu helfen... und wenn er es nicht verstehen wollte... darüber wollte nun wiederum sie gar nicht erst nachdenken.
Shinji-kun hatte es bemerkt... sein Blick huschte fast panisch hin und her. Hatte sie ihn irgend-wie in Angst versetzt? Es kam vor, daß manche Menschen sie seltsam anblickten, einmal hatte eine Frau sie gefragt, ob sie an einer Krankheit leide... es mußte mit ihrer blassen Haut zusam-menhängen... aber Shinji-kun kannte sie doch inzwischen wohl lange genug...
Endlich setzte er sich in Bewegung, setzte sich neben sie, dabei peinlich darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu bewahren.
Sie wollte ihm zurufen, endlich etwas zu sagen oder wenigstens nicht ein Gesicht zu machen, als läge ihm ein kompletter Roman auf der Zunge... oder wenigstens diese undefinierbaren Laute zu unterlassen... aber sie tat es nicht, weil es ihr nicht richtig erschien, ihn irgendwie un-freundlich zu behandeln. Dennoch hatte sie den Eindruck, er stünde kurz vor dem Platzen.
\"Was möchtest du mir sagen?\" fragte sie freundlich.

Shinji zuckte heftig zusammen.
War es ihm so leicht anzusehen, daß er mit den Worten rang?
Er hatte nachgedacht... über den EVA... über den Haß, den er verspürt hatte...
Wenn es jemanden gab, mit dem er darüber sprechen konnte, dann wohl mit ihr. Rei würde ihn nicht gleich für verrückt erklären - hoffte er jedenfalls...
\"Uh, also... Rei, ich wollte dich etwas fragen... wegen EVA... also...\"

\"Die EVANGELIONs unterliegen absoluter Geheimhaltung.\" erklärte sie.

\"Ja, äh... ich wollte dich nur fragen... also, ich meine, so von Pilot zu Pilot... äh...\"

Sie blinzelte.
\"Was?\"

\"Es ist... wenn ich in EVA-01 steige... und es kommt zu einem Kampf... ich... ahm...\"
Shinji preßte die Lippen zusammen, überlegte. Wie sollte er es ihr verständlich machen?
\"Rei, ich sagte heute nacht, ich hätte Angst...\"

\"Ja. Das hast du gesagt. Angst zu sterben.\"

\"Das auch. Ja, auch Angst vor dem Tod. Aber... ah... auch vor etwas... anderem... vor der Dunkelheit...\"
Er schluckte, wartete auf ihre Reaktion, hoffte, daß sie ihm nicht vorschlagen würde, dann halt künftig das Licht brennen zu lassen.

Ihr Kopf ruckte herum, sie sah ihn mit geweiteten Augen an. Neben dem Lächeln der vergan-genen Nacht war dies die wohl heftigste Reaktion, die er jemals bei ihr beobachtet hatte.
\"Vor der Dunkelheit\", wiederholte sie.

\"Ja...\"

\"Eine haßerfüllte Dunkelheit? Eine Dunkelheit, die wie eine Welle über dir zusammenzuschla-gen droht?\"

\"Uh... ja.\"
Er starrte sie an.
\"Du weißt, wovon ich rede.\"

\"Ja.\"
Rei senkte den Blick.
Shinji-kun hatte die Dunkelheit auch gespürt, doch nicht in EVA-00, sondern in EVA-01... es lag also nicht an ihr... es waren keine unterdrückten Gefühle ihrerseits, welche der EVA spie-gelte... und sie war auch nicht verwirrt, wie der Doktor es bezeichnet hatte, nachdem sie ihr nach dem fehlgeschlagenen Aktivierungsversuch von ihren Eindrücken erzählt hatte.
Er hatte Angst vor der Dunkelheit und dem Haß... sie konnte diese Angst verstehen und nach-vollziehen, spürte sie doch das gleiche.

\"Spürst du es auch, wenn du EVA-00 steuerst?\"

Sie schloß die Augen, etwas in ihr sperrte sich dagegen, die Erinnerungen hervorzuholen, woll-te nicht wieder mit den Eindrücken konfrontiert werden. Und wäre es nicht Shinji-kun gewe-sen, der diese Frage gestellt hatte, hätte sie sie einfach ignoriert.
\"Nicht jedesmal. Das erste Mal war bei dem Aktivierungstest.\"

\"Bei dem EVA-00 amokgelaufen ist? Bei dem du so schwer verletzt wurdest?\"

\"Ja.\"
Die Erinnerung schmerzte, in wenigen Sekundenbruchteilen erlebte sie die Minuten noch ein-mal nach, glaubte jede Erschütterung, jeden Stoß noch einmal zu spüren, der durch die Kapsel gegangen war. Damals hatten die Sitze noch über keine Gurte verfügt, sie war aus dem Sitz und gegen die Steuerung geschleudert worden, dann, als der Plug notevakuiert wurde und wie ein Querschläger durch die Halle des Testareals geschossen war, war auch sie im Inneren her-umgeschleudert worden. Doch davor, in der Zeit zwischen der Aktivierung der Synchronver-bindung und der evakuierungsbedingten Unterbrechung, waren die Wellen von Haß auf sie ein-geströmt, hatten ihr Bewußtsein zurückgetrieben und die Kontrolle über Einheit-00 übernom-men. Nur hatte niemand es ihr geglaubt...
Ihre zweite Begegnung mit der Dunkelheit hatte stattgefunden, als EVA-00 während des An-griffes des ersten Engels reaktiviert worden war, um die Ankunft des Piloten von Einheit-01 zu decken. Die Synchronverbindung hatte sich auf das Minimum beschränkt, dennoch hatte EVA-00 sich gewehrt... sonst hätte der Engel nicht so leichtes Spiel mit ihr gehabt...
Sie sah auf, begegnete Shinji-kuns Blick, sah... Freunde in seinen Augen.
Weshalb verspürte er Freude darüber, daß sie dieselben Erfahrungen gemacht hatte wie er?

\"Und ich dachte, ich wäre verrückt...\" murmelte der Junge, gab ihr damit die Antwort auf ihre stumme Frage.
\"Rei, was ist der Grund? Warum empfinden die EVAs solchen Haß gegen uns... nein, nicht nur gegen uns... ich hatte den Eindruck, daß der Haß sich gegen alles Leben richtet...\"

Sie hätte ihm mehrere Möglichkeiten nennen können, hätte ihm erklären können, daß die EVAs letztendlich geschaffen worden waren, um während des Third Impact eine Kettenreaktion her-beizuführen, hätte ihm sagen können, daß sie zwar nach menschlichem Vorbild erschaffen wor-den waren, aber keine Seele besaßen, sie deshalb nach Leben hungerten, um es zu verschlin-gen, um sich selbst zu vervollkommnen, doch all dies waren klassifizierte Informationen, über die sie selbst nur verfügte, weil sie einen wichtigen Teil in Plan des Kommandanten spielen sollte, über den sie selbst noch nicht näher aufgeklärt worden war.
Allerdings hätte das die Umstände möglicherweise auch nicht erklärt, unterschieden sich die beiden EVANGELIONs doch in einer Einzelheit absolut, hatte EVA-01 doch bereits eine See-le verschlungen, während EVA-00 mit der Simulation einer solchen abgespeist worden war. Aber es gab eine grundlegende Gemeinsamkeit, eine mögliche Quelle des Hasses.
\"Vielleicht... Shinji-kun, es muß unter uns bleiben. Niemand sonst darf davon erfahren, sie würden uns für verrückt halten.\"

\"Ja... Unser... uhm... unser Geheimnis. Was weißt du?\"

\"Das Betriebssystem. Die EVAs waren ursprünglich als Roboter geplant, die ohne Piloten ope-rieren sollten. Dann wurde eine Fernsteuerung angedacht, schließlich jedoch hat man sich für die gegenwärtige Version mit einem Piloten entschieden, nachdem Tests des japanischen Mili-tärs mit der sogenannten Jet-Alone-Einheit, einem ferngesteuerten Roboter, beinahe zu einer Katastrophe geführt hatten. Captain Katsuragi hat damals schlimmeres verhindert.\"

\"Misato...\"

\"Ja.\"

\"Und... ah, was hat es nun mit diesem Betriebssystem auf sich?\"

\"Die EVAs verfügen über eine gehirnähnliche Zusammenballung synthetisch erzeugter Zellen im Schädel, das PROPHET-Interface. Das Konzept geht noch Doktor Naoko Akagi zurück, die Entwicklerin der MAGI-Computer.\"

\"Akagi? Eine Verwandte von Ritsuko Akagi?\"

\"Ihre Mutter. Gestorben 2004.\"

\"Wie meine Mutter...\"

Eine bestätigende Antwort lag ihr auf der Zunge, doch Shinji-kuns schwermütiger Tonfall hielt sie davon ab. Im Jahr 2004 war sie selbst erstmals erweckt worden, doch ihre erste Existenz hatte nur kurz gewährt, war bei der Ausführung eines Auftrages für den Kommandanten been-detet worden... Naoko Akagi hatte die Botschaft, die sie ihr hatte überbringen sollen, nicht ver-arbeiten können, was zum Ende ihrer ersten und Akagis eigener Existenz geführt hatte.
Aber auch dies waren klassifizierte Informationen.
Wenn sie sich nur hätte erinnern können, was der Kommandant ihr damals aufgetragen hatte, der Wissenschaftlerin mitzuteilen...
\"Es handelt sich nicht um ein wirkliches Gehirn, vielmehr um einen organischen Computer, welcher unter anderem die Sinneseindrücke des EVAs so konvertiert, daß der Pilot sie über die Synchronverbindung teilen kann. Sowohl bei EVA-00 wie auch bei EVA-01 wurde dasselbe Betriebssystem verwendet...\"

Der Zug hielt.
Es war die Haltestelle nahe der Schule.

\"Shinji-kun, wir müssen hier aussteigen.\"

\"Äh, ja.\"
Er stand auf, ging zur Tür.
\"Rei...\"

Sie verließen die Bahn.
\"Ja?\"

\"Ich habe keine Lust auf den Unterricht... ich meine, heute wird uns doch ohnehin nur wieder den ganzen Tag lang vom Second Impact erzählt...\"

Ikari-kun hatte keine Lust... wie sollte sie das verstehen? Lust... wahrscheinlich hier in der Be-deutung von Interesse. Dem konnte sie nur zustimmen, der Unterricht war uninteressant. Nicht einmal die Fakten stimmten, entsprachen lediglich der offiziellen Version, mit der die Bevölke-rung abgespeist worden war, erwähnten weder den ersten Engel namens ADAM, welcher im Jahre 2000 in der Antarktis entdeckt worden war, noch die Experimente, die an ihm durchge-führt worden waren - oder gar den zweiten Engel, LILITH, der unvermittelt aufgetaucht war und ADAM in einen Kampf verwickelt hatte, bei dem die Folgeereignisse des Second Impact schließlich ausgelöst worden waren...
Rei blinzelte. Da war noch etwas... eine Information, die mit den Ereignissen in Zusammen-hang zu stehen schien, etwas, das sie eigentlich hätte wissen müssen, sich ihr jedoch entzog, immer schwammiger und unschärfer wurde, je stärker sie sich darauf konzentrierte...
ADAM, der sich aufrichtete... die Bereitschaft ihn anzugreifen und für seine früheren Beleidi-gungen und Verfehlungen zu bestrafen... und ein großer Schatten, der plötzlich zwischen ihnen stand...
Das angestrengte Nachdenken rief bei ihr Kopfschmerzen hervor.

Rei war stehengeblieben, schien nachzudenken. Shinji sah sie fragend an, so schwer konnte es doch nicht sein, angesichts des heutigen Stoffes, oder des Fehlens selbigens, sich dazu ent-scheiden, den Unterricht zu schwänzen.
\"Rei?\"
Als sie nicht reagierte, streckte er die Hand aus, um sie sacht am Oberarm zu berühren.

\"Shinji-kun?\"

Shinji blinzelte.
Einen Moment lang hatte sie ihn an eine Maschine erinnert, deren Batteriereserven zu Ende gingen.
\"Uhm... also, was ist?\"

Sie zögerte immer noch, seinem Ersuchen zu folgen.
Es war ihr befohlen worden, zum Unterricht zu gehen, damit sie besser in der Gesellschaft an-derer funktionierte. Allerdings erschien ihr die Begründung unlogisch, da man sie nicht zu-gleich angewiesen hatte, mit anderen zu interagieren. Jedoch interagierte sie nun mit Shinji-kun. Und dies war ihrer Funktion unter anderen Menschen dienlich...
\"Wohin willst du gehen?\"

\"Ahm... nun...\"
Er überlegte.
\"Wir könnten hoch aufs Dach der Schule gehen und uns dort unterhalten.\"

Rei nickte.
Der Aufenthalt auf dem Flachdach der Schule besaß eine gewisse Gefährlichkeit trotz der um-laufenden Brüstung. Und sie hatte versprochen, Shinji-kun zu beschützen. Dies, verbunden mit den anderen Gründen, sollte genügen, die Anweisung, den Unterricht zu besuchen, wenigstens einmal zu ignorieren.
\"Einverstanden.\"


*** NGE ***


Kurz darauf standen sie auf dem Dach der Schule.
Shinji trat an die Brüstung und stützte sich auf die Ellenbogen.
\"Von hier aus kann man sehen, wo der Engel explodiert ist.\"
Er sah sich weiter um, entdeckte weitere Spuren von Kämpfen, die sich narbengleich durch die Stadt zogen.
\"Worum bloß greifen die Engel die Stadt an...\"

Rei trat neben ihn, bleib jedoch still.
Auch diese Information unterlag höchster Geheimhaltung.

\"Der letzte Engel wollte sich in die Geofront durchbohren... und der erste hat große Löcher in den Asphalt geschlagen, als ob er sich hindurchgraben wollte... Rei, was immer sie suchen, es liegt in der Geofront!\"
Er sah sie fragend an, erwartete eine Reaktion.

Shinji-kun hatte die richtigen Schlußfolgerungen getroffen...
\"Ich darf dir nichts sagen.\"

\"Du... du darfst nicht?\"

\"Nein. Es sind geheime Informationen.\"

\"Und du kannst es mir nicht sagen?\"
Shinji trat einen Schritt zurück.
Welches Spiel trieb sie mit ihm? Erst akzeptierte sie seine Freundschaft und jetzt sagte sie ihm gewissermaßen, daß sie mehr wußte als er, es ihm aber nicht mitteilen durfte...

\"Ich darf nicht... Vielleicht kann der Captain... Ich bin nicht befugt, es dir mitzuteilen.\"
Sie stotterte, verhaspelte sich... das war ihr vorher noch nie passiert. Sie wollte ihm ja sagen, daß die Engel auf der Suche nach ihresgleichen waren, daß sie vom Sirenenruf LILITHs ange-lockt wurden, die im TerminalDogma eingekerkert war und als Lieferant des LCL diente, aus deren Gewebe EVA-00 geklont worden war... und sie selbst...

\"Du darfst nicht...\"
Sein Gesicht verdüsterte sich. Er glaubte genau zu wissen, wer Rei befohlen hatte, über die Dinge, die sie bei NERV gesehen hatte, Stillschweigen zu bewahren.
\"Vater...\"

Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Shinji-kun in ihrer Gegenwart schlecht über den Komman-danten sprach, das wurde ihr in diesem Augenblick bewußt. Vielleicht wäre es besser, wenn sie einfach ging... aber dann würde sie ihn allein zurückzulassen und er würde glauben, sie hätte sich von ihm abgewandt und dann würde er nicht mehr ihr Freund sein und...
Es war alles so kompliziert!
Tu, was man dir befiehlt... ja, wenn Shinji-kun ihr befohlen hätte, ihm zu sagen, was sie wußte, das wäre einfach gewesen, schließlich war er der Sohn des Kommandanten. Aber er tat es nicht und sie konnte ihn ja schlecht auf diese Option hinweisen...
Rei stieß einen leisen Seufzer aus und ließ sich an der Brüstung nach unten gleiten, bis sie mit angezogenen Knien auf dem Zementboden saß.

Der Seufzer fuhr Shinji durch Mark und Bein, hatte etwas von einer scharfen Klinge, die direkt an seinem Herzen vorbeistrich. Betroffen blickte er nach unten, wo Rei neben ihm hockte, ver-stand ansatzweise den Gewissenskonflikt, in dem sie sich befand.
Er ging neben ihr in die Hocke.
\"Es... uhm... es ist kein Problem... Dann sag mir... ah... sag mir einfach, was du sagen darfst.\"
Er öffnete seine Tasche, entnahm ihr die Frühstücksbox und schloß sie wieder, benutzte die Tasche dann als Sitzkissen, als er sich neben sie setzte.

\"Ich darf dir nicht sagen, was sich im TerminalDogma befindet, nur, daß man eine sehr hohe Sicherheitseinstufung benötigt, um es zu betreten.\"
Wenn sie es ihm schon nicht direkt sagen durfte, konnte sie ihm vielleicht ein paar Hinweise geben...

\"TerminalDogma? Das... hm... das ist der Keller unter dem Hauptquartier, oder?\"

\"... Ja.\"

\"Und wer hat diese Sicherheitseinstufung? Misato?\"

Rei dachte nach.
Nein, der Captain war nicht befugt, das TerminalDogma zu betreten.
Stumm schüttelte sie den Kopf.
\"Shinji-kun, ich muß... ich muß dich bitten, nicht weiterzufragen. Ich möchte nicht, daß du in Gefahr gerätst.\"
Bitte... sie hatte bitte gesagt... vorher hatte sie noch nie jemanden um etwas gebeten... und in der Nacht... dunkel erinnerte sie sich, daß sie sich im Halbschlaf für sein Kompliment bedankt hatte...
Was geschah nur mit ihr? Wurde sie vielleicht... menschlich? Brachen durch den fortgesetzten Kontakt mit Shinji-kun die in ihrer Genstruktur befindlichen menschlichen Anlagen durch?

\"Ich soll nicht... Rei, du machst dir um mich... Sorgen?\"

Wieder blieb sie stumm, nickte nur.

Shinji lehnte sich mit dem Rücken gegen die hüfthohe Mauer.
Das war das erste Mal, daß jemand ihm sagte, sie würde sich um ihn sorgen, das erste Mal, das jemand ihm ihre Gefühle für ihn offenbarte...
Wow...

Eine halbe Ewigkeit saßen sie so da und schwiegen, doch diesesmal erschien das Schweigen ih-nen nicht als unüberwindbare Mauer. Schließlich war es Shinji, der das Schweigen brach, als die Schulglocke zur Pause läutete und kurz darauf Lärm vom Schulhof her an ihr Ohr drang.
\"Hast du Hunger?\"

Rei blickte ihn fragend an.

Da hatte er bereits die Frühstücksbox geöffnet und hielt sie ihr entgegen.

Sie schüttelte den Kopf.
Wurst... Käse... alles tierische Produkte, welche sie nicht vertrug. Aufgrund ihrer besonderen Physiognomie konnte sie keine tierischen Fette verdauen. Schon der bloße Genuß solcher Pro-dukte stellte ihre Funktionsfähigkeit in beunruhigender Weise in Frage, weshalb es ihr befohlen worden war, selbige niemals und unter keinen Umständen zu sich zu nehmen.
\"Ich esse kein Fleisch.\"

\"Oh.\"
Er hatte nicht gewußt, daß sie Vegetarierin war.
\"Und Käse?\"

\"Auch nicht. Kein Fleisch, keinen Fisch.\"

\"Salat?\"

\"Salat ist akzeptabel.\"

Rasch vertauschte er die Belege seiner Brote, so daß er ihr wenigstens zwei reine Salatbrote anbieten konnte.

Zögernd nahm Rei eines der Brote aus der Schachtel und betrachtete es nachdenklich.
\"Danke.\"

Shinji stellte die Schachtel zwischen sie, kaute selbst auf einem Wurstbrot herum.
Die Situation kam beiden seltsam friedlich und entspannt vor.

Der Junge blickte zur Seite, beobachtete das blauhaarige Mädchen beim Essen.

\"Stimmt etwas nicht?\"

\"Ahm, nein...\"
Schnell blickte Shinji wieder weg.
Er konnte ihr ja schlecht sagen, daß er sie attraktiv fand, daß sogar die Art, wie sie den Salat mümmelte, in seinen Augen etwas anziehendes und faszinierendes hatte...

\"Und weshalb wirst du dann rot?\"
Jetzt wollte sie es endgültig wissen. Schließlich konnte sein ständiges Erröten auch ein Zeichen für funktionsgefährdenden Bluthochdruck sein und gerade in Verbindung mit der Tatsache, daß er am gestrigen Tag kurzfristig einen Herzstillstand erlitten hatte, nicht zu ignorieren.
Und wenn es - wie sie glaubte - doch mit ihr in Verbindung stand, dann wollte sie es ebenfalls wissen. Menschen wechselten schließlich nicht andauernd die Farbe und dann auch noch derart extrem!

\"Ich... ah... uhm... öh... also... das... äh...\" stotterte er, versuchte sich in Gedanken eine plausi-ble Antwort zurechtzulegen, wurde dann aber anderweitig durch das Auftauchen von Toji und Kensuke gerettet. Die beiden Mitschüler tauchten im Treppenaufgang auf und kamen zu ihnen.

Für Rei war es damit vorbei mit Frieden und Entspannung.
Daß Shinji-kun viel redete, konnte sie problemslos akzeptieren, wenn allerdings mehrere Per-sonen gleichzeitig sprachen, konnte sie dies nicht mehr mit ruhiger Atmosphäre gleichsetzen...

\"Yo, Ikari!\" rief Toji. \"Hab\' ich mich doch nicht geirrt, als ich meinte, euch beide an der Sta-tion gesehen zu haben. - Äh, hi, Ayanami.\"

Rei nahm die Begrüßung mit einem Nicken zur Kenntnis, fragte sich zugleich, ob er sie auch angesprochen hätte, wenn sie nicht mit Shinji-kun zusammengewesen wäre.

\"Hey, Shinji...\" Kensuke hockte sich neben Shinji. \"Was habt ihr heute nacht gemacht?\"

\"Äh...\"
Shinji schnappte nach Luft.
Er hatte Rei im Arm gehalten...
Er hatte ihre Hand gehalten...
Er hatte ihre nackte Brust gesehen...

\"Wir haben euch beide gestern abend mit den EVAs ausrücken sehen\", erklärte Toji und brach-te Shinjis Gedanken wieder in etwas geordnetere Bahnen. \"Ihr habt\'s dem Engel doch hoffent-lich richtig gegeben, oder? Seit der Sache vor ein paar Wochen hat man uns richtig auf dem Kieker, die Klassensprecherin persönlich hat dafür gesorgt, daß wir im Bunker waren, bevor die Aktion losging.\"

\"Ich kann die Vernichtung des Engels bestätigen.\" sagte Rei mit ruhiger Stimme und stand auf. Suzuharas Worte hatten sie an eine Idee erinnert, die sie am Morgen gehabt hatte.
\"Shinji-kun, wir treffen uns nach der Schule.\"
Damit ging sie zur Treppe und verließ das Dach.

Toji sah ihr nach, starrte dann Shinji an.
\"Ihr trefft euch nach der Schule? Und eben habt ihr die ganze Zeit hier oben gesessen, was? Ikari... Alter! Du und Ayanami?\"
Der größere Junge grinste breit.
\"Zuhause die hübsche Misato und jetzt auch noch eine Begleitung für den Schulweg! Kensuke, was hältst du davon?\"

\"Mega-Playboy-Action!\" erklärte der kleinere Junge mit der Brille.

\"Muß wohl an dem Roboter liegen, daß ihm die Mädchen zu Füßen liegen!\"
Toji knuffte Shinji gegen die Schulter. \"Und, was habt ihr hier oben gemacht? Geknutscht?\"

\"Ah... nein...\"

\"Na, komm, Ikari, das...\" setzte Kensuke nach.

Toji hielt seinen Freund zurück, schüttelte nur mit dem Kopf.
\"Ken, er sagt die Wahrheit. Traurig, traurig. Ikari, weshalb wolltest du auch von mir keine Tips annehmen?!\"
Dann fiel sein Blick auf die Brote in der Schachtel.
\"Hmm, darf ich?\"

\"Uh, klar doch.\"

\"Super, ich schaffe es nämlich morgens nie, mir etwas einzupacken.\"

\"Weil du ein fauler Sack bist, der lieber noch ein paar Minuten schläft!\" warf Kensuke ein.

\"Eh, ich brauche meinen Schönheitsschlaf.\"

Kensuke und Shinji blickten einander an und begannen zu lachen.

\"Worüber gackert ihr denn so?\"

\"Über nichts, Toji, über nichts. Also, Shinji, jetzt erzähl doch mal!\"

\"Was denn?\"

\"Na, wie ihr den Engel erlegt habt, Ayanami und du!\"

\"Uhm, also...\"


*** NGE ***


Rei warf einen kurzen Blick zurück über die Schulter, betrachtete die drei Jungen.
Shinji-kun und die Mitschüler Suzuhara und Aida... auch sie waren Freunde, selbst wenn Rei noch immer nicht ganz nachvollziehen konnte, wie Shinji-kun sich mit jemandem hatte anfreun-den können, der ihm noch vor kurzer Zeit Schmerzen zugefügt hatte... andererseits... auch sie hatte ihm Schmerzen zugefügt, indem sie ihn dazu gebracht hatte, wieder in EVA-01 zu stei-gen... gehörte auch das zu einer Freundschaft - vergeben können?
Trotzdem ging Shinji-kun mit seinen anderen Freunden auf eine andere Art und Weise um als mit ihr, lag das vielleicht daran, daß sie den weiblichen Geschlecht angehörte? Wurde er des-halb immer rot, sobald gewisse Dinge zur Sprache kamen?
Sie bog in den Flur ein, von dem aus man in den Klassenraum der 2-A gelangen konnte. Wie erwartet sah sie die Person, zu der sie wollte. Die Zielperson stand vor dem Schrank mit Lehr-materialien und sortierte ungenutzt gebliebene Unterlagen wieder ein.
Rei blieb in zwei Schritten Abstand stehen.
\"Klassensprecherin Horaki.\"

Die angesprochene zuckte leicht zusammen, wandte sich Ayanami zu.
\"Ja?\"
Hikari fühlte eine starke Unsicherheit, es war, soweit sie sich erinnern konnte, das erste Mal, daß die blauhaarige Mitschülerin sie ansprach.

\"Ich habe ein Anliegen... ein Ersuch um Informationen.\"

Hikari schloß den Schrank.
\"Worum geht es, Ayanami?\"
Irgendwie schien es ihr unpassend, die Mitschülerin mit ihrem Vornamen anzusprechen, Aya-nami schien großen Wert auf ihre Privatsphäre zu legen, jedenfalls vermied sie jeden Kontakt mit anderen Schülern - außer mit Shinji Ikari, aber das lag wahrscheinlich an ihrer gemeinsa-men Tätigkeit als Piloten bei NERV.

\"Ich benötige Informationen über menschliche Paarungsrituale.\"

Hikaris Mund klappte auf.
Ihre Sommersprossen schienen an Farbe zu verlieren.
\"Menschliche... Paa-rungs-ri-tu-a-le...\" zog sie die Worte in die Länge.

\"Korrekt.\"

\"Ähhhh...\"
Hikari gewann die Kontrolle über ihren Unterkiefer zurück.
Hatte Ayanami sie gerade wirklich um Informationen über... Sex gefragt?
Sie rief die Erinnerung der letzten halben Minute ab, konzentrierte sich auf jede Silbe.
Ja, sie hatte sie tatsächlich auf menschliche Paarungsrituale angesprochen...
Hikari schluckte.
Warum geschah soetwas ausgerechnet ihr?
\"Uhm... das können wir schlecht hier besprechen.\"

\"Warum nicht?\"

\"Weil... weil man so ein Thema nicht... nicht in der Öffentlichkeit bespricht.\"

Rei legte den Kopf schrägt.
Interessant... Klassensprecherin Horaki reagierte ähnlich wie Shinji-kun, indem sie tomatenrot anlief und plötzlich ein vergleichbares Sprachmuster benutzte.
\"Wo dann?\"

\"Ahm... laß uns aufs Dach gehen.\"

\"Dort halten sich zur Zeit Shinji-kun und die Mitschüler Suzuhara und Aida auf.\"

\"Oh...\"
Wäre Hikari nicht mehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, wäre ihr der warme Unterton aufgefallen, mit dem Ayanami den Namen Shinji Ikaris aussprach.
\"Dann... die Mädchentoilette. Dort sind wir recht ungestört.\"

\"Akzeptabel.\"

\"Warum ich?\"

\"Was meinst du, Klassensprecherin Horaki?\"

\"Warum fragst du gerade mich? Es ist doch nicht so, daß wir gute Freunde wären, oder so...\"

\"Ich habe mich dafür entschieden, dich zu fragen, weil du dem Klassenverband vorstehst und daher über ein ausreichendes Maß an Lebenserfahrung verfügen mußt.\"

\"Argh... weil ich Klassensprecherin bin?\"

\"Korrekt.\"

Am liebsten hätte Hikari die Flucht ergriffen, doch sie wußte, daß Ayanami schneller war als sie.
\"Und deshalb denkst du, ich könnte... ich hätte...\"

\"Ja.\"

\"Oh, nein...\"
Irgendwie hatte sie geahnt, daß ihre Position sich eines Tages zu einem Alptraum entwickeln würde, aber sie hatte eher mit Krankenbesuchen bei verletzten Mitschülern und Schüleraufstän-den wegen des miserablen Essens in der Kantine gerechnet.
\"Ayanami, weißt du eigentlich, wie ich Klassensprecherin geworden bin?\"

\"Du wurdest wahrscheinlich gewählt.\"

\"Ja...\"

\"Ich war an dem Tag nicht anwesend.\"

\"Hm... das... Ich war der einzige Kandidat. Ich habe mich nicht einmal freiwillig gemeldet, son-dern wurde vorgeschlagen.\"

\"Sicher aufgrund deiner Kompetenz.\"

\"Nein, weil es kein anderer machen wollte.\"

\"Aber du erfüllst deine Aufgaben gewissenhaft und zufriedenstellend.\"

\"Das... äh... danke.\"

\"Das war eine Feststellung.\"

\"Uhm, aber das erste Mal, daß mir jemand gesagt hat, daß ich es richtig mache.\"

Sie erreichten die Toiletten, Hikari schloß die Tür der Mädchentoilette hinter ihnen, klappte den Deckel einer der insgesamt fünf Toiletten herab und setzte sich.
\"Ayanami, was ich damit meine - nur weil ich Klassensprecherin bin, bedeutet dies nicht, daß ich... wie sagtest du... ein ausreichendes Maß an Lebenserfahrung besitze.\"

Rei blinzelte.
Das kam unerwartet. Sie hatte vorausgesetzt, daß die Klassensprecherin ihr Auskunft geben konnte, hatte Horakis Position als Leiterin des Klassenverbandes mit der des Kommandanten als Leiter von NERV assoziiert.
\"Bei wem kann ich dann Informationen einholen?\"

Hikari bemerkte Ayanamis Enttäuschung.
Ihr selbst fiel niemand ein, denn Ayanami hätte fragen können. Ihr eigener Vater ging solchen Themen stets geschickt aus dem Wege, das Lehrerkollegium war derart überaltert, daß die Lehrer wahrscheinlich reihenweise Herzanfällen zum Opfer fallen würden, sollten sie sich damit beschäftigen, und von den Mitschülern taten manche zwar furchtbar wichtig und kenntnisreich, doch Hikari war sich sicher, daß sie ihre anatomischen Kenntnisse auch nur aus den Schmud-delheften bezogen, die sie heimlich unter der Bettdecke lasen oder in ihren Spinden aufbewahr-ten... sie selbst war eigentlich von ihrer älteren Schwester Nozomi aufgeklärt worden, welche ihr Wissen wiederum von ihrer Mutter kurz vor deren Tod erhalten hatte.
Hikari seufzte.
\"Ayanami, setz dich, das könnte länger dauern...\"

\"Also bist du doch imstande, mir Auskunft zu geben?\"

\"Ähm, in gewisser Weise, ja. Was möchtest du wissen?\"

Rei setzte sich auf den Klodeckel zu Hikaris linken.
\"Klassensprecherin Horaki, woran erkenne ich, ob ich verliebt bin?\"

Wieder klappte Hikaris Unterkiefer herab.
Gerade hatte sie sich gedanklich darauf vorbereitet, die biologischen Abläufe der Fortpflanzung zu erklären, wie sie im Biologielehrbuch standen, und das ganze mit den Erfahrungen anzurei-chern, die sie durch ihre inzwischen volljährige Schwester mitgeteilt bekommen hatte, da kam eine solche Frage.
\"Verliebt...? Das ist schwierig...\"
Ihr fiel Nozomis Vorliebe für Liebesromane wieder ein.
\"Uhm, also... du könntest in jemanden verliebt sein, wenn... ah... wenn dein Herz in seiner Ge-genwart schneller schlägt und du ein seltsames Kribbeln in der Bauchregion hast und...\"

\"Die gleichen Symptome deuten auch auf eine Lebensmittelvergiftung hin\", warf Rei ein.

Hikari stöhnte auf.
Nein, das würde wirklich nicht einfach werden...


*** NGE ***


Nachdem Hikari ihrer Mitschülerin sämtliche ihr bekannten Begleiterscheinungen des Zustan-des \'Verliebtsein\' aufgezählt und teilweise erklärt hatte, fühlte sie sich um Jahre gealtert. Jedes einzelne Anzeichen konnte laut Ayanami genausogut als Symptom irgendwelcher leichten bis tödlichen Erkrankungen gewertet werden.
\"Ja, fühlst du dich denn krank?\"

Rei lauschte in sich hinein.
Alle Körperfunktionen erschienen ihr normal.
\"Nein, Klassensprecherin.\"

\"Gut... Und hör auf damit, mich Klassensprecherin zu nennen, Hikari genügt.\"

Rei blickte ihre Mitschülerin an. Bedeuteten die Worte der Klassensprecherin, daß sie ihr ihre Freundschaft anbot? Oder wollte sie einfach Zeit sparen? Eigentlich war es nebensächlich...
\"Akzeptiert. Und wenn man zu dem Schluß gekommen ist, daß man verliebt ist, was soll man dann tun?\"

Hikari vergrub ihr Gesicht in den Händen und gab ein langgezogenes Seufzen von sich.



Kapitel 16 - Kleine Schätze

Nach ihrem Gespräch mit Hikari hatte Rei das Schulgebäude verlassen und wartete nun am Eingangstor auf Shinji, wobei sie in ihrem Büchlein die während der Unterhaltung mit der Klassensprecherin eilig hingekritzelten Notizen noch einmal durchging.
Demnach gab eine ganze Reihe von Stadien in einer zwischenmenschlichen Beziehung, begon-nen bei einer Bekanntschaft, fortfolgend mit einer Freundschaft, welche eventuell zu einer Freundschaft anderer Art werden konnte... weshalb benutzten die Menschen eigentlich den gleichen Begriff, obwohl sie verschiedene Dinge meinten? Einmal Freund im Sinne von Kame-rad oder Kumpel, wie Mitschüler Suzuhara es wohl ausgedrückt hätte, dann Freund im Sinne von jemandem, mit dem man Zärtlichkeiten austauschte... Zärtlichkeiten, der nächste Begriff, bei dem sie Schwierigkeiten hatte, und bei dem auch die Klassensprecherin wieder ins Stottern gekommen war... und was den Begriff \'Liebe\' anging, so war sie immer noch so schlau wie zu-vor. Daß Hikari schließlich gequält die Ansicht geäußert hatte, sie würde es schon erkennen, wenn sie in jemanden verliebt war, war nicht gerade ergiebig gewesen, ebenso daß sie sich rundum geweigert hatte, ihr Auskunft zu geben, ob sie selbst einen solchen Zustand bereits er-lebt hatte.
Wäre es Rei möglich gewesen, hätte sie wahrscheinlich alle diese Überlegungen einfach ge-lassen und sich mit einfacheren Dingen beschäftigt, zum Beispiel den Grundlagen der Thermo-dynamik oder ähnlichem.
Schließlich erschien Shinji-kun, der sie verlegen anlächelte.
Sein Lächeln hatte etwas, das ihr Herz erwärmte.

\"Tut mir leid, daß es solange gedauert hat.\"

Sie nahm seine Entschuldigung nickend zur Kenntnis, unterließ die Bemerkung, daß sie ja gar keine Zeit vereinbart hatten.
Zum ersten Mal in wachen Zustand fielen ihr die hellen Verbände an seinen Händen auf.
\"Wie geht es deinen Händen?\"

Shinji hob die Hände ein Stück, präsentierte ihr die bandagierten Handinnenflächen.
\"Es schmerzt nicht mehr.\"
Er mußte ihr ja nicht erzählen, daß Toji und Kensuke sich wegen des starken Erdbeergeruches fast totgelacht hatten, als sie seine \'Kriegsverletzungen\' begutachtet hatten.
\"Wo wollen wir hingehen?\"

Sie blinzelte.
Wieder etwas, worüber sie nicht nachgedacht hatte.
\"Ich soll mich um drei Uhr zur Nachuntersuchung bei Doktor Akagi melden.\"

\"Dann haben wir noch fast zwei Stunden. Uhm, wir könnten einfach... ahm... spazierengehen.\"

Spazierengehen...
Rasch holte sie ihr Notizbuch hervor, blätterte in den zuletzt beschriebenen Seiten herum.
Spazierengehen... Hikari hatte doch etwas dazu gesagt... in Verbindung mit Händchenhalten und Romantik... ersteres hatte sie noch verstanden, was sich hinter dem Begriff Romantik al-lerdings verbarg, entzog sich ihr völlig.
\"Gut, einverstanden.\"
Sie steckte das Büchlein wieder weg, welches Shinji-kun neugierig beäugt hatte. Doch selbst wenn es ihm gelungen wäre, einen Blick in das Buch zu werfen, hätte er mit ziemlicher Sicher-heit ihre Kurzschrift nicht entziffern können.

Shinji deutete auf die andere Straßenseite.
\"Laß uns da lang gehen, dann kommen wir in einem großen Bogen zur Bahnstation zurück.\"

Sie nickte, den vorgeschlagenen Weg in Gedanken nachvollziehend.

Auf der anderen Seite befanden sich mehrere Geschäfte, die meisten standen allerdings leer, nach den Engelangriffen vor drei Wochen hatte eine ganze Reihe von Zivilpersonen die Fe-stungsstadt wieder verlassen, wie Rei bekannt war, es gehörte zu jener Art von Wissen, wel-ches man beiläufig aufnahm, ohne ihm größere Bedeutung beizumessen.
Shinji-kun achtete zwar darauf, an ihrer Seite zu bleiben, machte aber keine Anstalten, ihre Hand zu nehmen, oder ihr seinen Arm zum Einhaken anzubieten, was laut Hikari auch eine Möglichkeit war, wenn Freunde zusammen spazieren gingen - Freunde der zweiten Art wohl-gemerkt, obwohl es sie auch nicht gewundert hätte, wären ihnen die Mitschüler Suzuhara und Aida Arm in Arm über den Weg gelaufen, schließlich hockten die beiden ständig zusammen. Oder wartete Shinji-kun darauf, daß sie die Initiative ergriff? Initiative... sie war es gewohnt, Befehle auszuführen, da war keine Initiative gefragt...

Shinji verharrte vor dem Schaufenster eines Geschäftes, welches unter anderem Sportartikel führte. Ein großes Schild verkündete, daß bis zum Monatsende ein Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe stattfand.
Er seufzte. In den letzten Tagen hatte er öfter vor diesem Schaufenster gestanden. Sein Inter-esse galt allein einem Fahrrad, welches im Preis extrem herabgesetzt war. Es sah so aus wie je-nes, daß er damals im Straßengraben gefunden hatte, nur war es größer, eben genau seine Größe. Ob er Misato fragen sollte, ob sie ihm das Geld gab? Sie hatte vor ein paar Tagen fast schuldbewußt erklärt, daß er natürlich Taschengeld bekommen würde, allerdings hätte die Ver-waltung von NERV bisher bei ihrem Gehalt nicht berücksichtigt, daß ihr die Vormundschaft für ihn übertragen worden war, weshalb seine Bezüge als Pilot auch nicht auf ihr Konto ver-bucht worden waren, sondern irgendwo quasi als Aktenleichen herumlagen. Falls er irgendet-was kaufen wollte, konnte er dazu zwar mit Misatos Erlaubnis ans Haushaltsgeld gehen, aller-dings hatte sie wahrscheinlich eher an ein Comic-Heft oder ähnliches dabei gedacht, als an ein Fahrrad, auch wenn der Preis erneut gesenkt worden war. Und sein Geburtstag rückte auch nä-her, nur schien das Misato nicht bekannt zu sein, jedenfalls hatte sie das bisher nicht angespro-chen und ihm selbst war es irgendwie unangenehm, so ein Thema anzuschneiden, er wollte nicht klingen, als fordere er etwas...

Rei beobachtete Shinji-kuns Verhalten, sah, wie seine Schultern langsam nach vorn sanken.
Was mochte ihn bekümmern?
Das Geschäft, vor dem sie standen, würde Ende des nächsten Woche schließen, wieder ein Händler, der sich entschlossen hatte, die Stadt zu verlassen.
Welchem Objekt in der Auslage galt Shinji-kuns Interesse? Er schien direkt auf einen Fahrrad-bausatz zu blicken.
\"Was siehst du?\"

\"Ich... ah... nichts.\"

Sie antwortete nicht, war es inzwischen von ihm gewohnt, daß er bei manchen Dingen aus-wich.

\"Laß... laß uns weitergehen.\"

Rei nickte.
Wieder gingen sie nebeneinander, ohne ein Wort zu wechseln.
Was war der Nutzen, wenn sie tatenlos durch die Straßen gingen? Das war doch eigentlich nur Zeitverschwendung... andererseits konnte sie sich auch nicht dazu durchringen, sich vorzeitig von ihm zu verabschieden und zum Hauptquartier zu gehen.

\"Rei... wir hatten vorhin über die EVAs gesprochen... und über diese... Dunkelheit...\"

Sie nickte nur.
Die Fakten waren ihr bekannt.
Dann verstand sie, er wollte ein Gespräch beginnen, indem er an die Unterhaltung vom Vor-mittag anknüpfte.
\"Ja. Und du warst gerade dabei, mir zu erklären, weshalb du rot geworden bist, Shinji-kun.\"

\"Uhm... ah... das... äh...\"

\"Es ist gut. Ich habe nicht den Wunsch, dich in Verlegenheit zu bringen.\"

\"Nicht? Äh, ja... also Rei... es ist, weil... hm... ich meine, uh... ich glaube, die Antwort könnte... ähm, sie könnte dich in Verlegenheit bringen, und...\"

\"Du reagierst verlegen, weil du befürchtest, mich in Verlegenheit bringen zu können?\"
Der nähere Gehalt seiner Aussage entzog sich ihr. Gut, seinen Worten war zu entnehmen, daß er ihretwegen so reagierte, aber warum glaubte er, sie in Verlegenheit bringen zu können?

\"Ja... uhm... ja, genau.\"

\"Warum glaubst du, mich in Verlegenheit zu bringen?\"
Er war nicht mehr an ihrer Seite, war abrupt stehengeblieben.
Sie kehrte um, blieb vor ihm stehen.
\"Wie meinst du das?\"

\"Können wir... können wir ein andermal darüber sprechen?\"
Shinji blickte Rei flehend an.
Er konnte ihr doch nicht auf offener Straße sagen, daß sie hübsch war! Dazu kannte er sie gar nicht lange genug! Vielleicht trat er ihr damit zu nahe, vielleicht würde sie es falsch auffassen... Außerdem ging das alles viel zu schnell... auch wenn ihm jedesmal ein wohliger Schauder den Rücken herablief, wenn sie ihn \'Shinji-kun\' nannte. Misato nannte ihn auch so, doch bei Rei war es irgendwie anders...

\"Wie du wünschst.\"

\"Ja... äh...\"
Worüber hatte er mit ihr reden wollen - ach ja, die böse Ausstrahlung, die von den EVAs aus-ging, wenn sie in Kampfhandlungen verwickelt wurden... die Dunkelheit, so beängstigend sie auch war, dieses Thema war um einiges sicherer als manche andere...
\"Du hattest mir etwas über das Betriebssystem der EVAs erzählt... wie... uhm... wie kann von einem Computer ein solcher Haß ausgehen?\"

\"Nicht von dem Computer selbst, von der Grundprogrammierung. Die EVAs sollten ursprüng-lich mit künstlicher Intelligenz ausgestattet werden, so daß sie imstande waren, begrenzt eigen-ständig zu handeln... sie sollten über Reflexe verfügen.\"

\"Reflexe?\"

\"Ja, etwas, das ein Roboter nicht besitzt. Ein Roboter agiert stur nach seinem Programm, die künstliche Intelligenz sollte für eine gewisse Flexibilität sorgen.\"

\"Ja. Das... hm... das kann ich nachvollziehen.\"

\"Für die Grundprogrammierung der KI wurde ein menschliches Persönlichkeitsmuster verwen-det, welches von Doktor Naoko Akagi im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit digitalisiert wor-den war.\"

\"Die... die EVAs denken also wie Menschen?\" stieß Shinji überrascht hervor.

\"Nein, Shinji-kun. Die künstliche Intelligenz wurde nie aktiviert, weil sie sich während der Testläufe als zu instabil herausgestellt hat. Möglicherweise beeinflußt sie aber dennoch die künstlichen Gehirne der EVAs.\"

\"Weißt du... weißt du, wessen... uhm... Persönlichkeit bewußt wurde?\"

\"Das ist mir nicht bekannt.\"

\"Ich glaube... uhm... ich glaube, daß sie immer dann... erwacht, wenn der EVA beschädigt wird.\"

\"Wenn das Schmerzzentrum angesprochen wird... das ist möglich. Es würde der Program-mierung entsprechen, in einer solchen Lage aktiv zu werden.\"

\"Du weißt eine ganze Menge über die EVAs.\"

\"Ja.\"

\"Uhm, du bist ja auch schon sehr lange bei NERV, oder? Misato meinte, daß man dich schon sehr lange zur Pilotin ausgebildet hätte...\"

\"Das ist... korrekt.\"
Sie hätte ihn korrigieren können, hätte ihm mehr über sich erzählen können, doch dann hätte er die Wahrheit über sie erfahren, etwas, wovor sie plötzlich Angst bekam...
Sie wollte ihn nicht verlieren...

\"Und was... kann man tun? Ich meine, könnte man vielleicht... uhm... die Festplatte des Steuer-computers neu formatieren? Soetwas müßte doch gehen, oder?\"

\"Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich glaube nicht, daß es möglich ist.\"

\"Dann... dann können wir gar nichts tun?\"

\"Doch. Darauf achten, daß die EVAs nicht beschädigt werden.\"

\"Das...\"
Rei mußte scherzen - darauf achten, daß die EVAs nicht beschädigt wurden, natürlich, nichts einfacher als das... und wer sollte das den Engeln sagen?
Er runzelte die Stirn.
Nein, Rei machte keine Scherze, er wußte nicht einmal, ob sie Humor besaß. Ihre Antwort ba-sierte ganz einfach auf dem Grund, daß sie auch keine andere Möglichkeit sah...
\"Rei... ich möchte dich um etwas bitten...\"

\"Was?\"

\"Das, was du heute nacht getan hast... als du EVA-00 benutzt hast, um den Angriff des Engels von mir abzuwehren... bitte, mach das nie wieder.\"

Wie meinte Shinji-kun das? Legte er keinen Wert darauf, daß sie ihn beschützte? Glaubte er, ohne sie auszukommen?
Plötzlich ergriff er ihre Oberarme, hielt sie fest, sah ihr in die Augen.

\"Bring dich nie wieder in so eine Gefahr... nicht wegen mir!\"

Jetzt verstand sie... er sorgte sich um sie...
Nicht wegen ihm...
\"Wegen wem denn sonst?\" fragte sie leise.

Shinji ließ Rei los, sah sie nur an, unfähig, etwas zu sagen.

\"Doktor Akagi erwartet mich. Unser Tag zusammen war... schön.\"
Damit wandte sie sich ab und eilte zur Bahnstation.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi streifte ihre Handschuhe ab.
\"Du kannst dich anziehen, Rei, ich kann nichts feststellen.\" es klang beinahe, als bedauerte sie dies.

Schweigend schlüpfte Rei in ihre Sachen.

\"Die Schäden an Einheit-00 werden mich die nächsten Wochen beschäftigen\", fuhr Akagi fort. Schließlich mußte sie die Pilotin des EVAs den Vorschriften gemäß über den Zustand des EVAs in Kenntnis setzen, einen Zustand, den Gendos Puppe selbst zu verantworten hatte. Gendos Vorschriften... Gendos Puppe... sie haßte das Mädchen nicht, aber in ihren Augen war es auch kein Mensch, eher eine Maschine, ein gefühlsloses Ding. - Und Rei war Gendos Lieb-ling, für ihn schien sie sehr wichtig zu sein, wichtig genug, daß er sich in Gedanken sogar mit ihr zu beschäftigen schien, wenn er bei ihr, Ritsuko Akagi, war und sich wie ein Automat holte, was ihm seiner Ansicht nach zustand. Akagi hätte es sich nie eingestanden, doch sie fürchtete den Tag, an dem Rei alt genug war, um dem Kommandanten nicht nur als Protegé, sondern als Frau ins Auge zu fallen - ab diesem Tage würde sie selbst abgemeldet sein... Und dieser Zeit-punkt war nicht mehr allzu fern.
\"Die Brustpanzerung muß ausgewechselt und das Gewebe darunter regeneriert werden. Aus-serdem hat es eine Reihe von Kurzschlüssen im Computersystem gegeben.\"

Rei nickte, schloß den obersten Knopf ihrer Bluse.
\"Doktor Akagi, ist es möglich, das System neueinzurichten?\"

\"Schon... aber der Aufwand wäre nicht verhältnismäßig. Die Biokomponenten im Schädel müßten ausgetauscht werden... warum fragst du?\"

\"Es...\"
Rei zögerte. Die Stimme des Doktors drückte Unwillen aus. Sie schien sie so schnell wie mög-lich loswerden zu wollen.
\"Es war nur eine Frage.\"

Ritsuko runzelte die Stirn.
Normalerweise stellte Gendos Puppe keine solchen Fragen... normalerweise stellte sie über-haupt keine Fragen.
\"Du solltest besser hoffen, daß EVA-00 innerhalb der nächsten acht Wochen nicht benötigt wird, solange dauert es nämlich, die Einheit wieder flott zu machen. Ich mußte extra einige Komponenten von der deutschen Zweigstelle anfordern.\"

\"Es tut mir leid.\"

Ritsuko zuckte zusammen.
Hatte Gendos Puppe tatsächlich gerade gesagt, es täte ihr leid? Das Mädchen hatte noch nie etwas derartiges gesagt...
\"Ich plane daher verschiedene Kreuztests, um das System von EVA-01 gegebenenfalls so schnell wie möglich auf dich umschreiben zu können, falls es wieder Schwierigkeiten mit Shinji gibt.\"

\"Es wird keine Schwierigkeiten mit Shinji-kun geben.\"

Shinji-kun... So...
\"Rei, gibt es etwas, über das du mit mir reden möchtest?\"

\"Nein, Doktor Akagi.\"

\"Das... Gut, du kannst gehen.\"
Irgendetwas war anders...

\"Ja.\"
Rei trat an die Tür, verharrte dort, den Blick auf etwas gerichtet, das in dem Regal neben der Tür lag - ein Paar dunkelblauer Handschuhe, die zu einer PlugSuit gehörten.
Zögernd streckte die Hand aus, nahm die Handschuhe auf. Das Material war an der Handfläche starker Hitze ausgesetzt gewesen.
\"Sind das Shinji-kuns?\"

Akagi zuckte zusammen.
Gendos Puppe war ja immer noch da... und sie hatte die PlugSuit-Handelemente in der Hand, welche sie im Inneren des EntryPlugs von EVA-00 gefunden hatten.
\"Das stimmt, es sind Shinjis, die Schäden am Material passen zu seinen Handverletzungen.\"

Rei betrachtete wieder die Handschuhe, versuchte, von den Schäden auf Shinji-kuns Verletzun-gen zu schätzen.
\"Sind Shinji-kuns Verletzungen schwer?\"

Das Mädchen interessierte doch sonst nicht für andere... das wurde ja immer interessanter...
\"Der Stoff hat das meiste abgehalten, den Rest erledigt meine regenerative LCL-Mischung.\"

\"Erdbeere...\" murmelte Rei.

\"Ah, ja... Willst du die Handschuhe als Andenken behalten? Ich schätze, es ist passiert, als er die Einstiegsluke geöffnet hat... muß verdammt weh getan haben.\"

Daher also rührten Shinji-kuns Verletzungen... sie hatte ihn nicht nach der Herkunft gefragt, hatte nur die Bandagen zur Kenntnis genommen... hätte sie ihn fragen müssen, wo er sich die Verletzungen zugezogen hatte? Hätte ein Freund so gehandelt?
Wieder war er wegen ihr zu Schaden gekommen, wenn sie ihn dazu gebracht hätte, den EVA zu steuern... Das Handrad, es war nicht einfach zu drehen, benötigte viel Kraft... Shinji-kun... weshalb hatte er das getan? Nicht, weil jemand ihn dazu gezwungen hatte... Also hatte er es... Ihretwegen getan...
\"Ja.\"
Sie steckte die Handschuhe in die Tasche.
Ein Andenken...

Akagi sah sie überrascht an.
Hatte sich das \'Ja\' von Gendos Puppe auf die Handschuhe oder Shinjis Verletzungen bezogen? Das Mädchen verhielt sich wirklich anders.
\"Rei, was... hm, was denkst du von Shinji?\"

\"Wir sind Freunde.\"

\"Ah... ja...\"
Freunde... Soweit es Akagi bekannt war, war derartiges nicht vorgesehen, entsprechend ihre genetischen Struktur und der Konditionierung, welcher Gendo sie unterzogen hatte, hätte Rei außerstande sein müssen, irgendwelche Gefühle zu entwickeln... zum Beispiel ausreichend Sympathie für jemand anders, um diesen als Freund bezeichnen zu können...
Gendos Puppe hatte also begonnen, eigenständig zu denken... interessant... Das stellte Gendos Kontrolle über sie in Frage - unzweifelhaft würde er innerlich toben, wenn er es erfuhr... und dann würde er einen neuen Klon aktivieren und den jetzigen aus dem Weg schaffen, dabei er hatte er soviel Mühe investiert, daß Rei nur ihm allein vertraute... nein, sie würde es ihm nicht verraten, würde ihm nicht sagen, daß seine Puppe dabei war, ihre Fäden zu kappen, jedenfalls nicht vor der nächsten routinemäßigen Übertragung von Reis Erfahrungswerten auf das Dum-myPlug-System, dann würde eine Beseitigung von Rei keinen Sinn mehr machen, weil die Erinnerungen von Gefühlen verseucht sein würden...

\"Haben Sie noch weitere Fragen?\"

\"Nein, geh nur... das heißt, sei in zwei Stunden im Testcenter, ich möchte einen Synch-Test simulieren.\"

\"Ja. Ich werde pünktlich sein.\"
Ein simulierter Synch-Test lief allein über die MAGI-Rechner, sie würde mit dem EVA-Be-wußtsein nicht in Kontakt kommen, etwas daß sie sehr beruhigte.

Rei verließ Ritsukos Labor. Ohne daß sie es wußte, hatte sie in der Wissenschaftlerin eine Art Verbündete gefunden...


*** NGE ***


Reis Wohnung war immer noch düster und chaotisch, als sie sie betrat, dabei registrierte, daß ihre Anfrage beim NERV-Quartiermeister, ob jemand das Türschloß richten könnte, offen-sichtlich noch nicht ausgeführt worden war.
Aber das war nicht besorgniserregend, sie hatte nichts von Wert in ihrem Apartment, außerdem hielten sich laut Aussage des Kommandanten stets zwei Agenten des internen Sicherheitsdien-stes im Haus auf.
Sie hatte keine Schätze... nein, das stimmte nicht ganz, doch das, was sie als wertvoll ansah, war in den Augen anderer nur eine zerbrochene Brille.
Sie trat an das Schränkchen neben dem Bett, öffnete die Jalousie ein Stück, damit etwas Licht in die Wohnung fiel.
Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie schmutzig die Fensterscheibe war, obwohl draußen noch heller Tag war, drang kaum Licht hindurch. Aber das war egal. Ihre Wohnung bedeutete ihr nichts, es war der Ort, den man ihr zugewiesen hatte, ebenso wie man ihr befohlen hatte, die Schule zu besuchen. Es war egal, daß die Heizung ebensowenig wie die Deckenbeleuchtung im Hauptraum funktionierte, ebenso daß es kein warmes Wasser gab und die Toilettenspülung jedesmal undefinierbare Laute machte, wenn man sie betätigte. Ihre besondere Physiognomie verhinderte Erkältungen und sorgte dafür, daß sie grippale Erkrankungen binnen weniger Stun-den auskurierte.
Rei zog die oberste Schublade des Schränkchens auf, wo sie ihre Socken aufbewahrte, neun Paare, das zehnte trug sie zur Zeit. Es war noch ausreichend Platz...
Zögernd nahm sie das Brillenetui und legte es in die Schublade.
War es richtig, ihren Schatz derart fortzulegen? Aber dort drinnen war die Brille des Komman-danten davor geschützt, herunterzufallen und weitere Schäden zu erleiden...
Mit einer entschlossenen Geste schob sie die Lade wieder zu.
Auf der Oberseite des Schränkchen war ein heller Flecken in der ansonsten ungestörten Staub-schicht, der einzige Hinweis auf das Etui, welches dort seit Wochen gelegen hatte.
Sie holte die Handschuhe aus der Tasche, wollte sie auf den Schrank legen, zögerte, wischte dann mit dem Unterarm über die Fläche, bevor sie die Handschuhe mit beinahe feierlicher Langsamkeit auf dem Schränkchen plazierte.
Der Kommandant hatte sie ebenso wie Shinji-kun aus dem EntryPlug geholt, doch für ihn war sie nur ein Werkzeug in seinen Plänen, so wie jeder andere auch... doch Shinji-kun... Shinji-kun war ihr Freund...
Rei trat einen Schritt zurück, betrachtete das Paar Handschuhe einen Moment lang.
Es würde sie daran erinnern, daß jemand bereit gewesen war, für sie Schmerzen zu erleiden, je-mand, mehr in ihr sah, als nur die Pilotin von EVA-00, ein Freund...
Dann verließ sie das Apartment wieder, kehrte ins Hauptquartier zurück.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi hockte in der patentierten Ikari-Haltung an ihrem Terminal und betrachtete die Bildübertragung aus dem EntryPlug der Testanlage über den Grat ihrer gefalteten Hände hin-weg.
Schon nach kurzer Zeit begann ihr Rücken zu schmerzen. Wie hielt Gendo das nur stundenlang aus? Vielleicht würde sie ihn fragen, wenn er heute abend nach Tokio-3 zurückkehrte, wie Fu-yutsuki hatte verlauten lassen. Weiß der Geier, wo Gendo gewesen war, was wichtiger gewe-sen war, als der Engel, der sich fast bis in die Geofront hindurchgebohrt hatte... Feigheit war es nicht gewesen, dazu glaubte sie ihn ausreichend zu kennen. Gendo Ikari wäre imstande gewe-sen, den Engel durch die getönten Gläser seiner Brille mit seinem eiskalten unbarmherzigen Blick anzusehen und ihm zu erklären, welche Enttäuschung er für ihn war... und wahrscheinlich hätte er damit sogar Erfolg gehabt und den Engel zu einer Selbstzerstörung aufgrund von De-pressionen verleitet... Gendo hatte eine solche Wirkung auf Leute...
Reis Gesicht erschien ihr nicht mehr puppenhaft starr wie noch vor einigen Tagen, die Haut war immer noch blaß, schien aber leichte Farbe im Vergleich zum letzten Mal erhalten zu ha-ben, ebenso wie ihr Mund keine exakt gerade Linie mehr zu formen schien... oder bildete sie sich das nur ein? Suchte sie nach Anzeichen dafür, daß Rei mehr war, als sie bisher den Ein-druck vermittelt hatte?

Die MAGI begannen mit der Auswertung des Tests.

Ritsuko streckte sich, stöhnte auf, als sie die Verspannung bemerkte, die sich in ihrer Schulter-partie ausgedehnt hatte.


\"Kaffee?\" fragte Misato von der Seite.

\"Ja, bitte - Moment, den hast doch nicht du gekocht, oder?\"
Wenn Katsuragi etwas zusammenkochte, schmeckte das in der Regel am Ende immer irgend-wie nach Bier...

\"Nein, das war Maya.\" erwiderte Misato und stellte eine der beiden Tassen, die sie trug, vor Ritsuko ab. Maya Ibuki kochte ganz passablen Kaffee, das fand Misato jedenfalls, auch wenn sie nicht verstehen konnte, was an ihrem eigenen Gebräu auszusetzen war, immerhin kochte sie ihren Kaffee nicht so stark, daß der Löffel steckenblieb oder sich gar in der tiefschwarzen Brü-he auflöste, wie es Ritsuko einmal passiert war, damals auf der Uni, als sie zusammengewohnt hatten... das waren Zeiten gewesen... Ritsuko, sie und Kaji...
Unwillkürlich verdüsterte sich ihr Gesicht.
Kaji... welchem Rock er wohl gerade hinterherlief?

\"Gott, Maya ist die beste Assistentin, die ich je hatte, mit den MAGI kommt sie schon jetzt fast besser klar als ich selbst.\"

\"Makoto Hyuga von der Brückencrew scheint ein Auge auf sie geworfen zu haben.\"

\"Ach? Hm, vielleicht sollte ich ihr am Wochenende freigeben, sie läuft sonst wieder nur ständig hier herum und sucht nach Arbeit.\"

\"Ritsuko, Ritsuko, in dir steckt ja doch ein Mensch... Vielleicht könnte ich den Dienstplan der Brückencrew etwas überarbeiten...\"

\"Du alte Kupplerin!\"

\"Nimm das \'alt\' zurück, Ritsuko!\" lachte Misato.

\"Hm, da kommen die Testergebnisse... Donnerwetter...\"

\"Was? Ist Reis Synch-Ratio gefallen? Wenn man bedenkt, daß sie in den letzten achtundvierzig Stunden kaum geschlafen hat...\"

\"Nein, nein, heb dir die Entschuldigung für ein andermal auf - ihr Synch-Wert ist um null kom-ma zwei Punkte gestiegen, sie liegt momentan einen ganzen Punkt über ihrem Standardwert.\"

\"Das ist gut, oder?\"

\"Ja. Ein Synch-Wert von 25,0 ist nötig, um mit dem EVA überhaupt in Kontakt treten zu kön-nen. Ein Ratio von 30,0 bedeutet, daß einfache Handlungen möglich sind. Shinjis Ratio liegt im Moment genau bei 61, Rei befindet sich bei 42,7.\"

\"Und was passiert bei 100?\"

\"Völlige Verschmelzung von EVA und Pilot, keine Verzögerung mehr, weil die Gedankenbe-fehle erst übersetzt werden müßten, totale Koordination von Mensch und Maschine - aber ein solcher Wert wurde erst zweimal erreicht und einmal sogar überschritten, in beiden Fällen mit tödlichem Ausgang für den Piloten.\"

\"Oh... das höre ich zum ersten Mal.\"

\"Das ist während der ersten Testphasen des Synchron-Systems geschehen... vor meiner Zeit bei NERV. Deshalb ist ein Synch-Ratio auch der Maximalwert, dann schreiten mehrere Sicher-heitsschaltungen ein, und drosseln die Synch-Verbindung auf Seiten des EVAs.\"

\"Ach herje, dann sind die Dinger ja gefährlich für die Piloten!\"

\"Nicht gefährlicher als eine Maschine, die sich überhitzt, wenn sie nicht beaufsichtigt wird.\"

\"Uhm... Also... weshalb ich eigentlich zu dir gekommen bin - Shinji hat in zwei Wochen Ge-burtstag und ich wollte nur abklären, daß du ihn an dem Tag nicht für irgendwelche Tests be-nötigst. - Ich hatte mir überlegt, eine kleine Überraschungsparty zu veranstalten.\"

\"Moment, ich mache mir eine Notiz... Gut, dann kann ich mich den ganzen Tag mit EVA-00 beschäftigen. Rei möchtest du doch sicher auch freigestellt haben, oder?\"

\"Rei? Wieso?\"

Ritsuko blickte Misato mit hochgezogenen Augenbrauen an.
\"Laut ihrer Aussage sind sie und Shinji Freunde, vielleicht solltest du sie auf die Gästeliste se-tzen?\"

\"Wirklich? Stimmt, das hat er mir heute nacht auf der Heimfahrt erzählt... aber Freund und Freund sind zweierlei Schuhe, wenigstens... Hm, danke für den Hinweis jedenfalls... Ob Shinji wirklich schon eine kleine Freundin hat?\"

\"Oh, Misato, frag mich nicht, ja? Ich möchte in solche Dinge nicht hineingezogen werden. Die beiden scheinen miteinander klarzukommen und es wirkt sich anscheinend positiv auf Reis Synch-Ratio aus, das ist alles, was mich interessiert. Und solange Shinjis Synch-Werte nicht fallen, werde ich mich auch nicht weiter äußern.\"

\"Aber vielleicht macht Kommandant Ikari Probleme, ich bin zwar noch nicht so lange bei NERV wie du, aber ich weiß auch, wie er sich immer um sie hat, als wäre sie sein Kind und nicht Shinji.\"

\"Wirf mal bei Gelegenheit einen Blick in Reis Apartment - wenn es soetwas geben würde, dann wäre im Lexikon unter dem Eintrag \'Rabenvater\' Gendo Ikaris Bild.\"

\"Wirklich?\"

\"Der einzige Mensch, der ihm wichtig ist, ist er selbst... alle anderen manipuliert er, wie es ihm paßt.\"

\"Das klang bitter.\"

\"Tja...\" Akagi öffnete die Sprechverbindung zum EntryPlug. \"Rei, du kannst den Plug verlas-sen, wir sind fertig. Dein Wert ist wieder gestiegen - du bist jetzt bei 42,7.\"

\"Das ist... erfreulich...\"

Ritsuko schaltete den Ton wieder ab.
\"Siehst du, was ich meine?\"

\"Nicht ganz. Das Mädchen klingt manchmal wie ein Roboter.\"

\"Früher hätte sie höchstens genickt, viel wahrscheinlicher sogar nur starr geradeausgeblickt, als hätte sie es gar nicht zur Kenntnis genommen. Es ist, als... hm... als hätte sie ein Update be-kommen.\"

\"Wie ein Computer? Ritsuko, du solltest öfters \'rausgehen, du verbringst viel zuviel Zeit in die-sen Labors und Werkstätten.\"

\"Dafür werde ich auch bezahlt... Ah, komm mal mit, ich will dir \'was zeigen...\"

Misato trottete hinter Ritsuko her. Sie verließen das dem Hangar angegliederte Test-Areal und wechselten in den Trakt mit den Labors und Werkstätten über, welche ebenso wie die Kran-kenstation und die Hangar-Sektion Akagi unterstanden.

\"Hier...\"
Ritsuko öffnete mit ihrer Paßkarte die Tür zu einer Werkstatt und machte Licht im dahinterlie-genden Raum.
Auf einem großen Tisch lag ein Gewehr.

\"Und? Ein Gewehr, doppelläufig, Laserzielerfassung...\"

\"Nicht irgendein Gewehr.\"
Akagi nahm die Waffe an sich.

\"He, paß auf, wohin du damit zielst!\"

\"Es ist nicht geladen. Das hier ist einer der Prototypen des von den EVAs benutzten Positro-nengewehres. Der zweite Lauf war für richtige Geschosse gedacht statt für Energieladungen, aber Kugeln in der entsprechenden Größe wären nicht machbar gewesen.\"

\"Ja, toll. Und?\"

\"Wir haben zuerst ein funktionierendes Gewehr in normalen Maßstäben konstruiert, bevor wir die gleichen Prinzipien im EVA-Format angewandt haben - aber das Teil hier funktioniert.\"

\"Nur dürfte es bei den Engel nicht mehr bewirken als ein Mückenstich, lästig aber unbedeu-tend.\"

\"Korrekt, solange wir mit solchen Riesen zu tun haben. Allerdings könnten wir es auch mit En-geln zu tun bekommen, die sich an Orten bewegen können, an welche ihnen die EVAs nicht folgen können.\"

\"Wie meinst du das jetzt?\"

\"Die MAGI glauben, in den bisherigen Angriffen ein Schema entdeckt zu haben.\"

\"Sie glauben? Das sind Computer!\"

\"Aber mit einer organischen Komponente. Außerdem sind es drei Einheiten - und wenn sie bei einer Aussage nicht zu 100% übereinstimmen, kann man durchaus sagen, daß sie glauben, die-se Aussage könnte zutreffen.\"

\"Äh, ja... okay, okay, ich will gar nicht mit dir diskutieren, auf solchen Gebieten bist du ohne-hin jederzeit in der Lage, mich mit Fremdwörtern zu erschlagen. Also, was... glauben... deine MAGI?\"

\"Die Engel scheinen zu lernen. Der erste war physisch sehr stark, doch sein Herz war quasi un-geschützt. Der zweite hingegen schützte sein Herz durch seine Haltung, ferner lag es unter ei-ner Art Panzerung, die Shinji nur mit dem PROGESSIVE-Messer durchdringen konnte.\"

\"Ja, verstehe...\"

\"Und der dritte ließ niemanden an sich heran. Die Oberfläche war rundherum gepanzert, dazu kam eine nahezu perfekte Verteidigung.\"

\"Hm, ja... Wir konnten ihn nur aus der Entfernung knacken. Erlaubt das schon Rückschlüsse auf den nächsten Gegner?\"

\"Leider nicht. Wir wissen nicht, wozu die Engel insgesamt fähig sind, wo die Grenzen ihres Potentials liegen. Der nächste könnte ganz aus Energie bestehen, so daß die EVAs ihn nicht greifen können, oder es ist eine stark gepanzerte Schildkröte, die sich langsam bis in die Geo-front durchgräbt...\"

\"Oder ein menschengroßer Engel, der seelenruhig in die Geofront spaziert...\"

\"Genau. Und für diesen Fall haben wir das hier.\"

Akagi klopfte auf den Abzug des Gewehrs.
Es ging los...
Begleitet von einem tiefen Summen löste sich ein tiefroter Energiestrahl, schlug in die Wand ein, hinterließ ein kreisrundes Loch von einem Meter Durchmesser.
\"Ups...\"

Misato schluckte.
\"Ja, das kannst du laut sagen... ups...\"
Sie trat an das Loch, blickte hindurch. Das Strahl hatte nicht nur diese, sondern auch die fünf nächsten Wände durchschlagen, glücklicherweise war die benachbarte Werkstatt leer und die danebengelegenen sanitären Einrichtungen gerade unbenutzt gewesen.
\"Pack es bitte wieder auf den Tisch.\"

\"Ja, ja... Dabei war ich mir sicher, daß es nicht geladen war...\"


*** NGE ***


Misato wartete vor dem Umkleideraum.
Der Schreck steckte ihr immer noch in den Knochen, Ritsuko hätte genausogut sie treffen kön-nen... ob sie dann auch \'ups\' gesagt hätte? Jedenfalls hatte sie ihr ersteinmal gezeigt, wo die Waffe gegen derartige Unfälle gesichert werden konnte, im Gegensatz zu ihr hatte Ritsuko we-der Waffenschein noch besondere Übung mit Schußwaffen, aber sie war ja auch Wissenschaft-lerin und nicht taktischer Offizier... trotzdem sollte eigentlich jeder wissen, daß man nicht ein-fach mit irgendwelchen Waffen herumfuchtelte... aber wenigstens war das Gewehr nicht explo-diert, im Gegensatz zu anderen Experimenten während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Misato erinnerte sich nur an die Sache mit dem Mixer, den Ritsuko meinte, repariert zu haben... Er-neut lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken. Akagi hatte etwas von einem verrückten Wissenschaftler, genial, aber verrückt...

Rei verließ die Umkleidekabine.
Ihr haftete immer noch der Geruch des LCLs an, da konnte es auch nicht helfen, so oft und so lange zu duschen wie man wollte, der Geruch setzte sich in der Haut fest, schien sich regel-recht hineinzufressen. Was man loswerden konnte, war das Aroma, mit welchem Doktor Akagi das LCL-Gemisch versetzte, damit der Grundgeschmack übertüncht wurde, aber nicht den Grundgeruch selbst, der Geruch von Blut... das Blut LILITHs, des Engels, der im Terminal-Dogma gefangen war...
Wenigstens trockneten ihre Haare schnell...
Der Captain wartete auf dem Gang auf sie.
Hatte sie etwas falsch gemacht? Stand eine kurzfristig angesetzte Besprechung an? Wollte der Kommandant sie sprechen? Oder war etwas mit Shinji-kun?
\"Captain Katsuragi?\"

Misato lächelte freundlich.
\"Rei, ist dir bekannt, daß Shinji in zwei Wochen Geburtstag hat?\"

\"Ja.\"
Ebenso wie ihr seine Größe, sein Gewicht, sowie seine Schuh- und Kleidergröße bekannt wa-ren, schließlich hatte sie sich seine Akte angesehen, nachdem sie erfahren hatte, daß der Sohn des Kommandanten nach Tokio-3 kommen würde.
Warum wollte der Captain wissen, ob es ihr bekannt war, daß Shinji-kun in Bälde Geburtstag hatte? Aus der Frage ging hervor, daß Captain Katsuragi das Datum bekannt war. Oder sollte es sich eher um eine rhetorische Frage handeln, eines dieser Konzepte der Sprache, die sie noch nicht wirklich verstand - warum stellten Menschen Fragen, wenn sie gar keine Antwort erwarteten?

\"Ähm, ja, gut...\"
Misato fragte sich, ob es wirklich ein so guter Einfall war, sich an Rei wenden zu wollen...
\"Also, ich überlege, ihm eine Überraschungsparty zu geben.\"

\"Überraschungsparty.\" wiederholte Rei.
Das Worte beinhalteten, daß sie die Information Shinji-kun gegenüber geheimhalten sollte.

\"Genau. Und da ihr beide befreundet seid, dachte ich, du könntest mir vielleicht etwas helfen.\"

Der Captain wußte, daß sie befreundet waren... sie selbst hatte es ihr nicht mitgeteilt, also mußte sie es von Shinji-kun erfahren haben. Und das bedeutete, daß Shinji-kun zu ihrer Freundschaft stand...
Sie verspürte ein angenehm warmes Gefühl in der Bauchgegend, welches definitiv nicht auf eine Erkrankung hinwies.
Wenn diese Überraschungsparty für Shinji-kun war, bedeutete die Anfrage des Captains, daß sie letztendlich etwas für Shinji-kun tat.
\"Wie kann ich Ihnen helfen, Captain Katsuragi?\"

\"Zunächst einmal wüßte ich gern, welche von Shinjis Mitschülern ebenfalls zu seinen Freunden zählen - ich bin da etwas im Hintertreffen.\"

Rei überlegte.
Der Captain konnte nicht meinen, mit wem Shinji-kun noch so befreundet war wie mit ihr. Sonst gab es niemanden, der mit ihm teilte, was sie mit ihm teilte, sie waren beide EVA-Pilo-ten... sie wußten beide um die Dunkelheit... und sie hatten beide füreinander Schmerzen erlit-ten.
Also konnte es nur um Freunde der anderen Art gehen.
\"Mitschüler Suzuhara und Aida.\"

\"Ja, von den beiden hat er mit schon erzählt. Sonst noch jemand?\"

\"Nein.\"

\"Nur die beiden? - Na gut, wir haben ohnehin nicht soviel Platz.\"

Nicht soviel Platz... Dann bedeutete das wohl, daß sie zu dieser Überraschungsparty nicht er-scheinen sollte... Schade...

\"Und könntest du dir vorstellen, was er sich wünschen könnte?\"

Was Shinji-kun sich wünschen könnte... ach ja, Menschen beschenkten sich zu verschiedenen Gelegenheiten, Geburtstage gehörten dazu... sie hatte noch nie etwas geschenkt bekommen... aber andererseits hatte sie auch keinen Geburtstag im Sinne des Wortes, es gab den Tag, an dem ihre erste Existenz begonnen hatte, und es gab den Tag, an dem ihre zweite Existenz, die momentane, angefangen hatte. Dann gab es den Tag, an dem die Klone erstmals Reaktionen gezeigt hatten... alles Daten, die sie aus den Logbüchern des Klontanks kannte.
Also gab es auch keinen Grund, ihr etwas zu schenken...
Aber es ging um Shinji-kun...
Ihr fiel der lange Augenblick ein, den er vor dem Schaufenster gestanden hatte.
Was hatte er sich angesehen?
Sie ging die Artikel im Schaufenster durch, erinnerte sich an die Reflektion in der Scheibe.
\"Er hat heute mittag eine Zeit lang seine Aufmerksamkeit einer Schaufensterauslage gewid-met.\"

\"Ja, und? Was hat er sich angesehen?\"

\"Einen Fahrradbausatz... glaube ich.\"

\"Ein Fahrrad?\"
Misato runzelte die Stirn.
Da war doch etwas in Shinjis Akte bezüglich eines Fahrrades gewesen... hm...
Natürlich, Shinji war ein Junge, ein Fahrrad gehörte zu den Dingen, die Jungen sich wünschten.
\"Welches Geschäft?\"

Rei gab bereitwillig Auskunft. Schließlich stand es in Shinji-kuns Interesse.

\"Gut, Rei. Vielen Dank, das hat mir sehr weiter geholfen.\"

Das Mädchen mit den roten Augen nickte.
\"Benötigen Sie weitere Informationen?\"

\"Im Augenblick nicht. - Falls du an dem Termin noch nichts vorhast - ich denke, Shinji würde sich freuen, wenn du kommen würdest.\"

\"Ich muß zuerst mit Doktor Akagi sprechen, ob sie Tests für den Tag eingeplant hat.\"

\"Tu das, aber ich denke, sie hat an dem Tag etwas anderes zu tun.\"

Rei blinzelte.
Wie meinte sie das jetzt wieder?
\"Ja.\"

\"Und ansonsten...\"
Misato legte den gestreckten Finger an die Lippen.
\"... bleibt es unser Geheimnis, okay?\"

\"Ja.\"


*** NGE ***


Kozo Fuyutsuki, stellvertretender Kommandant von NERV, wartete am Rand des Hubschrau-berlandefeldes.
Gerade war eine dunkelgraue Militärmaschine gelandet.
Eine einzelne Person war ausgestiegen, kam jetzt mit weitausholenden Schritten auf Fuyutsuki zu.
Gendo war zurückgekommen...

Der ältere Mann wartete, bis Ikari herangekommen war, sah ihn fragend an.

Der NERV-Kommandant kam geradewegs aus der Region der früheren Antarktis.
\"Sie haben endlich die Lanze gefunden...\"
4. Zwischenspiel

Möwen umkreisten einen Felsen, der sich aus dem Wasser erhob, es waren wenigstens zwei Dutzend Vögel.

*Blamm*

Wenigstens zwei Dutzend weniger eins.

*Blamm*

Der nächste Vogel verwandelte sich schlagartig in einen Ball aus blutigen Eingeweiden und Fe-dern und stürzte ins Wasser.

*Blamm*
*Blamm*
*Blamm*
*Blamm*

Vier weitere Vögel stürzten ab, zwei davon mit einem letzten Kreischen, während die anderen Möwen aufgeregt flatternd die Flucht in Richtung der Küste ergriffen.

Asuka Soryu Langley blies den Rauch von der Mündung der Waffe und lud ihren Revolver in aller Seelenruhe nach.
Es handelte sich um einen alten sechsschüssigen Colt, der während des US-amerikanischen Bürgerkrieges einem Südstaatenoffizier gehört hatte. Ihr Onkel hatte ihr die Waffe, die Teil seiner recht umfangreichen Sammlung gewesen war, zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt und sie im Gebrauch unterrichtet, damit sich eine Sache wie mit Pietter nicht wiederholte...
Das rothaarige Mädchen preßte die Lippen zusammen, bis nur noch zwei weiße blutleere Stri-che sichtbar waren. Es wollte sich nicht daran erinnern...

Und wie so oft zuvor gelang es ihr auch an diesem Tage, die Erinnerung zu verdrängen.
Sie lebte nicht in der Vergangenheit, aber sie dachte auch nicht an die Zukunft, lebte nur für den Augenblick.
Asuka trug einen Rollkragenpullover, dazu Jeans und Turnschuhe, sie befand sich auf dem Hauptdeck des Flugzeugträgers \'Over the Rainbow\', welcher den UN-Konvoi anführte, wel-cher sie und EVA-02 nach Japan bringen sollte.

\"Asuka, was machst du da?\"

Sie drehte sich nicht um. Natürlich kannte sie die Stimme, zu einer anderen Zeit hätte ihre ganze Aufmerksam Ryoji Kaji gehört, doch gerade lagen die Prioritäten anders.
\"Schießübungen.\"

\"Auf arme Möwen?\"

\"Warum nicht? Es sind nur Vögel.\"
Nur Vögel... in der Arkologie, in der sie aufgewachsen war, gab es keine Vögel in freier Wild-bahn, der Himmel bestand aus einer Plexiglaskuppel.
Ihre Tante Ann hatte ihr zu ihrem achten Geburtstag einen Kanarienvogel geschenkt... der Vo-gel war vier Tage später tot gewesen... vielleicht hätte sie ihn füttern sollen...

Kaji schüttelte stumm den Kopf.
Einerseits mochte er Asuka, sonst hätte er es wahrscheinlich nicht ausgehalten, von NERV-Deutschland zu ihrer Sicherheit abgestellt worden zu sein, doch in gewisser Weise war das Mädchen schlimmer als ihr Onkel, und das war nur teilweise darauf zurückzuführen, was ihr von Pietter Fresenhark angetan worden war... etwas, wofür er sich die Hauptschuld gab, hätte er damals nur eher gehandelt... dann wäre das Verbrechen wahrscheinlich verhindert worden und Larsen hätte seine Nichte nicht zu einer... Killerin ausgebildet...
\"Mit dem alten Ding?\"

\"Es fordert mein Können heraus.\"
Sie hob die neu geladene Waffe, suchte nach weiteren Zielen, doch der Himmel war leer, rings um den Flugzeugträger war nur Wasser sowie die anderen Schiffe des Konvois.
Asuka zuckte mit den Schultern, sicherte den Colt und steckte ihn in den Hosenbund.

\"Aber der Admiral ist nicht gerade begeistert.\"

\"Pffft. Was interessiert mich der Admiral?\"

\"Immerhin ist es sein Schiff.\"
Begeistert war die sehr geschönte Version, Admiral Horner war regelrecht an die Decke ge-gangen, als er gesehen hatte, daß auf seinem Schiff eine vierzehnjährige mit einer Waffe herum-ballerte.

Wieder zuckte sie nur mit den Schultern.
Was ging sie der Admiral an? Auch er erhielt seine Anweisungen letztlich von NERV.
Der Konvoi war am gestrigen Abend aufgebrochen und befand sich inzwischen auf Höhe der iberischen Halbinsel. Sobald die Schiffe die Riffe und Sandbänke der früheren europäischen Küstenlinie hinter sich gelassen hatten, würden sie Fahrt aufnehmen und den Atlantik überque-ren. Der Admiral hatte sich für die Strecke durch den Panamakanal entschieden, da ihm die Suez-Region derzeit aufgrund dortiger militärischer Streitigkeiten zwischen Israel und allen an-deren zu unsicher für seine Fracht erschienen war. Für die Reise war eine Zeit von insgesamt zweieinhalb Wochen veranschlagt worden.
\"Hast du irgendwelche Neuigkeiten?\"
Sie duzte den älteren Mann schon seit einiger Zeit. In ihren Augen war Ryoji Kaji ein richtiger Mann, kein Mistkerl wie ihr Vater... oder ein Vergewaltiger wie Pietter...

\"Nein.\"
Er wußte, worauf sie sich bezog.
\"Ich habe nichts von deinem Onkel gehört.\"

\"Ja...\"
Sie senkte den Kopf, starrte über die Reling ins Wasser.
Seit fast drei Wochen galt Onkel Wolf als verschollen.
Und sein direkter Vorgesetzter, der stellvertretende Direktor, war vor zwei Wochen bei einem Flugzeugabsturz getötet worden, der insgesamt 183 Menschenleben gefordert hatte.
Am gleichen Tag hatte sie die Mitteilung erhalten, daß EVA-02 in Japan benötigt wurde...

\"Er wird sich schon melden.\"

\"Nein, wird er nicht.\"

\"Wieso nicht? Commander Larsen ist ein zäher Hund.\"

\"Aber das hilft ihm doch nichts, wenn er... wenn er tot ist!\"

\"Wie kommst du darauf? Solange wir nichts näheres wissen...\"

\"Weil alle mich früher oder später verlassen und sterben, Kaji.\" entgegnete Asuka ohne jedes Gefühl in der Stimme.
Sie löste sich von der Reling und setzte sich in den Liegestuhl, der an Deck stand, den sie von daheim mitgebracht hatte. Eigentlich hatte sie ihn nur an Deck aufgestellt, um Admiral Horner zu provozieren, der Brite ging sehr leicht in die Luft, wie sie schon am vorherigen Abend fest-gestellt hatte, zudem hielt er überhaupt nichts davon, einem Kind, wie er sich ausgedrückt hat-te, eine Waffe wie den EVANGELION anzuvertrauen. Als ob sie sich darum scherte, was er meinte, dafür war sie nicht ausgebildet worden, sie war als Pilotin ausgewählt und trainiert worden, um den Engeln in den Arsch zu treten!
Und wenn das dem Admiral nicht paßt, konnte er ruhig daran ersticken!
Sie nahm die Mappe mit den Dossiers der anderen beiden Piloten, die sie noch von ihrem On-kel erhalten hatte, bevor er zu seinem letzten Einsatz aufgebrochen war, und schlug sie auf.
Asuka konnte die anderen beiden Piloten jetzt schon nicht leiden.
Ganz klar hatten sie ihre Positionen nur aufgrund von Beziehungen, das First Children war der Protegé des NERV-Oberkommandierenden und das Third Children sein Sohn, da mußte doch einfach familiäre Bevorzugung vorliegen, auch wenn es hieß, Shinji Ikari hätte gleich im ersten Anlauf einen EVA kontrollieren können - das war doch gar nicht möglich, sie selbst hatte Jahre gebraucht, um die Minimalanforderungen der Synchronverbindung zu schaffen, da wurde doch etwas schöngeredet. Und dazu sein Persönlichkeitsprofil, einen solchen Waschlappen hatte sie bisher noch nicht gesehen, dem Jungen stand das Wort \'Loser\' in dicken Lettern praktisch auf die Stirn tätowiert! Aber das Mädchen war noch schlimmer, angeblich immer kontrolliert und ohne Gefühle, wie eine Maschine... oder eine Puppe... und Puppen haßte sie aus tiefsten Her-zen. Diese unnatürlich roten Augen und die blasse Haut... dabei war diese Rei Ayanami gar kein Albino, sonst wäre auch ihr Haar weiß gewesen. Wahrscheinlich nur Kontaktlinsen, ge-färbtes Haar und der Versuch, auf den längst wieder abgefahrenen Gothic-Zug aufzuspringen, an dem Mädchen war wahrscheinlich gar nichts echt. Und was ihr Synch-Ratio anging - bisher war sie bei jedem Einsatz verletzt worden, so gut konnte sie also gar nicht sein. Und beim letz-ten hatte sie sogar ihren EVA fast geschrottet!
Nein, diesen beeiden Nieten konnte man beim besten Willen nicht das Schicksal der Mensch-heit anvertrauen. Aber dafür hatte man ja sie, Asuka Soryu Langley, nach Japan gerufen, damit jemand die Sache in die Hand nahm! Ihr wäre das jedenfalls nicht passiert, sie hätte die Engel, die bisher aufgetaucht waren, im Handumdrehen erledigt, dessen war sie sich sicher...
Kapitel 17 - Kreuztests

Auf so ziemlich jeder Schule gibt es einen Schüler, welcher seine Mitschüler drangsaliert. Nicht, weil er mit ihnen Streit hat, sondern weil er es kann, weil er größer und stärker als die anderen ist und ihnen leicht Furcht einzuflößen vermag.
In der Schule von Tokio-3 hieß dieser Schüler Masamoto und ging in die 4-D. Er war auf-grund des Umstandes, daß er mehrere Klassenstufen hatte wiederholen müssen, bereits acht-zehneinhalb, doch die Tatsache, daß sein Vater ein hochdekorierter Offizier war, dem zur Zeit die West-Verteidigung von Tokio-3 unterstand, hatte starken Einfluß darauf, daß Masamoto wegen seines Betragens immer noch nicht von der Schule geflogen war, sondern vielmehr qua-si mitgeschleift wurde, da auch die meisten Lehrer ihn fürchteten.
Masamoto rauchte, fuhr ein Motorrad und schwänzte wenigstens die Hälfte des Unterrichtes, da er viel lieber mit anderen Gleichaltrigen aus der Region herumhing, wenn Frauen dabei wa-ren, umso besser. Sein Vater reagierte auf die verhaltenen Beschwerden mit Standpauken, die ignoriert wurden, sowie mit Streichung des Taschengeldes. Letzteres traf Masamoto schon härter, schließlich brauchte er das Geld für Bier und Sprit

Seit dem letzten Engelangriff war mittlerweile über eine Woche vergangen und Masamoto war wieder einmal knapp bei Kasse. Inzwischen war er längst dazu übergegangen, den anderen Schülern dessen Taschen- und Essensgeld abzupressen. Niemand legte sich mit ihm an, der noch klar bei Verstand war.
Nur um einige Schüler der 2-A hatte er bisher einen weiten Bogen gemacht, so auch um Shinji Ikari und Rei Ayanami, das rotäugige Mädchen machte ihn einfach nervös - wenn diese Augen nicht gewesen wären, hätte sie garantiert nicht von der Bettkante gestoßen, wenn sich eine ent-sprechende Gelegenheit ergeben hätte - und der Junge war der Sohn des NERV-Oberbosses, mit dem man sich besser auch nicht anlegte, schließlich kontrollierte NERV letztendlich die ganze Stadt. Eine weitere Person, mit der Masamoto nichts zu tun haben wollte, war Toji Su-zuhara, da dieser fast so groß war wie er selbst und um einiges durchtrainierter, wie Masamoto hatte erfahren müssen, als er Suzuharas Kumpel Aida hatte ausnehmen wollen... aber der Kampf war auch nicht fair gewesen, schließlich hatte er Suzuhara nicht von hinten anspringen können.

Jetzt war er wieder auf der Suche nach einem Opfer, welches er um seine Barschaft erleichtern konnte.
Sein Blick fiel auf Hikari Horaki, die während der Mittagspause den Schulhof verließ und in der Mädchentoilette an der Sporthalle verschwand.
Verdammte Schlampe... die Klassensprecherin der 2-A tat immer furchtbar wichtig, der hätte er schon längst mal Bescheid stoßen müssen... aber hübsch war sie, ohne Zweifel.
Er legte sich auf die Lauer.

Als Hikari den Waschraum verließ, wuchs plötzlich vor ihr ein unrasierter und übel nach Bier und Zigarettendunst stinkender Bursche aus dem Boden, der ihr flüchtig von Sehen bekannt war - Masamoto, der Rüpel aus der 4-D...
Sie zuckte heftig zusammen, wollte zurück in den Waschraum, doch der größere schlug die Tür zu.
\"Nix da, du bleibst hier.\"

\"Was...\"

\"Was ich will? Gib mir dein Geld.\"

Hikari schluckte. Ihre Knie schlotterten.
\"Ich... ich... ich schreie!\"

Masamoto grinste breit.
\"Mach doch. Wirst schon sehen, was du davon hast... wäre schade um dein Gesicht, Kleine. Also, her mit der...\"

Weiter kam er nicht, denn da wurde er an der Schulter gepackt, herumgerissen und blickte im nächsten Moment in das wütende Gesicht von Toji Suzuhara.

\"Du schon wieder\", knurrte Toji. \"Ich habe dir doch gesagt, den Scheiß zu lassen!\"

Hikari konnte nur zusehen, obwohl ihr Verstand ihr zuzurufen schien, sie solle laufen.
Suzuhara war ihr zu Hilfe geeilt...

Kensuke Aida tauchte neben ihr auf und zerrte sie zur Seite.
Er hätte viel lieber den Kampf beobachtet, aber Toji hatte ihm aufgetragen, Hikari \'in Sicher-heit\' zu bringen, während er den Schläger beschäftigte. Kensuke hatte zwar gewußt, daß sein Freund eigentlich ein Herz aus Gold hatte - außer er war stinksauer - und daß er die Klassen-sprecherin mochte - auch wenn er das nie gesagt hatte, aber das breite Grinsen, mit dem er sie manchmal betrachtete, wenn die Unterrichtsstunden ihren Tiefstpunkt erreicht hatten, sprach Bände -, aber daß er soweit gehen würde, hätte er doch nicht gedacht.
Dabei waren sie einfach um die Ecke gebogen, als Toji plötzlich stehengeblieben war und Ken-suke rasch Anweisungen erteilt hatte, ehe er auf Masamoto losgegangen war.

\"Suzuhara... Nochmal überraschst du mich nicht\", zischte Masamoto und schlug ansatzlos zu, hämmerte dem anderen die Faust in den Magen.

Toji blähte die Backen auf, als ihm die Luft aus den Lungen getrieben wurde, besaß aber noch ausreichend Geistesgegenwärtigkeit, nach hinten auszuweichen und so dem Folgeschlag zu entgehen.
\"Glück... nur Glück, Mistkerl...\"
Er konterte, verpaßte dem größeren einen kräftigen Schlag gegen das Kinn, den dieser jedoch grinsend wegsteckte.
Dafür schmerzte jetzt Tojis Hand.
Dann krachte er auch schon mit dem Rücken gegen den Unterstand der Mülltonnen, dessen Tür nachgab.

\"Ich stopf dich in den Schrank und dann in eine Tonne, Großmaul!\"
Masamoto holte mit der Faust aus, zielte genau auf Tojis Nase, der sich nicht richtig bewegen konnte, weil er in der Tür eingeklemmt war.

Die Faust erreichte nie ihr Ziel...
Jemand packte Masamotos Unterarm, nutzte dessen eigenen Schwung aus und drehte ihm den Arm auf den Rücken.

\"Argh...\"
Der Schläger ging in die Knie, blickte über die Schulter, wer ihn da eiskalt erwischt hatte, sah in ein paar wütend funkelnder scharlachroter Augen.

\"Nie wieder.\" flüsterte Rei Ayanami, gab Masamoto dann einen Stoß, der ihn zu Boden beför-derte und wandte sich Suzuhara zu.
\"Bist du in Ordnung, Mitschüler Suzuhara?\"

Toji schüttelte benommen den Kopf.
\"Etwas angeschlagen. Wow, gute Aktion, Ayanami!\"
Er befreite sich aus seiner mißlichen Lage und sah auf Masamoto herab.

Der stemmte sich gerade wieder auf die Ellenbogen.
\"Das wird euch noch leid tun! Suzuhara, dich Schwuchtel nehme ich mir noch vor!\"

Toji trat ihm in die Seite.
\"Schwuchtel? Wenn nennst du hier eine Schwuchtel?\"

\"Au! Wenn dich die kleine Schlampe nicht...\"

Rei hielt ihn von weiteren Tritten ab.
\"Es genügt, Mitschüler Suzuhara.\"

Kurz sah er sie wütend an, nickte dann.
\"Okay. - Hey, Masamoto, sieht so aus, als ob Ayanami dich gerade vor den Prügeln deines Le-bens bewahrt hat!\"
Er wandte sich ab, ging zu Kensuke und Hikari, die an der Ecke standen.
Rei folgte ihm.

\"Suzuhara, bist du in Ordnung?\" fragte Hikari besorgt.

\"Klar doch.\"
Toji versuchte zu grinsen, schaffte aber nur eine Grimasse.
\"Wenn es nur nicht so weh tun würde\", flüsterte er.

\"Uh, der erste Hacken war wirklich mörderisch.\" meinte Kensuke.

\"Aber ich hab\'s ihm zurückgezahlt. So ein blödes Schwein.\"
Toji blickte Ayanami an, die teilnahmslos bei ihnen stand.
\"Danke, Ayanami, ich habe doch leicht in der Klemme gesteckt.\"

Sie nahm seinen Dank mit einem Nicken zur Kenntnis.

\"Warum bist du eigentlich dazwischengegangen?\" wollte Kensuke wissen.

\"Ich schulde der Klassensprecherin etwas.\"

\"Oh, echt?\"
Der Junge mit der Brille sah Hikari an.
\"Was denn?\"

\"Äh... nichts besonderes...\" wich Hikari aus. \"Suzuhara-kun, tut es sehr weh?\"

Tojis Augen leuchteten auf, als er mitbekam, wie sie ihn nannte.
\"Nicht mehr so. - Wobei, vielleicht könntest du ja mal Handauflegen oder so...\"

\"Suzuhara, das...\"

\"Ah, war doch nur ein Spaß.\"
Er grinste breit.

\"Uhm, ja... ich könnte einen Eisbeutel von der Schulkrankenschwester holen.\"

\"Das... ähm... das wäre sicher eine gute Idee... und sehr... uhm... nett von dir.\"

Reis Augenbrauen wanderten unmerklich einen halben Millimeter nach oben.
Mitschüler Suzuhara verhielt sich anders als üblich, jedoch nur gegenüber der Klassenspre-cherin.

\"Ich hole ihn dir schnell.\"
Hikari warf Toji ein Lächeln zu und eilte zum Hauptgebäude.

\"Toji, du Hengst! Ich wußte gar nicht, daß du so gut mit Mädchen kannst!\" grinste Kensuke.

\"Schnauze, Ken! Das ist nichts, worüber man sich lustig macht!\"

\"Hui, ist ja gut. Äh... - Hey, Ayanami, wo ist Shinji?\"

\"Tests.\"

\"Wegen des EVAs? Oh, ich wäre auch so gerne ein Pilot, es muß toll sein, mit so einem Me-cha...\"

\"Hm, sei dir da mal nicht so sicher\", brummte Toji, dem Shinjis Gesichtsausdruck nur allzu gut noch im Gedächnis war, als dieser mit ihnen in der Kapsel gegen den zweiten Engel gekämpft hatte.

Suzuharas Worte überraschten Rei, er schien eine seltsame Weisheit mit ihnen an den Tag zu legen.
\"Suzuhara-kun hat recht, die Gefahr überwiegt alles andere.\" erklärte sie und fragte sich im nächsten Moment, weshalb sie Mitschüler Suzuharas Namen gerade mit dem familiären Suffix für \'Freund\' versehen hatte. Suzuhara und Aida waren Shinjis Freunde, wenn auch auf einer anderen Ebene als sie. Und sollte sie Shinjis Freunde nicht auch als ihre Freunde betrachten, nur eben daß Freund und Freund nicht zwangsläufig dasselbe bedeuten mußte...
Und darin lag auch der Grund, der sie zum Handeln veranlaßt hatte...
\"Ich muß gehen.\"
Ihrer Ansicht nach genügte diese Mitteilung als gleichzeitiger Abschiedsgruß.
Sie ließ die beiden stehen und ging auf das nächste Tor zu, welches vom Schulgelände zur Straße führte.

Masamoto war inzwischen wieder auf den Beinen.
Seine Rippen schmerzten höllisch von dem Tritt er kassiert hatte, doch viel stärker war sein Stolz verletzt worden - schließlich hatte ihn eine Tussi aufs Kreuz gelegt. Er hatte keine Ah-nung, wie das rotäugige Miststück das geschafft hatte, vielleicht mit einem Judo-Griff oder ein-fach nur Glück, aber es würde ihr kein zweites Mal gelingen. Mal sehen, wie ihr Gesicht mit ein paar blauen Flecken, Prellungen und Schnittwunden aussah...
Bei diesem Gedanken zog er sein Springmesser aus der Hosentasche und ließ es aufschnappen, während er Ayanami vom Schulgelände folgte.
Und danach würde er sich den großmäuligen Suzuhara und dessen Kumpel vornehmen - und dann die kleine Schlampe on Klassensprecherin...
Er grinste breit, entblößte ein tiefgelbes schadhaftes Gebiß.
Und dann verging ihm plötzlich das Grinsen und blieb er wie angewurzelt stehen, als er des ro-ten Lichtpunktes gewahr wurde, der auf seiner Jacke direkt über dem Herzen erschienen war.
Er sah nach schräg oben, die Fassade des gegenüberliegenden Hauses hinauf, ohne sehen zu können, woher der Lichtpunkt kam.
Zwei weitere erschienen auf seinem Oberkörper, tanzten über seine Brust, vereinten sich mit dem ersten, gingen bei jedem Atemzug leicht auseinander, nur um sogleich wieder zusammen-zufinden.
Masamoto brach der kalte Angstschweiß aus.
Scharfschützen... Scheiße! Das rotäugige Miststück gehörte ja zu den EVA-Piloten... und da-mit für NERV wichtig...
Wieder starrte er auf die drei Lichtpunkte.
Einer der drei wanderte langsam aufwärts.
Masamoto hob ein Hand, hielt sie schräg in den Lichtstrahl, verfolgte den Lauf... der Licht-punkt wanderte weiter, bis er auf seiner Stirn zur Ruhe kam.
Die Warnung war eindeutig.
In dieser Sekunde verlor Masamoto, Tyrann des Pausenhofes und Schrecken aller schwächeren Mitschüler, die Kontrolle über seine Blase...


*** NGE ***


Shinji war deprimiert.
Nicht nur deprimiert wie üblich, sondern regelrecht geknickt.
In diesem Zustand befand er sich seit dem gestrigen Nachmittag, als er von Misato sein Ta-schengeld für diesen Monat erhalten hatte. Er war sofort zu dem Geschäft gegenüber der Schule gelaufen, nur um festzustellen, daß das Fahrrad aus dem Schaufenster verschwunden war. Und der Laden hatte auch kein weiteres mehr auf Lager gehabt.
Da hatte er endlich das nötige Geld und dann war es fort...
Und deshalb war er deprimiert, da hatten auch Misatos aufbauende Worte nichts genutzt, als er nach mehrmaligen Fragen ihrerseits schließlich damit herausgerückt war.
Aber immerhin war gestern mit der Post sein Cello angekommen... das verdammte Teil... wenn es nicht ein Geschenk gewesen wäre, hätte er es längst zum Feuermachen benutzt!
Sein Gemütszustand wirkte sich auch auf die Testergebnisse aus, Doktor Akagi hatte die für den Vormittag angesetzten Synchrontests schließlich mit einem tiefen Seufzen abgebrochen und ihn zum Duschen geschickt. Für den Nachmittag standen weitere Tests an, die ominösen Kreuztests, wie der Doktor gesagt hatte.
Dafür hatte Shinji dann entdeckt, daß es im Hauptquartier ein frei zugängliches Dampfbad gab. Wenn es einen Ort gab, an dem er sich richtig entspannen konnte, dann war das in der Bade-wanne. Und da sonst niemand anwesend war, kam das fast auf das gleiche heraus.
Das einzige, das störte, waren die sich ständig wiederholenden Bilder auf dem großen Fernseh-bildschirm unter der Decke, Ton gab es keinen, doch es schien eine Art Werbefilm für NERV zu sein. Wozu sollte NERV Werbung machen? Wenn es um Finanzierungsbeihilfen ging, konn-te sein Vater doch einfach verschiedene Leute in Grund und Boden starren...
Es war alles so deprimierend...

\"Shinji-kun?\"

Diese Stimme... Rei, es war Reis Stimme. Aber was machte sie hier?
Wie spät war es? Viel zu spät... Sicher wollte sie ihn holen... er hatte sie gar nicht hereinkom-men hören...
Er war nackt!
\"Argh! Rei!\"
Hastig bedeckte er seine Blöße und drehte sich noch immer im Wasser sitzend um.

Rei stand am Eingang, sie trug weder Schuhe noch Strümpfe und sah ihn fragend-erschrockend an.
Er hatte sie erschreckt... das hatte er nicht gewollt...

\"Rei, was... was machst du hier?\"

Die Antwort brauchte eine Weile, wenn auch nur Sekundenbruchteile länger als gewöhnlich.
\"Doktor Akagi sagte, ich solle dich holen. Sie will mit den Kreuztests beginnen.\"

\"Uh... ja... Geh doch schon mal... ahm... geh doch schon mal vor...\"

\"Ich soll dich mitbringen, Shinji-kun.\"

\"Rei, ich... ich bin nackt.\"

Sie blinzelte, wie jedesmal, wenn sie eine Situation nicht auf Anhieb verstand und darüber nachdenken mußte, um sie einordnen zu können.
Shinji-kun war nackt, ja, daß er keine Kleidung trug, zumal er im heißen Wasser saß, war ihr bereits aufgefallen. Mit Kleidung zu baden hätte auch auf eine seltsame Veranlagung hingedeu-tet. Weshalb also legte er solche Betonung darauf? Die Anweisung, die sie erhalten hatte, lau-tete doch, ihn mitzubringen... Oder lag es daran, daß er sich ihr nicht unbekleidet zeigen woll-te? Seltsam, wirklich seltsam... Wenn sie die Zeit gehabt hätte, hätte sie wahrscheinlich sogar in Erwägung gezogen, sich zu ihm zu gesellen, schließlich empfand sie das warme Wasser als äußerst entspannend. Aber sie hatte keine Zeit dazu.
\"Das sehe ich.\"

\"Du... was?\"
Er sah nach unten, um sich zu vergewissern, daß seine Hände immer noch alles bedeckten, was er für bedeckenswert erachtete.
\"Uhm... könntest du vielleicht... ahm, draußen warten, bis ich mir etwas übergezogen habe?\"

\"Natürlich, Shinji-kun.\"
Shinji atmete bereits auf, als sie anstelle sich umzudrehen eine Frage stellte:
\"Warum?\"

Er zuckte zusammen, hätte beinahe die Hände gehoben, um seine Worte mit Gesten zu unter-streichen.
\"Weil... uhm... weil ich ein Junge und du ein... ah... ein Mädchen bist.\"

\"Die anatomischen Unterschiede sind mir bekannt. Ist es dir unangenehm, von mir so gesehen zu werden?\"

Darauf wahrheitsgemäß mit einem \'Ja\' zu antworten, wäre ihm schwergefallen, zumal sich hin-ter der Schutzmauer seiner Hände etwas zu regen begann, als einen Moment lang die Erinne-rung an den Anblick in ihrem Apartment seine Wahrnehmung überlagerte.
\"Uhm... ich... Rei, bitte.\"
Shinji sah sie mit einem flehenden Dackelblick an.

Shinji-kuns Blick bewirkte etwas bei ihr. In Verbindung mit diesem Blick fühlte sie sich unfähig ihm seine Bitte abzuschlagen, auch wenn er ihr immer noch keine Antwort gegeben hatte, je-denfalls keine direkte. Andererseits war es doch offensichtlich, daß es ihm peinlich war. Aber warum? Sie hatte ihn bereits in der Umkleidekabine gesehen, als er seine PlugSuit angelegt hat-te... sie würde wohl die Klassensprecherin danach fragen müssen, das hatte sie ohnehin vorge-habt, nur war die Angelegenheit mit Suzuhara-kun und Aida-kun dazwischengekommen.
Rei nickte ruckartig und verließ das Bad.

\"Puh...\"
Shinji stieß die Luft aus. Dann sah er sich nach einem Handtuch um.
Seine PlugSuit lag bereits an der Seite, es war sein Reserveanzug, der andere war nach den Tests in der Reinigung, da das LCL dazu neigte, sich an den Gelenken abzulagern und das Ge-webe generell an Flexibilität verlor, wenn die LCL-Flüssigkeit auf dem Stoff eintrocknete.
Seltsamerweise waren seine Depressionen wie fortgewischt...


*** NGE ***


Die Kreuztests waren eigentlich gewöhnliche Synchrontests, nur daß zum einen zwei Piloten gleichzeitig getestet wurden und daß zum anderen sie den EntryPlug des jeweils anderen be-nutzten, über den Grund dafür hatte Akagi sich nicht ausgelassen.
Die Plugs würden auch nicht in die Steuernerven der EVAs eingeführt werden, sondern waren über einen dicken Strang aus unzähligen Kabeln mit dem Computer des Testcenters und über diesen mit den MAGI-Rechnern verbunden, welche die Testbedingungen simulieren würden.

Der EntryPlug von EVA-00 war fast identisch mit dem von EVA-01, Shinji hatte nur die Sitz-einstellungen etwas ändern müssen.
Es saß er ruhig und abwartend in dem Pilotensitz, während um ihn herum das LCL anstieg - er war immer noch der Ansicht, daß Menschen nicht dazu gemacht waren, unter Wasser zu exi-stieren, sonst hätten sie Kiemen statt Lunge, aber es wurde von Mal zu Mal einfacher, den Würgereflex zu unterdrücken und die Flüssigkeit einfach in die Lungen strömen zu lassen, an-genehmer wurde es allerdings nicht.

\"Wir fangen jetzt an. Zuerst bist du dran Shinji.\" erklärte Akagi über ComLink.

Shinji konzentrierte sich.
Da war etwas... ein seltsamer Sinneseindruck...
Ein Geruch...
\"Es riecht nach Rei...\" murmelte er.

\"Hm, was hast du gesagt?\"

\"Ich... nichts...\"
Da war noch mehr... Bilder... Gedanken... alles strömte auf ihn ein...

\"Shinji abbrechen!\"

\"Was?\"
Er fühlte sich benommen.

\"Da war eine Rückkopplung. - Maya, rekonfigurieren. - Shinji, ich komme gleich auf dich zu-rück, ja?\"

\"Äh, ja.\"
Eine Rückkopplung? Aber er war doch gar nicht mit einem EVA verbunden!
Und diese Bilder... das mußten Reis Erinnerungen gewesen sein... aber alles war undeutlich ge-wesen, wie durch den Boden einer Glasflasche...


*** NGE ***


\"Rei?\"

\"Bereit.\"
Es war nur ein Test... kein Kontakt mit einem EVA, kein Risiko, der Dunkelheit zu begegnen...
Sie spürte die simulierten Signale, die über die Synchron-Verbindung bei ihr eingingen.
Dieser Geruch...
Es roch nach Shinji-kun...
Nein... kein Geruch... ein Bewußtseinsrückstand... etwas von Shinji-kun war im Kurzzeitge-dächnis des EntryPlugs zurückgeblieben, wie ein Schatten... verschwommene Erinnerungen... da war... sie selbst...

Sie war in seinen Erinnerungen.
In seinen Erinnerungen war sie unbekleidet... die Erinnerung stammte aus ihrem Apartment...
Und da waren Gefühle, die den Eindruck begleiteten... Shinji-kun hatte Erregung verspürt...
Sah er sie so? Als... Lustobjekt? Hatte sie sich so in ihm geirrt?
Aber da war noch etwas... es war ihm peinlich gewesen... er hatte sich geschämt, sie so gese-hen zu haben... also doch nicht...?
Eine weitere Erinnerung... die Nacht auf dem Berg...
Sie hörte sich selbst \'Leb wohl\' sagen, spürte den inneren Schmerz, den Shinji-kun dabei ver-spürt hatte. Dabei waren es doch nur zwei Worte gewesen, hatte sie sich von ihm verabschie-den wollen, falls einer von ihnen den Kampf nicht überlebte...
Wenn sie gewußt hätte, wie er darauf reagierte...
Und dann... sah sie sich lächeln.
So sah sie also aus, wenn sie lächelte... oder besser, so sah Shinji-kun sie...
Sympathie... Begehren... Freundschaft...
Es verwirrte sie, sie konnte die Fülle an Eindrücken nicht verstehen oder verarbeiten.
Hatte eine solche Freundschaft Zukunft? Sie waren ähnlich und doch verschieden...
An dieser Stelle einfach einen Schlußstrich zu ziehen, einfach alles wieder unter Befehlen und Gewohnheiten vergraben... die Versuchung existierte. Weiterzumachen würde viel Mut erfor-dern, wahrscheinlich mehr Mut als sie besaß...
\'Du bist stark, Ayanami...\'
Shinji-kuns Stimme, die Stimme seiner Erinnerungen, die ihr Mut zuzusprechen schien...
Selbst der Schatten seiner Gegenwart vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, die Gewiß-heit, nicht allein zu sein.
Mut...
Würde sie diesen Mut besitzen?

\"Gut, Rei, wir sind fertig.\"

\"Ja.\"


*** NGE ***


\"Shinji, wir sind fertig.\"

\"Uhm, ja, gut.\"
Beim zweiten Anlauf hatte es keine Schwierigkeiten gegeben.
Zwar waren wieder verschwommene Bilder auf ihn eingeströmt, doch er hatte weder versucht, sie zu verstehen, noch sie abzublocken. Ihm war gewesen, als wäre Rei ihm so nahe wie in der Nacht nach dem Kampf, als er sie festgehalten hatte. Zum ersten Mal war der Aufenthalt in ei-nem EntryPlug für ihn angenehm, konnte er sich einfach gehenlassen in seinen Gedanken.
Rei... war sie das? Lag das an dem Schatten ihrer Gegenwart?

In Gedanken versunken verließ er den EntryPlug und wechselte in die Umkleidekabine über. Gerade, als er den Dekompressionsschalter am Handgelenk betätigen wollte, bemerkte er, daß er nicht war. Rei hockte auf der anderen Bank - wenigstens trug sie ihre PlugSuit - und starrte ein Loch in die Wand.
\"Rei? Ich... ah... ich wollte dich nicht stören... uhm... ich nehme nur meine Sachen und dann...\"
Schon hatte er das Bündel mit seiner Kleidung aus seinem Spind geholt und wollte den Raum wieder verlassen - sicher fand er im Hauptquartier irgendwo einen anderen Duschraum, wo er sich das LCL von der Haut waschen konnte... doch Rei zeigte keine Reaktion, schien ihn gar nicht wahrzunehmen.
Was war mit ihr los? Stimmte etwas nicht?
Wenn er in ihrem Plug ihre Erinnerungen gesehen hatte... dann hatte sie womöglich in seinem Plug... seine Erinnerungen wahrgenommen... seine Gefühle... vielleicht seinen Haß auf seinen Vater... oder seine Erinnerungen an ihre nackte Haut... Vielleicht hielt sie ihn jetzt für ein Mon-ster... weil sie gesehen hatte, was in ihm vorging...
Was sollte er tun?
Er öffnete und schloß die Faust immer wieder, während er ansonsten reglos vor ihr stand und überlegte.
Wenn seine Erinnerungen sie verwirrt hatten, konnte er vielleicht noch etwas richtigstellen... verhindern, daß sie ihn haßte... er wollte sie nicht verlieren...
Langsam setzte er sich neben sie.
\"Rei?\"

Wieder antwortete sie nicht.

\"Uhm... also... ich weiß nicht, was du in dem Plug gesehen hast... ich habe... nein, ich habe ei-gentlich nichts gesehen... äh... ich meine, also, gesehen habe ich schon etwas, aber nicht ver-standen... und... ahm...\"
Sie reagierte immer noch nicht.
Vielleicht...
Vorsichtig nahm er ihre Hand, hielt sie in den seinen, spürte die Wärme ihrer Haut sogar durch die Handelemente beider Suits.
\"Rei, bitte, sag etwas...\"

Sie drehte den Kopf, blickte ihn an.
\"Shinji-kun... wie lange sitzt du dort schon?\"

\"Uhm...\"

Rei senkte den Blick auf ihre Hand, zog diese aber nicht weg.
\"Was siehst du?\"

\"Rei? Ich, ahm, ich verstehe nicht.\"

Sie hob den Blick, sah ihm in die Augen.
\"Shinji-kun, was siehst du?\"

Er begriff nicht, was sie meinte, sah zur Seite.

Rei hob die andere Hand, legte sie auf seine Wange, übte sanften Druck aus, bis er sie wieder ansah.
\"Was siehst du?\"

\"Rei, ich...\"
Shinji blinzelte.
\"Ich sehe dich... ich meine... uhm... ich sehe dich... und den Raum und...\"
Er hob die Schultern.

\"Ja.\" erwiderte sie mit leichter Enttäuschung in der Stimme.
Warum konnten Menschen nicht einfach sagen, was sie dachten, was sie fühlten... aber sie sag-te es ja auch nicht...


*** NGE ***


\"Klassensprecherin?\"

Hikari mußte nicht aufblicken, um zu wissen, wer vor ihr stand, die ruhige Stimme war einma-lig.
\"Rei?\"

\"Könntest du mir... ich habe noch weitere Fragen...\"

Hikari seufzte unhörbar.
Sie wollte helfen, jedoch war Ayanamis Art, Fragen zu stellen, wirklich entnervend.
\"Ist das Dach frei?\"

\"Ich denke schon.\"

Hikari nickte.
\"Gehen wir \'rauf und reden unter vier Augen.\"
Innerlich stählte sie sich gegen alle denkbaren Fragen, egal wie peinlich diese sein mochten, während sie Ayanami auf das Dach der Schule folgte.
\"Worüber möchtest du mit mir reden?\"

\"Ich... ahm...\"
Rei senkte den Blick.

Hikari hielt den Atem an.
Ayanami schien nicht so kontrolliert und ruhig wie gewöhnlich, eher aufgewühlt.
\"Was?\"

\"Jungs.\" stieß Rei hervor und wurde rot.

\"Geht es dir gut?\"

\"Ja. Ich bin nur... verwirrt... Klassensprecherin... Hikari... woran kann man bemerken, daß ein Junge einen mag?\"

Hikari holte tief Atem.
\"Das ist nicht leicht zu erklären.\"

\"Das hast du bereits bei unserem letzten Gespräch gesagt.\"

\"Ja... das hängt wohl mit dem Thema zusammen.\"
Sie trat bis an die Brüstung und lehnte sich dagegen.
\"Schau mal, dort drüben... auf dem Sportplatz.\"

\"Dort trainiert das Läuferteam der Schule.\"

\"Ja. Toji... Suzuhara-kun... gehört dazu.\"

\"Bekannt. Er trägt ständig die Teamkleidung.\"
Weshalb sprach die Klassensprecherin über Mitschüler Suzuhara?
Sollte sie vielleicht...

\"Weißt du... da denkt man eine halbe Ewigkeit, der freche Bursche in der vorletzten Reihe schneidet ständig Grimassen in deinem Rücken oder macht in einer Tour dumme Witze... daß er nur Muskeln hat und kein Hirn und immer nur Unfug macht... und dann steckst du in Schwierigkeiten und plötzlich steht er da wie ein Ritter in glänzender Rüstung und hilft dir... oder versucht es zumindest...\"\"

Nur daß dieser \'Ritter\' ohne ihr Eingreifen Prügel bezogen hätte...
\"Du sprichst von dir und Suzuhara-kun.\"

\"Ja... wir waren gestern nach diesem... Zwischenfall zusammen ein Eis essen. Er ist ganz nett... und er kann ganz witzig sein, wenn er will.\"

\"Du magst ihn.\"

\"Äh...\"
Jetzt war es an Hikari, rot zu werden.
\"Ich denke schon. Er bringt mich zum Lachen.\"

\"Shinji-kun bringt mich zum Lächeln.\"
Eine Feststellung. Mußte Shinji-kun sie erst zum Lachen bringen, damit sie sicher sein konnte, ihn zu mögen, oder war die Äußerung der Klassensprecherin nur ein Beispiel?

\"Das klingt, als würdest du ihn mögen.\"

\"Ja. Aber ich weiß nicht, wie er mich sieht.\"

\"Wie er... ah... wie er von dir denkt.\"

\"Ja.\"

\"Das ist wirklich schwierig... Er ist recht still... Soll ich mal für dich vorfühlen?\"

\"Das würdest du... nein, ich benötige zunächst nur einen Rat.\"
Und sie berichtete kurz von der geplanten Überraschungsparty.
\"Soweit ich weiß, ist es üblich, zu einem Geburtstag ein Geschenk mitzubringen.\"

\"Ja. Hm, das richtet sich natürlich danach, wie ihr zueinander steht... oder wünscht er sich etwas... nein, du kannst ihn ja nicht fragen, sonst wäre es keine Überraschung mehr... hm...\"

\"Genau. Ich bin mir unsicher, was für Shinji-kun geeignet wäre.\"

\"Du möchtest ihm zeigen, daß du ihn magst, nicht wahr?\"

\"Ja.\"

\"Also sollte es etwas von dir sein... du könntest ihm einen Kuchen backen.\"

\"Nein.\"

\"Nein? Hast du keinen Ofen?\"

\"Nein.\"

\"Hm, vielleicht... wenn du bei mir vorbeikommst...\"

\"Ich weiß nicht, wie man einen Kuchen herstellt.\"

\"Das ist doch ganz einfach.\"

\"Ich habe keine Kenntnisse, wie man Nahrung zubereitet.\"

\"Äh... Moment... du willst mir sagen, daß du nicht kochen kannst?\"

\"Korrekt.\"

\"Oh... Dann muß das Kantinenessen bei NERV ja ausgezeichnet sein.\"
Oder vielleicht kochte jemand anders für sie.

\"Nein.\"

Hikari entschied sich, nicht weiterzufragen, sonst taten sich womöglich weitere Abgründe auf.
\"Oder du schenkst ihm etwas handgemachtes, ein Taschentuch, in das du seinen Namen ge-stickt hast, oder so.\"

\"Auch in dieser Beziehung besitze ich keine Fähigkeiten.\"

\"Auch nicht? Ahm, Ayanami, was kannst du eigentlich?\"

\"Ich kann einen EVA steuern.\"

\"Also... außer du willst ihm zum Geburtstag die Stadt zerstampfen, ist das nicht gerade hilf-reich... Paß auf, du kommst nächste Woche am Tag vor dieser Party bei mir vorbei und ich zei-ge dir, wie man einen Kuchen backt. Einverstanden?\"

\"Ja... danke.\"

\"Ich schreibe dir vorher eine Einkaufsliste, du besorgst die Zutaten.\"

\"Einverstanden.\"

Hikari lächelte.
Es tat ihr gut, jemandem helfen zu können, auch wenn sie das Gefühl nicht loswurde, daß sie auf irgendeine Katastrophe zusteuerte. Außerdem wäre sie durchaus ebenfalls gerne zu dieser Party gegangen, aber dazu war ihr Draht zu Shinji Ikari wohl doch nicht gut genug... man konnte wohl nicht alles haben... Aber immerhin konnte sie einer Mitschülerin helfen, und das war doch ihr Job als Vorsteherin des Klassenverbandes.


*** NGE ***


Shinjis Geburtstag rückte näher wie eine dunkle Wolkenwand, die am Himmel zusammenzog.
So sah er es jedenfalls. Morgen würde es soweit sein.
Er wollte gar nicht im Mittelpunkt stehen - auch wenn es natürlich seinem Selbstbewußtsein ei-nen gewissen Kick gab -, allerdings befürchtete er, daß man ihn ganz einfach vergessen würde. Sein Vater hatte sich in den letzten Jahren nicht um den Termin geschert, seine Pflegeeltern hatten ihm zum zwölften Geburtstag das Cello gekauft und ihm dann erklärt, daß er jetzt ja groß sei und deshalb zu den Fest- und Feiertagen nichts mehr bekommen würde.
- So war mehr von dem Unterhaltsgeld, das sein Vater überwies, für sie übriggeblieben...
Misato war wahrscheinlich viel zu beschäftigt, um es überhaupt zu wissen, bei ihr fiel nur alle zwei Wochen ein freier Tag an, an dem sie sich mit Bier zuschüttete, aber generell recht fröh-lich war - angeblich nahm sie diese Tortur auf sich, um Extrabezüge für Überstunden und Zu-satzschichten zu erhalten, die sie für später ansparte.
Toji konnte man immer häufiger in der Nähe der Klassensprecherin antreffen, wo er sich als gänzlich anderer Mensch gab. Shinji hatte von der Sache auf dem Schulhof gehört, auch daß Rei letztlich die entscheidende Rolle gespielt hatte.
Und damit waren seine Gedanken wieder bei dem Mädchen angelangt, das schräg vor ihm saß und wie üblich aus dem Fenster blickte. Unwillkürlich formten seine Lippen ein kleines Lä-cheln, zugleich erinnerte er sich wieder an ihre Frage, was er sehe.
Er hatte öfters in den letzten Tagen über ihre Worte nachgedacht, aber den tieferen Sinn noch nicht herausgefunden. Was sollte er denn sehen? Wenn er sie anblickte, sah er Rei und sonst niemanden, auch wenn sie ihn ein wenig an seine Mutter erinnerte, deren Gesicht er noch ver-schwommen in Erinnerung hatte. Aber diese Ähnlichkeit war rein äußerlich und auch nur mehr ein Gefühl denn Wissen. Nein, wenn er sie ansah, sah er nur Rei Ayanami... wen denn sonst?
In letzter Zeit hatte er sie mehrmals mit der Klassensprecherin reden sehen, was ihn doch über-rascht hatte, doch er respektierte Rei zu sehr, als daß er sie gefragt hätte, worüber sie sich un-terhalten hatten. Außerdem machte sie auf ihn seit einigen Tagen einen verschlossenen Ein-druck, so als wollte sie Gespräche kurzhalten... als ob sie vermeiden wollte, daß er bestimmte Themen ansprach... sicher hatte es mit dem Kreuztest zu tun... was mochte sie nur gesehen ha-ben...?

Der alte Lehrer brach seinen endlosen Monolog über die Zeit direkt vor, während und nach dem Second Impact ab und sammelte seine Sachen zusammen. Mit dem Läuten zum Ende der Stunde verließ er den Klassenraum.
Im Zimmer kam Lärm auf, als die Schüler aufstanden, ihre Taschen packten und sich zu unter-halten begannen.

Shinji stand rasch auf und trat zu Reis Pult hinüber.
\"Uhm, Rei...\"

\"Shinji-kun?\"
Was mochte er wollen? So sehr sie seine Gegenwart auch erwünschte, sie mußte sich beeilen, um die von der Klassensprecherin aufgeschriebenen Zutaten für den Kuchen noch einzukaufen.

\"Ich wollte nur fragen... ahm... weißt du, ich habe morgen Geburtstag und ich wollte dich fra-gen, uh, fragen, ob wir vielleicht morgen nachmittag etwas zusammen unternehmen wollen. Wir könnten, ähm...\"
Ja, was könnten sie? Ins Kino gehen? Das konnte sie falsch auffassen, konnte annehmen, ihm ginge es darum, mit ihr im Dunkeln allein zu sein, um... Nein, keine gute Idee... Spazierengehen? Wenn es in Tokio-3 soetwas wie größere Parkanlage gegeben hätte anstelle des gelegentlichen etwas breiteren Grünstreifens... vielleicht ein Eis essen... bei Toji und Hikari schien es ja funktioniert zu haben... Kensuke war richtig eifersüchtig gewesen, weil sie ihn nicht mitgenommen hatten...
Rei schien immer noch auf seine Antwort zu warten... es gab wahrscheinlich keinen Menschen sonst auf der ganzen Welt, der eine solche Geduld mit ihm besessen hätte...
\"Uhm, wir könnten eisessengehen... oder etwas anderes... äh...\"

\"Ich kann nicht.\"
Hoffentlich fragte Shinji-kun nicht nach dem Grund... sie konnte ihn nicht belügen, aber sie konnte ihm auch nicht sagen, was der Captain für ihn geplant hatte...

\"Oh.\"
Shinjis Schultern sanken soweit nach unten, wie es ihnen möglich war, ohne zu brechen.
\"Ja... vielleicht ein anderes Mal...\"

\"Ja. Ein anderes Mal.\"
Daß sie es als Versprechen meinte, schien er nicht zu erkennen, so geknickt, wie er den Raum verließ.
Rei schluckte.
Er hatte mit ihr Zeit verbringen wollen... und sie hatte ihn einfach zurückgewiesen...
Sie war versucht, ihm nachzulaufen, doch sie bremste sich selbst. Zuerst mußte sie wissen, was er sah, wenn er sie anblickte... und wen... ob sie sah oder die Person, nach deren Äußeren der Kommandant sie geformt hatte, deren DNA dafür verantwortlich war, daß sie menschlich aus-sah und nicht wie das Wesen, von dem der weitaus größere Teil ihres genetischen Codes stammte...
Der Klassenraum war bis auf sie und die Klassensprecherin leer.

Hikari kam zu Rei hinüber.
\"Bleibt es bei nachher?\"

\"Ja. Ich werde pünktlich sein.\"

\"Schön, ich freue mich.\"

\"Klassensprecherin... Hikari...?\"

\"Ja?\"

\"Ich möchte mich... bedanken... für die Zeit, die du dir für mich nimmst.\"

\"Kein Problem. - Übrigens, ich habe ihn lächeln gesehen.\"

\"Wen?\"

\"Na, Shinji.\"

\"Shinji-kun hat gelächelt?\"

\"Genau, er hat dir förmlich ein Loch in den Rücken gestarrt und dabei gelächelt. Also, ich glaube, er mag dich.\"

\"Shinji-kun...\"
Und sie hatte ihm den Eindruck vermittelt, sie wollte nichts mit ihm zu tun haben... aber jetzt gab es kein Zurück mehr... sie konnte nur versuchen, das Beste daraus zu machen und mit der Hilfe Hikaris den schönsten Kuchen zu backen, den er jemals gesehen hatte...


*** NGE ***


\"Shinji-kun, würdest du mir den Rücken eincremen?\"

Er sah sich um. Neben ihm im weißen Sand des endlosen Strandes lag Rei ausgestreckt auf dem Bauch, ihre einzige Bekleidung bestand aus einem winzigen Tangahöschen und einer Sonnenbrille, die sie in die Stirn geschoben hatte.

\"Ja, natürlich\", erwiderte er eilfertig und griff nach dem Sonnenschutzmittel, warf einen kur-zen Blick auf das Etikett. Sonnenschutzfaktor 5 Millionen. Gut, dann dürfte das wohl ihre zar-te helle Haut schützen! Sie sollte ja keinen Sonnenbrand bekommen!
Er verteilte die Sonnenschutzcreme großzügig auf ihrem Rücken, ihren wohlgerundeten Po-Backen und ihren straffen Schenkeln, begann dann sie in kreisenden Bewegungen einzurei-ben.

Rei gab ein genießerischen Schnurren von sich.

Ja, das hätte er ewig tun können...

\"Mega-Playboy-Action!\" rief ein dreistimmiger Chor von der Seite.

Shinji blickte auf.

Auf einem großen Podest, welches ihm zuvor nicht aufgefallen war, standen Toji, Kensuke und... sein Vater...
Kensuke trug ein Faschingskostüm, in dem er aussah wie eine verkleinerte Version von EVA-01, den dazugehörenden Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt. Toji trug eine schwarz-weiße PlugSuit, sein rechter Arm steckte in einem Gipsverband. Und sein Vater trug ein rosa Ballettkleid...

Shinji begann zu schreien...

... und wachte auf.

Er setzte sich in seinem Bett auf und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
Es war nur ein Traum gewesen... dabei hatte es so angenehm begonnen, wie auch die Beule in seinen Boxershorts bestätigen zu wollen schien.
Und dann... den Anblick seines Vaters in einem rosa Kleidchen würde er wahrscheinlich nie vergessen... wie kam er nur auf soetwas? Wie kam sein Unterbewußtsein auf solche Bilder? Diese haarigen Beine... brrr... Wie zur Bestätigung fiel seine Erektion in sich zusammen.

Shinji blickte zur Uhr, die dunkelroten Ziffern der LCD-Anzeige zeigten vier Uhr nachts.
Er mußte zur Toilette... und wenn er schon einmal wach war, konnte er auch still und leise den Tisch decken, damit Misato, wenn sie von ihrer Nachtschicht kam, sich nicht alles selbst \'raus-holen mußte - und dabei ein gewaltiges Chaos verursachte.

Gähnend trat er auf den Flur.
Da war doch etwas gewesen... oder? Eine huschende Bewegung in der Dunkelheit... oder?
Vielleicht hatten ihn auch nur seine müden Augen getrogen
Oder vielleicht war es nur der Pinguin gewesen, vielleicht schlafwandelte PenPen ja...
Er schlurfte ins Bad...

Misato stieß die angehaltene Luft aus.
Weshalb hatte Shinji gerade in dem Moment aus seinem Zimmer kommen müssen, als sie den Fahrradbausatz in ihren Raum schaffen wollte, den sie die letzten Tage über in ihrem Büro im Hauptquartier versteckt hatte, damit er ihn beim Putzen nicht zufällig fand...


*** NGE ***


Am anderen Ende der Stadt starrten zwei scharlachrote Augen in die Dunkelheit, fixierten den großen Schokoladenkuchen unter der Klarsichthaube, welche Hikari Rei geliehen hatte. Sie hatte nie zuvor einen Kuchen gebacken und sich auch nicht dafür interessiert, deshalb fehlte ihr die Vergleichsmöglichkeit, auch wenn Hikari ihr versichert hatte, daß der Kuchen perfekt war.
Hoffentlich würde er auch Shinji-kun gefallen... und hoffentlich würde niemanden auffallen, daß eine kleine Ecke fehlte, wo Hikari und sie ein Stück herausgebrochen hatten, um den Ge-schmack zu überprüfen...
Kapitel 18 - Überraschungen

Misato hatte noch - oder besser schon - geschlafen, als Shinji aufgestanden war.
In der Schule mußte er feststellen, daß Toji fehlte, laut Kensuke besuchte er seine Schwester im Krankenhaus.
Mari Suzuhara befand sich auf dem Wege der Besserung, allerdings war immer noch unklar, ob sie Zeit ihres Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde. Tojis Familie verfügte nicht über die Geldmittel, um die nötige Operation zu finanzieren und die Versicherung hatte kate-gorisch jede Übernahme abgelehnt und auf freiwillige Selbstgefährdung verwiesen, da die Su-zuharas in Kenntnis der Gefahr nach Tokio-3 gezogen seien.
Kensuke Aida grinste die ganze Zeit über das ganze Gesicht, wollte aber nicht mit der Sprache herausrücken, weshalb.
Rei fehlte ebenfalls. Shinji ging davon aus, daß sie Synchron-Tests hatte, die wohl den ganzen Tag andauern würden, schließlich hatte sie ihm ja mitgeteilt, heute keine Zeit zu haben. Er konnte ja nicht ahnen, daß sie daheim geblieben war, weil sie sich nicht sicher gewesen war, ob sie die anstehende Party weiterhin geheimhalten konnte, wenn er sie noch einmal mit diesem verletzten Blick ansehen würde.

Hikari Horaki sah während des Unterrichtes immer wieder verstohlen über die Schulter.
Shinji Ikari hockte zusammengesunken hinter seinem Pult und starrte ins Leere, während der Lehrer seinen Monolog hielt. Er tat ihr leid, so spannend sie auch die Idee einer Überra-schungsparty fand, so grausam kam ihr die damit verbundene Geheimhaltung vor. Und Shinji schien überhaupt nichts zu ahnen...

Der Vormittag zog sich dahin wie eine zähe Masse, bis endlich die letzte Unterrichtsstunde be-endet war.
Shinji erhob sich mit langsamen Bewegungen, sortierte rein mechanisch seine Sachen in seine Tasche.

\"Also, mach\'s gut, Ikari. Bis dann!\" rief Kensuke und lief an ihm vorbei.

\"Ja, dir auch...\"
Shinji verstummte, sein Freund war bereits vor.
Natürlich, früher oder später ließen ihn alle im Stich, sobald sie erkannten, was für eine Art Mensch er war, anders konnte es gar nicht sein...
Er widmete sich wieder seiner Tasche. Je mehr Zeit er dafür aufwandte, den Inhalt zu sortie-ren, umso eher würde der Tag umsein.

\"Ikari-kun...\"

Eine Mädchenstimme...
Rei? Nein... auch wenn er es sich gewünscht hätte, sie war es nicht, die ihn angesprochen hatte.
Vor ihm stand die Klassensprecherin und lächelte zaghaft.
Hatte er etwas falsch gemacht? Wollte sie ihn ermahnen? Vielleicht weil er den Unterricht vor zwei Wochen geschwänzt und immer noch keine schriftliche Entschuldigung eingereicht hatte?
\"Uhm, ja?\"

\"Ich habe gerade... äh... im Klassenbuch gelesen, daß heute dein Geburtstag ist. Und deshalb... Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!\"
Sie hielt ihm die Hand entgegen, welche er zögernd nahm.

\"Ahm, danke, das...\"
Wenigstens ein Mensch, der ihn nicht vergessen hatte... der ihm gratulierte...
Plötzlich war ihm zum Heulen zumute, aber er konnte doch nicht vor der Klassensprecherin in Tränen ausbrechen...
\"Vielen Dank\", stieß er hervor und ließ ihre Hand los, während er sich bemühte, die aufstei-genden Tränen zurückzukämpfen.

\"Ja, dann... ich muß los.\"
Hikari verließ im Laufschritt den Klassenraum, ehe sie noch ungewollt verraten hätte, was ihn am Nachmittag erwartete.


*** NGE ***


Shinji schlurfte durch die Wohnung, ging nach kurzem Aufenthalt im Bad in sein Zimmer.
Misato würde sich schon melden, wenn sie ausgeschlafen hatte, es lohnte sich nicht, nur für ei-ne Person Essen zu kochen und außerdem war ihm nicht danach, sich an den Herd zu stellen.
In einer Ecke des Zimmers stand sein Cello, kurz überlegte er, ob er nicht ein paar Stunden mit Üben totschlagen sollte, doch das hätte wahrscheinlich seine Mitbewohnerin aufgeweckt.
In der Kiste, mit der das Instrument gekommen war, hatte sich auch SDAT-Player gefunden, bei dem es sich um einen alten CD-Player im Walkmanformat handelte, den er gebraucht auf einem Flohmarkt erstanden hatte - sein gewöhnliches Taschengeld, welches er von seinen Pflegeeltern bekommen hatte, hätte nie im Leben für ein neues Gerät gereicht. Die Oberfläche des Apparates war zerkratzt, die LCD-Anzeige an der Seite kaum noch erkennbar. Aber er funktionierte noch. Shinji stellte die letzten beiden Tracks ein und schaltete auf Endlosschleife.
Dann legte er sich auf sein Bett, schloß die Augen und ließ sich von der Musik treiben...


*** NGE ***


Auf Zehenspitzen huschte Misato durch die Wohnung, vergewisserte sich kurz, was ihr Schutzbefohlener machte, stellte fest, daß Shinji anscheinend ein kleines Schläfchen hielt.
Gut, dann würde er ihr nicht in die Quere kommen...
Zuerst stellte sie den Klingelton des Telefonapparates im Korridor so leise, daß Shinji ihn nicht hören würde - sie hatte Rei angewiesen, den anderen beiden Gästen mitzuteilen, vor dem Haus zu warten, bis alle vollzählig waren. Rei sollte dann bei ihr oben anrufen, so daß die Türklingel nicht betätigt wurde.
Dann spannte sie mehrere Girlanden durch den Wohnraum, darunter eine mit dem Schriftzug: Alles Gute zum Geburtstag. Als nächstes kam die gute Tischdecke auf den Tisch, den sie so-dann mit dem besseren Geschirr deckte, nicht mit den zerkratzten Plastiktellern, von denen sie normalerweise aß, weil sie insgeheim befürchtete, das gute Geschirr, welches sie von ihrer Mutter geerbt hatte, in angetrunkenem Zustand zerbrechen zu können.
Kurz betrachtete sie ihr Werk, nickte dann zufrieden mit sich selbst.
Im Kühlschrank standen hinter einer Mauer aus Bierdosen diverse andere Getränke, allesamt alkoholfrei, während PenPen seine Behausung seit gestern mit einer Tiefkühltorte teilen mußte. Der Pinguin schien sogar verstanden zu haben, worum es ging, jedenfalls schwang die Tür sei-nes Kühlschrankes auf und er kam mit der Torte auf den Stummelflügeln heraus.

\"Wark!\"

\"Psst!\"

\"Wark.\"

\"Ja, ganz leise\", flüsterte Misato und nahm ihm die Torte ab. Bis die Gäste eintrafen, hatte sie noch eine gute Stunde, Zeit genug, damit die Torte vollends auftaute, sie Kakao und Tee ko-chen, sowie die Geschenke für Shinji auf dem Sofa deponieren konnte.

Es waren insgesamt drei hübsch eingepackte Pakete, die Tatsache, daß das Papier mehrere Ris-se aufwies, die großzügig mit Klebeband nachgebessert worden waren, fiel nicht sonderlich auf. Das größte Paket war natürlich der Fahrradbausatz, Misato hatte länger darüber nachge-dacht, ob sie das Fahrrad nicht zusammenbauen und mit einer Schleife versehen ins Wohnzim-mer stellen sollte, war allerdings zu dem Schluß gekommen, daß Shinji das vielleicht selbst er-ledigen wollte. Die andern beiden Pakete enthielten Kleidungsstücke, da in ihren Augen Shinji nicht gerade über viel Zeug verfügte, darunter einen Anzug für wichtige Anlässe - vielleicht gab NERV ja tatsächlich mal eines Tages eine Siegesfeier -, sowie zwei neue Hosen. Aus eige-ner Erfahrung wußte sie, daß Kleidungsstücke nicht gerade Freudenstürme auslösten, aller-dings sollten sie ja auch eher als Füllwerk dienen, damit der Bausatz nicht so allein herumstand.
Vor lauter Aufregung hatte sie den ganzen Tag noch keinen Tropfen Alkohol zu sich genom-men und war daher so nüchtern wie schon lange nicht mehr.

PenPen schwang sich mit Anlauf auf die freie Sofafläche und beobachtete das Treiben des weiblichen Menschen, der sich um ihn kümmerte.

Die Zeit verging relativ schnell, immer wieder warf Misato einen raschen Blick in den Korridor zu Shinjis Zimmertür hin, überlegte, ob sie nicht irgendwie die Tür verrammeln sollte, damit er nicht vielleicht frühzeitig dazukam.
Dann summte das Telefon.


*** NGE ***


Rei Ayanami stand vor dem Apartmentkomplex, in dem Shinji-kun und Captain Katsuragi wohnten. Die Unterschiede zu dem Gebäude, in dem sich ihr Apartment befand, waren nur all-zu offensichtlich. Dieses Haus war neu und machte einen sauberen, gemütlichen Eindruck. Es war gut, daß Shinji-kun hier untergekommen war, allein schon die Tatsache, daß in ihrem Ge-bäude ständig die Heizung ausfiel, hätte seine Gesundheit gefährdet.
Auf ihren Armen trug sie vorsichtig die Platte mit dem Kuchen unter der Haube.
Hoffentlich würde Shinji-kun zu dem gleichen Ergebnis kommen, wenn er ihn probierte, was den Geschmack anbelangte, wie die Klassensprecherin.
Sie wartete bereits eine ganze Weile, war direkt nach der Schule von ihrem Apartment aus her-gekommen, hatte Shinji-kun noch im Hauseingang verschwinden sehen.
Die Anweisungen des Captains waren klar, die Überraschungsparty begann erst um drei Uhr. Sie sollte sich telefonisch melden, sobald die Mitschüler Suzuhara und Aida eingetroffen wa-ren.
In der Zwischenzeit hatten mehrere Personen das Gebäude betreten und verlassen, hatten ihr seltsame Blicke zugeworfen, sie aber nicht angesprochen. Überhaupt fiel ihr in letzter Zeit auf, daß die Leute sie merkwürdig anblickten, worauf sie zuvor gar nicht geachtet hatte. Sah sie derart anders aus mit ihrer blasser Haut, den roten Augen und dem blauen Haar? Diese Kombi-nation kam unter Menschen nicht vor, jedenfalls nicht natürlich. Was sahen sie, wenn sie sie an-blickten... und was sah Shinji-kun?

\"Hey, Ayanami!\" - \"Yo, Rei!\"
Kensuke und Toji kamen aus Richtung der Bahnstation, Toji trug eine Plastiktüte.

Rei begrüßte die beiden mit einem Nicken, holte ihr Handy heraus, während sie den Kuchen auf dem anderen Arm balancierte, wählte die Nummer von Captain Katsuragis Wohnung, die ihr ebenso bekannt war wie ihre Handy- und Piepernummern, schließlich war der Captain der taktische Offizier von NERV und damit ihr direkter Vorgesetzter, solange der Kommandant nichts anderes bestimmte.

*Ja? Rei?*

\"Wir sind vollzählig.\"

*Augenblick, ich mache euch auf. Vierter Stock, die zweite Wohnung auf der linken Seite.*

\"Bestätigt.\"

Im gleichen Moment ertönte auch schon der Türsummer.

Rei stieß die Haustür mit dem Fuß auf, ihre Hände waren damit beschäftigt, sicherzustellen, daß der Kuchen in waagerechter Position blieb.
\"Wir können eintreten.\"

Toji und Kensuke wechselten einen vielsagenden Blick.
Ayanami war schon etwas seltsam - aber immerhin standen sie auf derselben Seite, so daß dies nicht viel ausmachte. Viel interessanter wäre es gewesen, zu erfahren, was sie mitgebracht hat-te...

\"Und, Ayanami, was schenkst du Shinji?\" fragte Kensuke, als sie im Aufzug nach oben fuhren. - Natürlich hatte Toji darauf bestanden, den Lift zu nehmen und nicht die Treppen, seiner An-sicht nach stieg er bei sich schon genug Stufen, da das Haus, in dem er mit seinem Vater und Großvater ein Apartment bewohnte, über keinen Lift verfügte.

\"Es ist eine Überraschung.\"

\"Ja, aber uns kannst du es doch sagen!\"

\"Es ist eine Überraschung für Shinji-kun.\" wiederholte sie. Sie traute den beiden einfach nicht zu, daß sie schweigen würden, bis Shinji-kun den Kuchen als erster gesehen hatte.

Wieder sahen sich die beiden Jungen an.
Eine Überraschung für Shinji-kun... und sie wollte es ihnen weder sagen noch zeigen... in dem Behälter, den Ayanami so vorsichtig trug, befand sich doch wohl nicht etwa feine Spitzenunter-wäsche, die sie ihm später vorzuführen gedachte...

Der Aufzug hielt.

Misato stand bereits in der offenen Wohnungstür und winkte ihnen hektisch zu, legte dann den Finger auf die Lippen, um ihnen zu verdeutlichen, leise zu sein.

\"Guten Tag, Frau Katsuragi!\" begrüßten die beiden Jungen Misato aufgeregt.

\"Pssst! Nicht so laut! Er weiß noch von nichts!\"
Sie trat von der Tür zurück, damit die drei eintreten und ihre Schuhe abstreifen konnten.
\"Rei, soll ich dir das abnehmen?\"

\"Nein, Captain Katsuragi. Das ist für Shinji-kun.\"

Misato grinste.
\"Na, der wird Augen machen. Los, ins Wohnzimmer mit euch, ich sage ihm Bescheid.\"


*** NGE ***


\"Shinji, komm doch mal schnell!\" rief Misato durch die geschlossene Tür.

Shinji öffnete erst ein Auge, dann das andere.
\"Was ist denn?\"
Er schaltete den SDAT-Player ab.

\"Ich brauche mal deine Hilfe. Mein Reißverschluß klemmt!\"

\"Urgh... Und... ah... wie soll ich...\"

Misato riß die Tür auf, grinste ihn breit an.
\"Reingefallen! Aber du solltest trotzdem langsam aufstehen. Ich habe Hunger!\"

\"Ich komme... ich komme...\"
Bevor er Misato wieder kochen und in der kleine Küchennische einen Ausblick auf Armaged-don anrichten ließ, stand er lieber auf und kümmerte sich selbst darum.
Daß sie immer noch breit grinste, während sie hinter ihm herging, fiel ihm zwar auf, doch er schob es auf ihre Freude über den in ihren Augen sicherlich gelungenen Scherz... ständig mach-te sie soetwas...
Da kicherte doch jemand... das klang wie Aida... oder hatte Misato den Fernseher laufen?
\"Äh, Misato, ist da noch...\"

Misato schob ihn das letzte Stück vor sich her.
\"Sieh selbst!\"

Shinji blieb abrupt stehen und riß die Augen auf.
Das geschmückte Wohnzimmer... der gedeckte Eßtisch... die Kerzen und die Torte... und die drei gleichaltrigen, die vor dem Tisch standen... Kensuke, der ihn breit angrinste... Toji, dessen Mundwinkel zuckten... und Rei...
Rei...
Er wandte sich voller Überraschung Misato zu.
\"Was...?\"
Weiter kam er nicht, denn da hatte sie ihn schon so kräftig umarmt, daß er keine Luft mehr be-kam, doch so schlimm erschien ihm das gar nicht, wenigstens im ersten Augenblick, steckte sein Kopf doch genau zwischen ihren Brüsten.

\"Alles Gute zum Geburtstag, Shinji-kun!\" rief Misato und ließ ihn wieder los.

Shinji war einen Moment lang benommen - aber diese Wirkung hatte Misato auf die meisten Angehörigen des männlichen Geschlechtes.
\"Dann... ahm... dann hattet ihr das alles geplant?\"

\"Klar, war gar nicht so einfach.\"

Toji und Kensuke kamen zu ihm, drückten ihm eine Tüte in die Hand.
\"Herzlichen Glückwunsch\", brummte Suzuhara und knuffte Shinji gegen den Arm, während Aida ihm die Hand schüttelte.

\"Danke, Freunde, das...\"
Zum zweiten Mal an diesem Tag wurden seine Augen feucht.
\"Ich hatte schon nicht mehr... schnüff...\"

\"Hier.\"
Kensuke reichte ihm ein Taschentuch.

\"Schau mal in die Tüte.\" grinste Toji.

\"Ja, äh...\"
In der Tüte befanden sich zwei CDs, auf denen die Hits des vergangenen Jahres gesammelt wa-ren.
\"Das... ah... das ist toll...\"
Shinji strahlte über das ganze Gesicht.
\"Danke.\"

\"Ich hab\' doch gesagt, daß es ihm gefallen wird\", sagte Toji in Kensukes Richtung.

Shinji sah Rei an.
\"Du also auch... Wie... wie lange habt ihr das schon geplant?\"

\"Fast zwei Wochen, Shinji-kun. Es war nicht leicht, Geheimhaltung zu bewahren.\" erklärte sie und hielt ihm den Behälter mit dem Kuchen hin.
\"Hier, für dich.\"

\"Uhm, was ist das denn?\"
Er nahm den Behälter entgegen und stellt ihn auf den Tisch.
\"Ein... ein Kuchen... hast du den gebacken?\"

\"Unter Anleitung der Klassensprecherin.\"

\"Hikari? Uh... ist sie auch hier?\"

\"Nein, Shinji-kun.\"
Warum erkundigte er sich nach Hikari? Hätte er lieber sie hier gesehen anstelle ihrer?

\"Hätte ich sie auch einladen sollen?\" erkundigte sich Misato.

\"Uhm... also...\"

\"Captain Katsuragi, vielleicht ist sie zuhause, ich könnte sie anrufen und fragen, ob sie kom-men möchte.\"

\"Tja, hm, Shinji?\"

\"Uh, ja...\"

\"Dann gib mir einfach die Nummer, Rei. Ich mach das schon.\"

Rei nannte die Zahlen und der Captain verschwand wieder im Korridor, um dort zu telefonie-ren. Ihr fiel ein, daß sie Shinji-kun noch gratulieren mußte, schließlich hatten die anderen das auch getan. Aber wie? Seine Freunde hatten ihm die Hand geschüttelt. Die Geste erschien ihr unzureichend. Andererseits konnte sie ihn auch nicht umarmen wie der Captain, sie hätte ihn möglicherweise verletzt. Und für zärtlichere Berührungen war nicht die Zeit, dazu waren zu-viele Personen anwesend, jedenfalls war sie während ihre Gespräche mit der Klassensprecherin zu diesem Ergebnis gekommen. Aber es gab ja noch andere Optionen.
\"Shinji-kun?\"

\"Äh, ja?\" fragte Shinji und riß sich vom Anblick der drei Pakete auf dem Sofa los. Misato woll-te sicher dabeisein, wenn er sie öffnete.

Da trat Rei rasch auf ihn zu und berührte leicht seine Wange mit den Lippen.
\"Alles Gute zum Geburtstag, Shinji-kun.\"

\"Ah... ah...\"
Er berührte seine Wange mit den Fingerspitzen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sein Ge-hirn die weiche Berührung ihrer Lippen analysiert hatte und er zu dem Schluß kam, daß sie ihn geküßt hatte...

\"Mega-Playboy-Action!\" krähten Toji und Kensuke.

\"Rei... was...\"

Sie war bereits wieder einen Schritt zurückgewichen und verhielt sich völlig unbeteiligt, so daß Shinji sich unwillkürlich fragte, ob er es sich nicht nur eingebildet hatte.

Misato kam zurück.
\"Sie ist unterwegs, ich schlage vor, wir warten mit dem Essen noch etwas. - Hübscher Kuchen, übrigens. - Was ist denn mit euch los?\"
Shinji stand wie zur Salzsäule erstarrt da, während die beiden anderen Jungs lachten und sich auf Reis Wangen eine zartrosane Verfärbung ausbreitete.

\"Ayanami hat Shinji geküßt!\" stieß Kensuke hervor und fing sich dafür einen Ellenbogenstoß von Toji in die Rippen ein, welcher der Ansicht war, daß er es nicht gleich hätte hinausposau-nen müssen.

\"Oh... was? Shinji?\"

\"Auf... auf die Wange...\" stammelte Shinji und war davon überzeugt, daß er bei einem Kuß auf die Lippen wahrscheinlich einfach gestorben wäre.

\"Es war nicht meine Absicht, dich in Verlegenheit zu bringen, Shinji-kun.\" erklärte Rei. Sie senkte den Blick. \"Ich sollte besser gehen.\"

\"Uh, nein.\"
Shinji trat ihr in den Weg.
Er wollte nicht, daß sie ging.
\"Bitte, Rei, bleib.\" Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. \"Die beiden sind doof.\"

\"Du bist nicht verärgert, Shinji-kun?\"

\"Nein... ahm... das... uh... so hat mir noch niemand zum Geburtstag gratuliert.\"

\"Aber von mir kriegst du keinen Kuß!\" rief Toji und krümmte sich wieder vor Lachen.

Rei nahm seine Aussage mit einem Anflug von Befriedigung hin.
Und anscheinend hatte sie doch keinen Fehler gemacht, wie anfangs befürchtet.
Der Captain grinste auch wieder.

\"Also, nachdem das geklärt ist...\" Misato kicherte kurz. Anscheinend hatte Rei doch einen Sinn für Humor, sonst hätte sie Shinji wohl kaum geneckt... das es anders war, konnte sie sich nicht vorstellen.
\"Shinji, willst du nicht deine Geschenke auspacken?\"

Shinji erwiderte ihr Grinsen.
Dabei wären Geschenke gar nicht nötig gewesen, die Tatsache, daß sie an ihn gedacht und sich solche Mühe gemacht hatte, genügte ihm völlig - was aber auch nicht heißen sollte, daß er auf seine Geschenke verzichtet hätte...
Er öffnete das erste Paket. Die Verpackung wies derart viele Beschädigungen auf, daß er gar nicht erst den Versuch machte, das Geschenkpapier zur Wiederverwendung bewahren zu wol-len. Es war ein dünner rechteckiger Karton, der einen dunklen Anzug enthielt.

Misato war gleich bei ihm und hielt ihm die Jacke an.
\"Ja, paßt!\"

Toji pfiff leise.
\"Ikari, siehst spitze aus!\"

\"Ja, Mega-Playboy!\" rief Kensuke.

Toji verdrehte die Augen. Daß Aida aber auch gar nichts ernst nehmen konnte...

\"Uhm, ja? Rei?\"

Sie blinzelte.
Shinji-kun fragte nach ihrer Meinung. Dabei hatte sie überhaupt keine Ahnung, was das Thema Mode betraf. Sie musterte ihn und die Jacke, pflichtete Mitschüler Suzuhara stumm bei. Shinji-kun würde in diesem Anzug sehr vorteilhaft wirken.
\"Die Jacke scheint zu passen.\"

\"Komm, sieh dir auch die anderen an.\" forderte Misato Shinji auf.
Dabei schob sie das größte Paket, jenes mit dem Bausatz zur Seite. Das beste zum Schluß...

Zwei Hosen später hatte Shinji schließlich das dritte Geschenk in Händen.
\"Misato... das... das ist ja...\"
Es war das Fahrrad, beziehungsweise der Fahrradbausatz, den er im Schaufenster gegenüber der Schule gesehen hatte.
\"Du hast es gekauft?\"

\"Naja, Rei meinte, du würdest dir ein Fahrrad wünschen - und die Gelegenheit war ja günstig.\"

Shinji fiel Misato um den Hals.
\"Das ist das beste Geschenk, daß ich jemals bekommen habe!\" jubelte er.
Dann lächelte er Rei an. Seine Lippen formten ein leises \'Danke\'.

Sie nickte nur, ließ sich ihre Freude nicht anmerken, richtig gehandelt zu haben, freute sich da-rüber, daß er sich freute. Das Glücksgefühl, welches Shinji-kun verspürte, schien auf sie über-zuschwappen.

Gute zwanzig Minuten später traf Hikari ein, verbeugte sich vor Misato und bedankte sich für die Einladung. Dann wandte sie sich Shinji zu, gratulierte diesem zum zweiten Mal an diesem Tag und erklärte mit Bedauern, daß sie kein Geschenk für ihn hätte.

Shinji schüttelte den Kopf.
\"Rei hat mir gesagt, daß ihr beiden den Kuchen für mich gebacken habt, das genügt.\"

Rei wußte nicht, was sie davon halten sollte.
Warum legt Shinji-kun soviel Wert auf die Gesellschaft der Klassensprecherin? Weil sie beide an dem Kuchen gebacken hatten? Oder war es mehr?
Dieses nagende Gefühl in ihrer Brust... konnte das Eifersucht sein?
Aber die Klassensprecherin war doch eine Freundin, oder? Oder wollte sie sich zwischen sie und Shinji drängen?

Misato zündete die Kerzen an, die teilweise leicht schief in der Torte steckten und erklärte die Feier für eröffnet.
\"Los, Shinji, auspusten!\"

\"Ja, auspusten!\" rief Kensuke.

\"Und vergiß nicht, dir etwas zu wünschen!\"

\"Uhm...\"
Shinji holte tief Luft und begann zu pusten, schaffte es tatsächlich, alle Kerzen auszublasen, ehe er Atem holen mußte.

\"Und, Ikari, was hast du dir gewünscht?\"

\"Das erzählt man doch nicht, Aida!\" erklärte Hikari. \"Dann geht der Wunsch nicht in Erfül-lung!\"
Sie saß neben Toji, auf dessen anderer Seite Kensuke saß, während Shinji zwischen Misato und Rei saß.

Rei sah ausdruckslos zu Hikari hinüber, welchen den Blick mit fragend hochgezogenen Augen-brauen erwiderte.

Misato schnitt die Torte an.
\"Okay, wer will ein Stück?\"

\"Uhm, könnte ich wohl ein Stück von Reis Kuchen haben?\" fragte Shinji leise.

Reis Mundwinkel zuckten leicht.
Shinji-kun wollte zuerst ihren Kuchen probieren.
Und er hatte \'Rei\'s Kuchen\' gesagt...
Sie nickte Hikari unmerklich zu.

Diese glaubte, das Nicken bezog sich auf die Qualität des Kuchens und nickte zurück.

Alle starrten Shinji an, nachdem Misato ihm ein großes Stück Kuchen abgeschnitten und vor die Nase gestellt hatte.

\"Ahm, was schaut ihr denn alle so?\"

\"Nun probier schon und sag uns, ob er gut ist!\" ergriff Toji das Wort und zuckte gleich darauf zusammen, als seine Nachbarin ihm vor das Schienbein trat.

\"Au! Wofür war das denn?\"

\"Natürlich ist er gut! Ayanami hat sich alle Mühe gegeben!\"

\"Uh. Ich wollte nicht andeuten, euer Kuchen wäre...\"

\"Nicht unser Kuchen! Ich habe nur den Ofen im Auge behalten!\"

Rei öffnete den Mund, um die Aussage der Klassensprecherin zu korrigieren, schließlich klang diese, als hätte sie den Kuchen allein fertiggemacht und lediglich den Herd der Horakis zum Backen benutzt. Doch da zwinkerte Hikari ihr zu und machte eine knappe Handbewegung, nichts zu sagen. Und Rei verstand - die Klassensprecherin war nicht gewillt, daß jemand von den Dingen erfuhr, die sie ihr anvertraut hatte, auch nicht, daß sie nicht kochen konnte.
So verhielt sich eine Freundin... also war Hikari eher wegen Suzuhara hier als wegen Shinji... oder vielleicht auch, weil, wie sie ihr am Vortag erzählt hatte, niemand sie zu irgendwelchen Partys einlud, weil sie kaum Kontakte mit den Mitschülern hatte, die über das schulische hin-ausgingen...
Das Gefühl von Eifersucht erlosch schlagartig, machte Reue über die Fehleinschätzung Platz.
Plötzlich nahm sie Shinji-kuns Hand wahr, die ihren Unterarm berührte.

\"Rei, das ist der beste Kuchen, den ich je gegessen habe!\" erklärte Shinji im Brustton der Über-zeugung. Gegenüber diesem Kuchen verblaßten die Kuchen aus dem Supermarkt, welche seine Pflegemutter bei Feierlichkeiten immer massenhaft gekauft hatte, um soviel Auswahl wie mög-lich bei möglichst geringen Aufwand zu haben.
Er schwebte regelrecht im siebten Himmel. Das war einfach wunderbar!
Seine erste Überraschungsparty... sein erstes Fahrrad... der wahrscheinlich erste selbstgebacke-ne Kuchen seines Lebens... und der erste Kuß...
Schon an letzteres zu denken ließ sein Herz schneller schlagen und ihn erröten, sobald er zur Seite blickte und Rei ansah, welche an einem schmalen Stück des von ihr gebackenen Kuchens knabberte. Daß sie hier war, daß sie ihm einen Kuchen gebacken hatte - und daß sie ihn geküßt hatte, wenn auch nur sacht und auf die Wange - hieß das nicht, daß sie ihn mochte, daß er sich die letzten Tage ganz umsonst gesorgt hatte?

Der Nachmittag verging wie im Fluge und eigentlich viel zu schnell.
Nach dem Essen hatten sich die Jungs mit dem Fahrradbausatz nach unten und vor das Haus begeben, um ihn dort zusammenzumontieren.
Toji brachte seine Kraft ein, wenn es darum ging, Teile zusammenzuschrauben oder zusam-menzuhalten, damit sie mittels Schrauben verbunden werden konnten, während Kensuke be-wies, daß er mit dem zum Bausatz gehörenden Werkzeug umgehen konnte, und Shinji freude-strahlend jedes Teil zuerst in die Hand nahm und jede angezogene Schraube regelrecht zu seg-nen schien.

Die beiden Mädchen waren ihnen nach unten gefolgt, während Misato oben den Tisch abräum-te und PenPen ein Stück der Geburtstagstorte vor die Tür seiner Behausung stellte.
Das hatte bestens geklappt... und Shinji war so glücklich wie sie ihn bisher noch nicht erlebt hate. Es war eine gute Idee gewesen. Und sie kam nicht umhin festzustellen, daß Shinji und Rei in ihren Augen ein süßes Paar abgegeben hätten.

Unten sahen Hikari und Rei von einer Bank aus den drei Jungen zu, welche mit Eifer das Fahr-rad zusammenschraubten und bereits ihre erste gemeinsame Radtour planten.

\"Und, Ayanami, zufrieden?\"

\"Womit, Klassensprecherin?\"

\"Na, Ikari-kun scheint sich sehr gefreut zu haben.\"

\"Das hat er.\"

Hikari blickte zur Seite, sah mit Erstaunen, daß Rei lächelte.

\"Es ist schön, daß er glücklich ist.\"

\"Ja. Jetzt schau dir das an - die drei tun ja gerade so, als ob von diesem Fahrrad das Schicksal der Welt abhängt...\"
Hikari lachte.
\"Und Toji... sein Gesicht...\"

Tatsächlich machte Toji ein recht verkniffenes Gesicht, während er zwei Teile des Rahmens in-einanderschraubte, die ihm einen gewissen Widerstand entgegensetzten.
Kensuke gestikulierte wild mit Händen und Füßen und Shinji wich dem Schraubenzieher aus, den der bebrillte Junge in der Hand hatte.

\"Ayanami, Frau Katsuragi sagte, du hättest erwähnt, daß ich dir geholfen hatte...\"

\"Ja. War das falsch?\"

\"Nein. Danke.\"

\"Wofür?\"

\"Daß du mich nicht einmal unter den Tisch hast fallen lassen.\"

Rei überlegte.
Es hatte doch gar keine Situation gegeben, bei welcher die Klassensprecherin in Gefahr geraten war, unter einen Tisch zu fallen, egal ob in der Schule oder eben in der Wohnung.
Es mußte sich also um eine weitere Redewendung handeln.
\"Ich habe nur die Fakten dargelegt.\"

\"Ja. Mir ist noch kein ehrlicherer Mensch begegnet als du.\"

Wieder setzte Rei zu einer Korrektur an, unterließ es aber, es brachte nichts, wenn sie Hikari erklärte, daß es viele Dinge gab, über die sie nicht reden durfte, entweder weil es ihr befohlen worden war, oder weil sie sonst Shinji-kun verloren hätte...
Also schwieg sie.

Hikari wartete eine Weile auf eine Antwort, während vor ihnen das Fahrrad langsam Formen annahm. Shinji hatte inzwischen die Reflektoren in die Räder eingesetzt, die Radschläuche auf-gezogen und aufgepumpt, während die anderen beiden den Rahmen fertigmontiert hatten und Kensuke jetzt den Lenker anbaute.

\"Shinji mag dich.\" flüsterte Hikari schließlich verschwörerisch, als die Stille für sie unerträglich wurde.

\"Woher...\" stieß Rei leise hervor, während sich ihre Wangen heiß anzufühlen begannen.

\"Ich habe ihn beobachtet. Als er den Kuchen probiert hatte, schien es mir, als wollte er dir um den Hals fallen. Er wirkte so glücklich, daß es fast schon unnatürlich war.\"

\"Alles wegen... eines Kuchens?\"

\"Kennst du nicht das Sprichwort \'Liebe geht durch den Magen\'?\"

\"Nein... Aber jetzt schon. Willst du mir damit sagen, ich sollte öfter für ihn kochen?\"

Hikari kicherte.
\"Schaden kann\'s nicht. Ich könnte dir ein paar Rezepte geben und den einen oder anderen Kniff verraten... du könntest ihm etwas für die Mittagspause machen.\"
Sie zwinkerte.
\"Ich überlege, ob ich Toji nicht auch etwas machen sollte, er hat meistens nichts dabei, sondern kauft sich etwas in der Cafeteria - und das Essen dort ist scheußlich...\"

Das überzeugte Rei vollends - die Klassensprecherin hatte keine Empfindungen für Shinji-kun, die den ihren entsprachen, ihr Interesse galt Suzuhara-kun. Gut. Nur kurz fragte sie sich, wie weit zu gehen sie bereit gewesen wäre, wäre es anders gewesen.

Ein freudiges Jauchzen riß die beiden aus ihrer Unterhaltung - Shinji drehte auf dem fast leeren Parkplatz seine ersten Runden, zuerst noch mit dem rennenden Toji neben sich, der das Rad am Gepäckträger festhielt, um Shinji im Gleichgewicht zu halten, dann aber schließlich losließ und keuchend stehenblieb, ohne daß Shinji umstürzte.

\"Rei, schau mal!\" rief Shinji, als er in einer weiten Kurve an ihnen vorbeifuhr.

Der Anblick erwärmte ihr Herz...


*** NGE ***


Der Tag ging rascher vorbei, als irgendeiner der Beteiligten es sich gewünscht hätte.
Misato ließ zum Abendessen etwas von einem Bringdienst kommen, es gab Pizza, wobei sie sich des Eintrages in Reis Akte erinnert und für diese vegetarisch geordert hatte.
Toji proklamierte, sein neues Leibgericht entdeckt zu haben und alle hatten generell jede Men-ge Spaß, einschließlich Rei, auch wenn sie es gut verbarg und sich nur ein schmales Lächeln dann und wann erlaubte. Für sie war es nicht nur die erste Party, zu der sie eingeladen worden war, sondern das erste Fest überhaupt, an dem sie teilnahm, die Einweihungsfeier des NERV-Hauptquartieres hatte sie über Monitor von der Reifungskammer aus verfolgt.
Nach dem Essen holte Misato mehrere Brett- und Kartenspiele aus dem kleinen Zimmer am Ende des Korridors, das eher die Qualitäten eines Einbauschrankes als eines Raumes hatte, und in dem sie ihre nicht genutzten Sachen lagerte.
In der Folge stellte sich heraus, daß Rei kaum zu schlagen war, wenn es um Logik, Gedäch-nisleistungen und Taktieren ging - bei letzterem konnte nur Misato sie übertrumpfen, welche von Toji und Kensuke bekniet worden war, mitzuspielen.
Draußen wurde es langsam dunkel, als Misato schließlich erklärte, die Gäste heimfahren zu wollen. Die fünf sahen sich enttäuscht an, wobei Rei ihre Enttäuschung gut verbarg - auch sie wäre gerne geblieben, doch sie konnte die Entscheidung des Captains nachvollziehen, schließ-lich war am nächsten Tag Schule und Doktor Akagi wollte ferner einige Tests durchführen, Shinji-kun benötigte also seinen Schlaf.

\"Ich könnte Rei nach Hause bringen\", erklärte Shinji zögernd. \"Wenn ich mein Fahrrad mitneh-me, bin ich auch ganz schnell wieder zurück.\"

Misato überlegte und nickte.
Sollte Shinji ruhig noch ein paar Runden mit dem Rad drehen.
\"Aber keine großen Umwege! Und du bleibst auf den Radwegen!\"

\"Natürlich.\"

\"Ich wohne nicht weit von hier\", erklärte Hikari. \"Sie brauchen mich nicht zu fahren.\"

\"Und ich sorge schon dafür, daß ihr nichts passiert.\" meldete Toji sich zu Wort.

Misato grinste.
\"Wie ihr wollt. Und du, Kensuke?\"

Aidas Augen funkelten. Er hatte schon immer in Misatos Sportwagen mitfahren wollen, seit er ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
\"Wenn Sie mich mitnehmen, sage ich nicht nein.\"

Die anderen lachten.

Als sie vor dem Haus in verschiedene Richtungen auseinandergingen, reichten sie Shinji noch einmal die Hand und bedankten sich für die Einladung, dann machten Shinji und Rei sich auf den Weg zur Bahnstation, wobei Shinji sein neues Fahrrad neben sich herschob.

Der Abend war angenehm, zwar immer noch kühl, aber nicht mehr so kalt wie noch vor eini-gen Wochen. Dieser Zustand würde noch etwa zwei Monate anhalten, ehe der kurze, aber heiße Sommer über sie hereinbrechen würde.

Schweigend gingen sie nebeneinander her bis zur Bahnstation.
In der Bahn setzte Rei sich auf die Bank, während Shinji mit dem Rad im Türbereich stehen-blieb.
Erst als sie schließlich das Gebäude, in dem Rei wohnte, erreichten, brachte Shinji die Zähne auseinander.
\"Ich bin sehr froh darüber, daß du gekommen bist, Rei.\"

\"Ja?\"

\"Ja. Ohne dich wäre es... etwas hätte gefehlt... so war es jedoch perfekt.\"

\"Shinji-kun, was siehst du?\"

Ihre Frage überrumpelte ihn völlig.
\"Rei, ich...\"

\"Bitte... schau mich an... und sage mir, was du siehst...\"

Er sah sie an, lange und eingehend.
Was konnte sie nur meinen...
\"Rei, ich... ich sehe dich... ich sehe Rei Ayanami...\"

\"Sonst nichts?\"

\"Was sollte ich denn sehen? Ich sehe ein Mädchen... ein hübsches Mädchen in meinem Alter...\"
Er zuckte heftig zusammen und biß sich auf die Zunge. Das war falsch, falsch, falsch... Wenn er ihr sagte, daß er sie mochte, würde sie ihn nur zurückweisen, so wie er schon so oft zurück-gewiesen worden war, wie alle Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, ihn zurückgewiesen hatten... war es da nicht viel besser, sein Herz zu verschließen?

\"Shinji-kun, siehst du nur mich?\"

Die Frage übertraf nun wirklich alles.
Er war doch nicht Misato, bei der man von der Zahl der Sixpacks, die sie in der letzten Stunde geleert hatte, darauf folgern konnte, wie oft sie jemanden sah...
\"Natürlich sehe ich nur dich. Rei, was soll das alles?\" fragte er verzweifelt.
Doch seine Verzweiflung zerstob, als sie ihn umarmte und ihm ein leises \"Danke, Shinji-kun\" ins Ohr flüsterte. Dafür übernahm eine anders geartete Verwirrung ihren Platz.
Dann trat sie auf die Haustür zu.
\"Uhm, ja, Rei, also, öh, dann, äh, bis morgen\", stotterte er jetzt wieder verwirrt.

\"Ja. Bis morgen.\"
Dennoch wandte sie sich nicht ab um hineinzugehen, blickte ihn stattdessen an.
Shinji-kun mochte sie... er hatte gesagt, sie sei hübsch...
Und er hatte ihr dabei nur ins Gesicht geblickt, genau in die Augen, die Fenster zur Seele...
\"Warte...\"
Mit zwei raschen Schritten überwand sie die Entfernung zwischen ihnen. Dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die Wange, den zweiten an diesem Tag, nur diesesmal auf die andere Wange.
\"Gute Nacht. Und fahr vorsichtig.\"

\"Uh, ja. Dir auch eine... eine gute Nacht.\"

Im Dunkeln - die Straßenlaterne in der Nähe funktionierte nicht und der Hauseingang war auch unbeleuchtet - sah er nur ihre scharlachroten Augen, die in der Nacht wie die Augen einer Ka-tze zu leuchten schienen. Das Lächeln auf ihren Lippen hingegen fühlte er mehr, als daß er es sah...


*** NGE ***


\"... und dann hat Ayanami Shinji geküßt\", beendete Toji gerade seinen Bericht darüber, was vor der Ankunft Hikaris auf der Party geschehen war.

\"Wirklich?\"
Hikari staunte. Das hätte sie Ayanami nun wirklich nicht zugetraut, so verschlossen, wie diese sich immer verhielt.

\"Ja, auf die Wange. Ich hatte richtig Angst um Shinji, er könnte explodieren, so rot ist er ge-worden.\"

So, auf die Wange... Hikari schüttelte stumm den Kopf. Sie erinnerte sich, Rei erzählt zu ha-ben, daß in manchen Ländern die Menschen einander mit Küssen auf die Wangen begrüßten und verabschiedeten, während sie am gestrigen Tag mit dem Kuchenteig beschäftigt gewesen waren. Anscheinend war Ayanami eine sehr aufmerksame Zuhörerin...
Sie standen vor dem Haus, in dem Hikari mit ihrem Vater und ihren Schwestern wohnte, ein kleines Reihenhaus in einer Seitenstraße.
\"Schade, daß ich das nicht sehen konnte.\"

\"Tja... was die beiden jetzt wohl gerade machen?\"

\"Wahrscheinlich dasselbe wie wir.\"
Hikari lächelte.
\"Vor der Tür stehen und reden.\"

\"Wahrscheinlich. Ikari ist nicht gerade ein Draufgänger.\"

\"Aber du, was?\"

Toji schüttelte ernst den Kopf.
\"Nein. Sicher, wenn mich der Zorn packt, bin ich schwer zu stoppen... und dann sage ich Din-ge, die mir hinterher leid tun... aber eigentlich suche ich keinen Streit.\"

\"Toji...\"

\"Nun... ich sollte mich wohl langsam auf den Weg machen, sonst macht sich bei mir jemand Sorgen.\"

\"Ja...\"

\"Also...\"
Er reichte ihr die Hand.

Hikari trat auf ihn zu, in der nächsten Sekunde hielten sie einander an den Händen, sahen sich lange in die Augen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mundwin-kel.
\"Gute Nacht, Suzuhara.\"

\"Ich... ja, gute Nacht, Klassensprecherin...\"

\"Du siehst süß aus, wenn du rot wirst.\"

\"Äh...\"
Toji grinste verlegen, wartete noch, bis sie im Haus verschwunden war, ehe er sich selbst auf den Weg machte.
Kapitel 19 - Das Mädchen, das Messer und der Fisch

Nach zwei endlosen Wochen auf See näherte sich der Konvoi endlich den japanischen Inseln.
An Bord der \'Over the Rainbow\' war kaum jemand, der nicht den Moment herbeisehnte, in dem man in der Hafenstadt Matsushiro vor Anker gehen und die Fracht löschen würde - und das beschränkte sich nicht auf den roten EVANGELION, der unter einer riesigen Plane auf dem Deck des zweiten Flugzeugträgers des Konvois ruhte.
Insgesamt waren mit der \'Over the Rainbow\' zwei Flugzeugträger und fünf schwere Kreuzer unter der Flagge der UN ausgelaufen. Jetzt ging die Reise langsam zu Ende und nicht nur Ad-miral James D. Horner von der britischen Marine war froh, seine Passagiere in Bälde loswer-den zu können - der NERV-Agent Ryoji Kaji ging ja noch, der hielt sich im Hintergrund und man erschreckte sich bestenfalls darüber, wenn man feststellte, daß er schon seit längerem an-wesend war, ohne daß man ihn bemerkt hatte, seine rothaarige Begleiterin, deren Namen auch dem verschlafensten Wartungstechniker an Bord bekannt war, immerhin gab sie ihn bei jeder passenden und häufig auch unpassenden Gelegenheit bekannt, hätte Horner hingegen liebend gern mehr als einmal in den letzten Wochen höchstpersönlich über Bord geworfen - ohne Ret-tungsweste oder gar Schlauchboot. Das Mädchen verhielt sich wie ein Filmstar und hatte mehr als einmal versucht, dem Admiral ins Handwerk zu reden, wenn es plötzlich und unerlaubt die Brücke betreten hatte. Da Asuka Soryu Langley - allein der Name löste bei Horner inzwischen mittlere Schüttellähmung aus - nicht seinem Kommando unterstand, sondern einerseits Zivilist und andererseits Lieutenant Junior Grade bei NERV war, hatte er sie nicht einmal unter Deck in ihrer Kabine einsperren lassen können, ihm war sehr wohl bewußt, daß er damit seinen Rang, sein Kommando und seine Pension riskiert hätte, schließlich sollte diese rothaarige Göre dabei helfen, die Welt zu retten. Aber noch eine Woche auf See mit ihr an Bord hätte weder der Admiral noch die Hälfte seiner Offiziere bei klarem Verstand überlebt.
Daß sie, sobald man sich Land näherte, auf Möwen zu schießen begann, hatte Kaji ihr glückli-cherweise während der Durchfahrt durch den Panamakanal ausreden können, auch daß sie nachmittags das warme Klima und die pralle Sonne in einem Liegestuhl auf dem Vorderdeck genoß, hätte Horner notfalls noch übersehen können, möglicherweise sogar, daß sie dies in ei-nem knappen zweiteiligen rot-weiß gestreiften Badeanzug tat, dessen Oberteil gerade noch ge-eignet war, ihre Oberweite bedeckt zu halten, auch wenn es die männlichen Besatzungsmitglie-der seine Mannschaft mehr als nur irritierte. Doch ihr ständiges Gezeter zehrte gewaltig an den Nerven des alternden Admirals, an allem hatte sie etwas auszusetzen, das begann beim Kanti-nenessen, so daß der Koch schließlich schweigend dazu übergegangen war, für sie separat zu kochen, setzte sich bei den Vibrationen fort, welche die vom Flugzeugträger abhebenden und wieder landenden Jäger erzeugten, schloß Horners Kursentscheidungen mit sein, der es doch tatsächlich gewagt hatte, mitten durch ein heftiges Gewitter steuern zu lassen - nicht nur zu seiner Genugtuung hatte Fräulein Langley stundenlang über der Reling gehangen und der See geopfert - und endete beim Namen des Schiffes. Horner konnte eine ganze Menge ertragen - er hatte oft mit Bürokraten zu tun und daher ein recht dickes Fell - doch für ihn hörte der Spaß auf, wenn sich jemand über den Namen seines Schiffes lustig machte, schließlich hatte ihre Ma-jestät die Queen es selbst so getauft.

Und wenn er nicht Anweisung gehabt hätte, den EVA mitsamt Pilotin in Matsushiro abzulie-fern, hätte er sie längst eigenhändig an Bord eines Langstreckenkurierjägers gebracht, auf dem Kopilotensitz festgebunden und nach Japan geschickt.
Aber morgen... morgen würden sie im Zielhafen ankommen... morgen würde der Alptraum ein Ende haben... wenigstens hielt Asuka Soryu Langley - die Hände des Admirals zitterten bei dem Gedanken kurz unkontrollierbar - sich nicht ständig an Bord seines Schiffes auf, sondern quälte die Hälfte der Zeit die Besatzung des anderen Trägers unter Captain Marshell, welcher den Riesenroboter transportierte. Aber morgen, morgen würde er bis auf die Notbesatzung je-des Mitglied seiner Crew an Land lassen und anweisen, gehörig zu feiern, während er selbst sich mit einer guten Flasche Scotch in seine Kabine zurückziehen würde.
Ja, morgen...

In diesem Augenblick heulte der Alarm los, anscheinend um den bevorstehenden Weltunter-gang zu verkünden...


*** NGE ***


Asuka stand unter der lichtdurchlässigen Plane, welche ihren EVANGELION bedeckte, und war damit beschäftigt, verschiedene Stellen an der Panzerung auf Hochglanz zu polieren. Ihrer Ansicht nach hatte, wer auch immer den EVA lackiert hatte, an mehreren Stellen gehörig ge-pfuscht. Und die salzige Meeresluft schadete ihrem Liebling noch mehr! Wenn dieser alte Bock von einem Admiral doch bloß ihrem Wunsch gefolgt wäre und ein paar Leute abgestellt hätte, die sich der Sache angenommen hätten, dann hätte sie nicht selbst mit Eimer, Politur und Putz-lappen auf dem EVA herumklettern müssen!
Sie trug ihre Jeans und das Bikinioberteil, da sie auf ihre anderen Sachen Rücksicht nehmen wollte.
Da ging ein heftiger Ruck durch das Schiff, welcher sie von den Füßen holte.
Fluchend kam sie wieder auf die Beine.
Konnten diese Seeleute denn nichts richtig machen? Und wahrscheinlich würde sie, wenn sie sich beschwerte, nur wieder zu hören bekommen, sie hätte jemanden durch ihre Kleidung abge-lenkt - na klar... besser eine bescheuerte Ausrede als gar keine...
Der Eimer war umgefallen, das Wasser war über das Deck gelaufen, die Flasche mit der Politur rollte gerade unter der Plane hindurch.
Toll, wirklich toll... sie konnte doch nicht mit einem EVANGELION in Japan ankommen, des-sen rote Panzerung stumpfe Flecken am rechten Arm aufwies! Sicher würde man ihr zu Ehren eine Parade geben, schließlich war sie extra den weiten Weg aus Deutschland gekommen, um sich mit ein paar Aliens herumzuschlagen, denen die Japaner allein nicht Herr werden konnten - und da mußte ihr EVA schließlich glänzen, als kämen alle Teile frisch aus dem Herstellerwerk!
Sie duckte sich unter der Plane hindurch, nahm die Verfolgung der Flasche mit der Politur auf.

Da gingen die Alarmsirenen los, riefen alle Besatzungsmitglieder auf ihre Stationen und ver-kündeten volle Gefechtsbereitschaft.

Asuka sah sich um.
Weshalb wurde Alarm gegeben? War es vielleicht nur ein Probealarm, um die faule Mannschaft in Trab zu bringen? Oder... wurde der Konvoi angegriffen? Von wem? Und woher?
Einer der Kreuzer, welche die Träger begleiteten, wurde urplötzlich in zwei Hälften zerrissen, die langsam sanken.
Asuka nahm einen großen dunklen Schatten wahr, welcher sich von dem versenkten Schiff ent-fernte, dann eine Kehrtwendung machte und unter starker Beschleunigung auf einen anderen der schweren Kreuzer zuraste, diesen rammte und ein gewaltiges Loch in den Rumpf riß. Das angeschlagene Schiff legte sich fast mit zeitlupenhafter Geschwindigkeit auf die Seite, während winzig kleine Besatzungsmitglieder über Bord ins Wasser sprangen.
\"Ein Engel...\" zischte Asuka.
Ihre Mundwinkel wanderten langsam auseinander, formten ein breites Grinsen.
Sie mußte war nicht mehr warten, bis sie in Japan war und der nächste Gegner auftauchte - der Feind war zu ihr gekommen...

Ihre PlugSuit befand sich in einem Aktenkoffer, welchen sie stets in ihrer Nähe hatte, man konnte ja nie wissen.
Asuka griff sich den Koffer, verschwand wieder unter der Plane, öffnete dabei das Koffer-schloß.
Ein rascher Handgriff öffnete das Bikinioberteil, während sie bereits ihre Schuhe von den Füs-sen kickte. Dann stieg sie gleichzeitig aus Jeans und Slip, warf die Sachen einfach auf den Bo-den und zog sich ihre PlugSuit über, deren mit schwarz abgesetztes Material ansonsten von demselben kräftigen Rot war wie ihr EVA.
Das war die Gelegenheit, zu beweisen, daß man sich in ihr nicht geirrt hatte, daß das jahrelange Training nicht umsonst gewesen war... wenn sie im Alleingang einen Engel besiegte, konnte sie beweisen, daß sie besser war, als die beiden anderen Piloten, daß Können und nicht Beziehun-gen ausschlaggebend waren.

EVA-02 lag auf dem Rücken, der EntryPlug steckte teilweise in den Steuernerv eingeführt in seinem Nacken, war ansonsten mit Seilen ebenso wie der Mecha selbst dagegen gesichert, bei unruhigem Seegang fortzurutschen.
Asuka sprang in die Einstiegsluke, blieb mit den Füßen auf dem Lukenrand stehen und hangelte sich dann aufwärts in den Pilotensitz, wobei ihr der geriffelte Boden zugutekam.
Sie aktivierte die Steuerung, überprüfte die internen Batterien. Den Angaben zufolge waren die Akkus voll aufgeladen und würden Energie für fünf Minuten liefern, fünf Minuten, um den En-gel zu besiegen, denn natürlich hatte NERV nicht daran gedacht, ein Versorgungskabel an Bord des Trägers zu installieren, um den Atomreaktor des Schiffes anzuzapfen, schließlich hat-te niemand damit rechnen können, daß ein Angriff fernab von Tokio-3 erfolgen könnte.
Während sie mit einer Hand einen Schalter nach dem anderen umlegte und dabei nach und nach die Systeme des EVAs aktivierte, befestigte sie mit der anderen die Verstärkerclips in ihrem Haar.
EVA-02 war die erste in Serienfertigung erstellte Einheit, besser, schneller und stärker als der Prototyp und sicher auch besser als das Testmodell. Vor allem war sie nicht darauf angewie-sen, daß der Startvorgang von außerhalb eingeleitet wurde.
Der Plug wurde eingeführt, jagte auf dem Schienensystem in den Nacken des EVAs hinein. Mit lauten klickenden Geräuschen wurde er verankert.
Taktischer Computer bereit... erste Informationen wurden verarbeitet, als der EVA die Or-tungssysteme des Flugzeugträgers anzapfte.
Synchronisation stand... Asuka spürte, wie ihr Geist sich mit dem EVANGELION verband, fühlte plötzlich nicht mehr den Pilotensitz in ihrem Rücken, sondern das Deck des Trägers, starrte plötzlich durch die Augen des EVAs auf die hellgraue Plane, die ihn bedeckte. Die An-zeigen des taktischen Computers erschienen als Einblendungen direkt auf ihrer Netzhaut.
Der Engel hatte gerade den dritten Kreuzer versenkt und das Flaggschiff gerammt, doch die \'Over the Rainbow\' hatte dem Treffer standgehalten. Gerade entfernte der Engel sich wieder unter schwerem Beschuß der übrigen Schiffe. Den Hochrechnungen des Computers nach rich-tete das Trommelfeuer allerdings ebensowenig Schäden an wie die Torpedos, welche auf den Engel abgeschossen wurden.
Der Sonarortung nach hatte der Engel die äußere Form eines riesigen Fisches. Die Systeme ih-res EVAs waren bereits damit beschäftigt, festzustellen, wo sich sein Kern befand.
Diesesmal kam der Engel direkt auf den Flugzeugträger zu, welcher EVA-02 transportierte... na, dem würde sie es zeigen... sie würde den Engel zu Sushi verarbeiten! Er würde den Tag be-reuen, an dem er sich entschlossen hatte, in die Nähe von Asuka Soryu Langley zu kommen!

EVA-02 setzte sich auf, zog die Beine an, stützte sich auf das Schiffsdeck, richtete sich zu sei-ner vollen Größe auf, zerriß dabei teilweise die Plane.

Das Schiff unter ihm schwankte, Kampfflugzeuge, welche eigentlich sturmsicher an Deck ver-täut waren, rutschten über das Deck und über die Reling, klatschten ins Meer. Millionenwerte versanken in der Tiefe, noch bevor der Engel das Schiff überhaupt erreicht hatte. Zahlreiche Besatzungsmitglieder, hauptsächlich Piloten, welche ihre Maschinen hatten startklar machen wollten, verschwanden im Wasser...
Der Riesenfisch stand immer noch unter schwerstem Beschuß. Jetzt röhrten auch die mächti-gen Schiffskanonen der Trägerschiffe auf, konnten das AT-Feld des Engels aber trotz der Tat-sache, daß er sich genau zwischen den Flugzeugträgern befand, nicht einmal ankratzen.

EVA-02 stand immer noch auf dem Flugdeck, die Plane um seine Schultern geschlungen wie einen grauen Umhang, eine Hand am Saum der Plane.

\"Komm...\" flüsterte Asuka und ihre Augen funkelten.
Ihr EVA war völlig willig, erwartete den Feind mit derselben Anspannung und Vorfreude wie sie, wartete darauf, ihn zerfetzen und sein Herz herausreißen zu können. Asuka verspürte die-selbe Blutgier, ließ sich von langsam aus den Tiefen des EVAs aufsteigenden Dunkelheit ein-hüllen. Die Finsternis ängstigte sie nicht, machte sie nur stärker, schärfte ihre Sinne, machte sie bereit für das, was vor ihr lag - die Vernichtung des Engels.

Eines der Felder der Kommunikationsphalanx leuchtete auf, es zeigte den alten Horner, dessen schneeweißer Schnurrbart in seinem hochrot angelaufenen Gesicht grell hervorstach.

\"Langley, schalte sofort deinen Roboter ab! Du versenkst noch das Schiff!\"

Asuka grinste ihn breit an.
\"Ich mache meinen Job!\"
Damit unterbrach sie die Verbindung.
Der Engel kam...


*** NGE ***


Ryoji Kaji stand auf dem Flugdeck der \'Over the Rainbow\' neben einem startbereiten Hub-schrauber. In der Hand hielt er einen Koffer, dessen Inhalt ihm befohlen worden war nach To-kio-3 zu bringen und niemandem anders als dem NERV-Kommandanten Gendo Ikari zu über-geben. Kaji wußte nicht, was sich in dem Koffer befand. Er hatte nur den Verdacht, daß der Angriff des Engels nicht dem Konvoi oder EVA-02 im besonderen, sondern dem Inhalt des Koffers galt, wie anders war zu erklären, daß seine Anweisungen auch explizit den Fall mitein-geschlossen hatten, daß es zu einem Kampf kommen konnte, bei dem er Asuka und EVA-02 zurücklassen sollte...
Jetzt beobachtete er, wie EVA-02 sich auf dem anderen Träger aufrichtete und in eine Lauer-stellung ging. Noch wollte er nicht von Bord gehen und das ihm anvertraute Mädchen allein-lassen, er war es ihrem Onkel schuldig, daß er bis zum letzten Moment ausharrte. Er hatte ein-mal einen Fehler gemacht, hatte einmal zu lange gezögert, was Asuka hatte büßen müssen, er würde sie nicht noch einmal enttäuschen...
\"Mach ihn fertig...\" feuerte er das rothaarige Mädchen leise an.


*** NGE ***


Der Engel schoß aus dem Wasser auf EVA-02 zu.

Der rote EVANGELION schleuderte die Plane von sich und über den Engel, blendete ihn kurzfristig, schleuderte ihn auf das Deck.
Erneut ging ein Ruck durch den Flugzeugträger, erneut hüpften mehrere Maschinen über Bord.
Ein Funkmast brach ab, eine Radarschüssel krachte auf das Deck.
Der Engel war wenigstens zehnmal so groß wie der rote EVA, hing teilweise im Wasser, be-deckte trotzdem das komplette Deck des Trägers, zerquetschte die übrigen Flugzeuge und mehrere Besatzungsmitglieder, die nicht schnell genug von Deck hatten verschwinden können.
Asuka bemerkte es nicht, deckte den Riesenfisch mit Schlägen und Tritten ein.
Die Haut des Engels war stahlhart, sie konnte sie nicht durchdringen.

Mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse fegte der Engel das Deck leer und legte den Kommandostand und die Geschützsektion in Trümmer. Dann wälzte er sich herum, stieß sich ab und prallte gegen EVA-02, riß diesen mit sich ins Wasser.

Der EVANGELION sank wie ein Stein.

Asuka war außer sich.
Der Engel hatte sie ihres Vorteiles beraubt und sie in sein Element geholt.
Hastig ließ sie ihren EVA Schwimmbewegungen durchführen, sie hatte naturgemäß kein In-teresse daran, in den Tiefen des Ozeans zu verschwinden. Wenn ihr EVA doch wenigstens mit der D-Ausrüstung versehen gewesen wäre, dann hätte sie über Jetpacks verfügt, die es ihr er-laubt hätten, durchs Wasser zu schießen wie eine Rakete.
Der taktische Computer zapfte immer noch das Sonar der Schiffe an, zeigte ihr den Engel, der sich ihr rasend schnell näherte.
Sie riß die Augen auf.
So hatte sie sich ihren ersten Kampf nicht vorgestellt...
So durfte es nicht enden!
Ihr EVA sandte ihr Signale, nicht in Panik zu geraten. Die Dunkelheit verdichtete sich, ver-stärkte ihre Wut, sicherte ihre Entschlossenheit.
Sie würde sich doch nicht von einem blöden Fisch unterkriegen lassen!
Schon zog sie ihre PROG-Messer aus den in den Aufsätzen der Schulterpanzerung unterge-brachten Scheiden, während sie heftig mit den Beinen wassertrat, um nicht tiefer zu sinken.
\"Komm doch... komm doch... komm doch...\"

Der Engel schoß auf sie zu, passierte sie haarscharf, als sie zur Seite auswich.
Ihre stark vibrierenden Klingen durchstießen sein AT-Feld, kratzten jedoch nur über seine Außenhaut.
Dann erwischte sie die Schwanzflosse, schleuderte sie aus dem Wasser und zurück an die Luft.
EVA-02 krachte genau auf das Deck eines der beiden übrigen Kreuzer, durchschlug es ohne Probleme, raste durch sämtliche Decks und riß ein gewaltiges Loch in die Schiffshülle.
Der Aufprall raubte Asuka die Luft, als sie trotz des bewegungsmomentabsorbierenden LCLs kurz aus ihrem Sitz gehoben und von den Gurten wieder zurückgerissen wurde.
Sicher würden die Gurte Abdrücke auf ihrem Busen hinterlassen...
Wieder schickte ihr der EVA belebende Impulse, die ihr Bewußtsein klärten. Solange sie eins war mit dem EVA-Bewußtsein, konnte dieses sie unterstützen...
Haß kam in ihr auf, während sie sich mit kräftigen Schwimmstößen der Oberfläche näherte.
Niemand verfuhr so mit Asuka Soryu Langley!
Der taktische Computer teilte ihr mit, daß die Außenhaut des Engels mit den PROG-Klingen nicht zu durchbrechen war.
Verdammter Dreck... wie sollte sie ihn denn dann aufschlitzen...
Aber... wenn sie von außen nicht an seinen Kern herankam...
Ein schneller Blick auf die Ladungsanzeige der Batterien verriet ihr, daß sie noch etwas mehr als zwei Minuten hatte, den Engel zu besiegen und wieder an die Oberfläche zu einem der Schiffe zu kommen.
Der Engel kam ihrem Plan entgegen, indem er mit weit aufgerissenem Maul auf sie zukam.
Beim Anblick der klippenartigen weißglänzenden Zähne verspürte sie einen Anflug von Furcht, welche jedoch von Haß und Wut fortgespült wurde.
\"Komm näher...\"
Diesesmal machte sie nicht einmal den Versuch, dem Gegner auszuweichen, schoß direkt in sein offenes Maul hinein, die Messerklingen voran.
Hinter ihr schloß sich das Maul, die scharfen Zähne verfehlten den EVA nur knapp.
\"Großer Fehler. Dummer Engel...\"
Sie gab sich ganz dem Haß und dem Zorn hin, erlaubte dem EVA, beinahe ohne ihr Zutun zu handeln, ließ sich von der rasenden Wut mitreißen, als sie mit den Messern auf das Innere des Engels einhackte, seine bockenden Bewegungen ebenso wie die im Maulinneren herumpeit-schende Zunge ignorierte, bald in einer öligen Mischung aus Blut und Schleim watete, schließ-lich die Membran hinter dem Rachenraum durchtrennte, beinahe nebenbei das Rückgrat des Engels mit kräftigen Tritten zerschmetterte und schließlich durch den blutigen Nebel vor ihren Augen hindurch das Herz des Monsters sah, es mit beiden Händen ergriff und zerquetschte, während Energie von dem Kern zu ihrem EVA überströmte.
So mächtig...
So berauschend...
Mit vollen Zügen trank sie das Leben des Engels, lachte dabei aus vollem Hals.
Die Ladungsanzeige der Batterien veränderte sich sprunghaft, zeigte plötzlich wieder volle Ka-pazität. Asuka nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis, widerstand dem Drang, sich mit dem Handrücken über die Lippen zu wischen.

Der Kern glühte auf, wurde heller und heller.

Reflexartig verstärke Asuka das AT-Feld ihres EVAs, noch bevor die Erkenntnis, daß der Kern explodieren würde, ihr Gehirn erreicht hatte.
In einer grellen Explosion schien die Welt unterzugehen, Asuka wurde kräftig durchgerüttelt, der EVA flog durch die Herzkammer des Riesenfisches, blieb an einer riesigen Rippengräte hängen.
Doch das AT-Feld, welches EVANGELION und Pilotin schützte, hielt stand. Ihre gemeinsame Wut war stärker als der Feind.

Wasser drang ein.

Die Explosion mußte den Engel auseinandergerissen haben!
Asuka ließ EVA-02 gegen den Strom waten, teilte die Wassermassen mit ihrem auf Keilform konfigurierten AT-Feld. Das konnten die anderen Piloten sicher nicht, dabei war es so ein-fach... wenn man erst einmal begriffen hatte, daß die Kugelform des herkömmlichen AT-Feldes allein im Geist des Piloten entstand, welcher eine schützende Hülle errichten wollte, waren auch andere Formen kein wirkliches Problem mehr... theoretisch ließ sich das AT-Feld sogar offensiv einsetzen! Aber das wußten diese Dumpfbacken garantiert nicht... und sie würde es ih-nen nicht verraten, wie kam sie schließlich dazu, diese Verlierer auch noch zu unterstützen, die es sicher nicht geschafft hätten, den Fischengel zu besiegen, nicht einmal zu zweit! Ha!
Der Siegestaumel, der sie erfaßt hatte, war wie ein Rausch.
Doch dieser endete, als sie die fransigen Ausläufer des Loches in der Haut des Engel erreichte, das von der Explosion des Kerns gerissen worden war.
Draußen war es völlig dunkel und der taktische Computer konnte nur ungefähr die Tiefe nen-nen, in welcher sie sich befanden. Aber wenigstens konnte er ihr zeigen, in welcher Richtung \'oben\' war...

Kräftig stieß sie sich ab, ließ die PROG-Messer zurück, die lautlos mit dem toten Engel in der schwarzen Tiefe des Pazifiks verschwanden, schwamm auf die Oberfläche zu.
Immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen, schnappte sie nach Luft.
Tiefendruck... Druckausgleich... hämmerte es hinter ihrer Stirn, ohne daß sie hätte sagen kön-nen, ob es ihre Gedanken waren, oder die des EVAs.
Die automatischen Systeme handelten, veränderten den Druck innerhalb der Steuerkapsel.
Schon fiel ihr das Atmen leichter.
Sie nahm einen schwachen Schimmer wahr, die Oberfläche kam näher!
Die Energieanzeige schien schneller abzulaufen als gewöhnlich, was auch stimmte, schließlich führte der EVA Handlungen aus, welche einen erhöhten Energieaufwand forderten.
Sie hatte gewonnen, doch wenn es ihr nicht gelang, mit der verbleibenden Energie an die Ober-fläche zu kommen, würde sie ebenso wie der Engel in der schwarzen Tiefe enden...
Sie wollte nicht sterben, jedenfalls nicht so! Das war ihrer unwürdig... nicht beim ersten Ein-satz! Eine Asuka Soryu Langley wurde nicht von einem rottigen Riesenfisch besiegt, und erst recht nicht von einem toten!
Das Licht über ihr wurde heller und heller - und schließlich durchstieß sie die Wasseroberflä-che...
Die Energieanzeige sprang gerade auf 00:00:00, als sie mit einer der dunkelrot gepanzerten Hände von Einheit-02 über die Reling der \'Over the Rainbow\' griff, dabei das Schiff kurz in ei-ne bedrohliche Schräglage brachte und sich verankerte, indem sie die Finger in das Deck grub.

Schlagartig erlosch die Synchronisation mit dem EVA.
Asuka spürte eine bleierne Müdigkeit, die sie in ihrem Pilotensitz nach vorn sinken und ein-schlafen ließ, gehalten von den Kreuzgurten, die verhinderten, daß sie in die Steuerung knallte.


*** NGE ***


Admiral James D. Horner bebte.
Von der stolzen Flotte, mit der er aufgebrochen war, die ihm von ihrer Majestät, der Königin von England, anvertraut worden war, waren nur noch ein Schwerer Kreuzer und die beiden Flugzeugträger übrig, wobei der andere Träger steuerungslos auf dem Ozean dümpelte, sein aufgerissenes Deck ein einziges Feld der Verwüstung. Und um die \'Over the Rainbow\' war es auch nicht gerade gut bestellt, das Schiff hatte starke Schlagseite, nicht nur, daß dieser ver-dammte Riesenfisch eine mächtige Delle in die Hüllenpanzerung geschlagen hatte, es hing auch der rote Riesenroboter dieses verfluchten Mädchens an seinem Schiff wie eine Klette, dessen Pilotin auf keinen Funkanruf antwortete. Die Göre hatte selbst einen der Kreuzer versenkt und war in seinen Augen für den Zustand auf dem anderen Flugzeugträger verantwortlich. Der Ge-danke, daß die Royal Navy den Vereinten Nationen und NERV die Rechnung dafür präsentie-ren würde, gab ihm keine Genugtuung. Im Wasser schwammen die Überlebenden der versenk-ten Schiffe, auch der andere Träger würde geräumt und in Schlepp genommen werden müssen, die japanische Marine war bereits informiert und unterwegs, um Hilfeleistung zu bringen.
Horner wollte gar nicht wissen, wieviele es Tote auf den Schiffen gegeben hatte, wieviele Ver-letzte, und wieviele dieser Verletzten den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben wür-den...
5. Zwischenspiel

Schlagartig war er wieder da.
Dunkelheit wich Licht, als seine künstlichen Augen die Arbeit wieder aufnahmen.
Geräusche drangen an sein Ohr, wurden von seinem zerebralen Corteximplantat zu Worten übersetzt.
Das Gefühl kehrte in seine Gliedmaßen zurück, als die größtenteils künstlichen Nervenenden stimuliert wurden.
Der Steuercomputer seiner kybernetischen Implantate und Prothesen checkte selbige durch, er-mittelte Fehlerquellen und erstellte Diagnosen.
Demnach war er zu 100% einsatzbereit.

Der Raum, in dem er sich befand, war eine der Werkstätte unter dem ODIN-Hauptquartier, um genau zu sein handelte es sich um den Arbeitsplatz von Commander Nicklas Decker, der für die Computeranlage HEIMDALL zuständig war, welche die Einsätze der Agenten des Ge-heimdienstes koordinierte, Informationen miteinander abglich und Strategien vorschlug.
Er lag auf einem Tisch, über ihm befanden sich mehrere große Lampen.
Er wollte aufstehen, stellte aber fest, daß sein Körper nicht reagierte.

Das Diagnoseprogramm vermeldete, daß seine Gelenke immer noch blockiert waren, ebenso daß das PPOPHET-Schädelimplantat offenlag und mit dem ODIN-Hauptrechner verbunden war.

Zwei Gesichter tauchten in seinem Blickfeld, Commander Decker und Direktor Rabinowitz..

\"Commander Larsen, können Sie mich verstehen?\" fragte der Direktor.

Er versuchte, die Lippen zu bewegen. Sein künstlicher Kehlkopf formte rauh klingende Silben.
\"Ja. Ich. Verstehe. Sie.\"

Rabinowitz wandte sich an Decker.
\"Remodulieren Sie die Sprachausgabe.\"

\"Schon dabei, Sir. - Versuchen Sie es noch einmal, Commander!\"

Larsen versuchte zu schlucken, erinnerte sich im gleichen Augenblick, daß er längst keinen Speichel mehr besaß, daß sein künstlicher Sprachapparat dies nicht benötigte.
\"Was ist geschehen?\"
Diesesmal klang es besser, natürlicher. Noch lange nicht so wie seine eigene Stimme, wie seine Stimme vor dem Impact, aber das würde der künstliche Kehlkopf ohnehin niemals schaffen.

\"Wir haben glücklicherweise Spenders falsches Spiel durchschaut. Sie können sich bei Com-mander Decker bedanken, er hat darauf bestanden, ihre Erinnerungsprotokolle abzurufen, so daß wir erfuhren, was wirklich gespielt worden war.\"

\"Danke, Nick. Sie haben... meine Erinnerungen durchleuchtet?\"

\"Nur die relevanten, keine Sorge. Ich habe mich bemüht, um ihre Intimsphäre einen weiten Bo-gen zu machen.\"

\"Wie...\"

\"HEIMDALL hat ihr Interface angezapft und darüber Zugriff auf ihr Gedächnis genommen.\"

\"Was ist mit Spender? Konnten Sie ihn aufhalten?\"

\"Ja. Er ist tot\", erklärte Rabinowitz. \"Wir konnten ihn stoppen, ehe er HEIMDALLs Kom-mandocodes auf sich allein verschlüsseln konnte, er wurde auf der Flucht erschossen.\"

\"Ah...\"

\"Im Nachherein muß ich sagen, daß er alles sehr raffiniert durchdacht hatte... aber er hat eben nicht mit Herrn Deckers Hartnäckigkeit gerechnet.\"
Der frühere MOSSAD-Leiter kratzte sich am Kinn.

\"Warum kann ich mich nicht bewegen?\"

\"Das sind noch Auswirkungen der Notabschaltung. Ich wollte Sie erst aufwecken und sehen, wie Ihr Gehirn das ganze überstanden hat, bevor ich weiter am Corteximplantat herumbastele.\" meldete sich Nick Decker von außerhalb seines Blickfeldes.

\"Ich glaube, ich bin in Ordnung. Wie lange war ich weg?\"

\"Fast zwei Wochen. Am Anfang sah es recht kritisch aus, aber wie es scheint, habe ich die Le-bensversorgung der Hirnkapsel rechtzeitig wieder in Gang bekommen.\"

\"Und mein Körper?\"

\"Ich sagte doch - ich arbeite daran.\"

Rabinowitz räusperte sich.
\"Hören Sie, Commander, sobald Herr Decker Sie wieder auf die Beine gebracht hat, wartet ein neuer Auftrag auf Sie.\"

\"Natürlich höre ich, kann ja schlecht weglaufen, oder?\"

\"Sie werden nach Japan reisen, nach Tokio-3. Dort werden Sie einen Brückenkopf errichten, von dem aus unsere Teams gegebenenfalls in das NERV-Hauptquartier eindringen können, sollte es die Situation erzwingen. Ich bin inzwischen auf dem Laufenden, was die Gruppe na-mens SEELE betrifft, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir sie nicht wirken lassen können, auch wenn ich skeptisch bin, was die Verwirklichbarkeit ihrer Ziele anbelangt. Wir sollten jedoch kein Risiko eingehen. Sie werden ferner nach Mittel und Wegen suchen, wie Sie in die sogenannte Geofront und das NERV-HQ allein eindringen können, um den Oberbefehls-haber, Gendo Ikari, zu eliminieren. Bezüglich letzterem werden Sie jedoch einen entsprechen-den Befehl abwarten, der kommen wird, sobald wir erfahren, daß SEELE zur Ausführung ihres Planes schreitet. Wir rechnen damit, daß es soweit sein wird, sobald der letzte der Engel von NERV aufgehalten wurde.\"

\"Verstanden. Ich werde Ihre Anweisungen ausführen, sobald ich dazu in der Lage bin.\"

\"Gut, Commander.\"

\"Geduld, Geduld\", seufzte Decker. \"Ich kann doch nicht zaubern... ein wenig wird\'s noch dau-ern. Vor allem werde ich Ihre sensorische Wahrnehmung wieder abschalten müssen, wenn ich an Ihrem Corteximplantat arbeitete - und sicherheitshalber versetzte ich Sie wieder in einen künstlichen Tiefschlaf, möchte schließlich nicht, daß sie sich später daran erinnern, wie ich in Ihrem Kopf herumgewerkelt habe. - Wenn Doktor Naoko Akagi noch am Leben wäre, könnte sie das sicher schneller und besser erledigen.\"

\"Sie machen mir richtig Mut, Commander Decker\", murmelte Larsen. \"Moment... was ist mit Asuka?\"

Rabinowitz tauchte wieder in seinem Blickfeld auf.
\"Sie wurde von NERV nach Japan beordert, eigentlich müßte sie innerhalb der nächsten Stun-den dort eintreffen.\"

\"So... ich hätte ihr gerne... aber wenn sie in Japan ist, werde ich sie sicher bald wiedersehen.\"

\"Commander, ich weiß nicht, ob das so klug wäre. Es würde Ihren Einsatz unverhältnismäßig gefährden.\"

\"Ja... ich verstehe... Und wie geht es meiner Frau?\"

Der Direktor machte ein betretenes Gesicht.
\"Sie ist vor einer Woche verstorben, ohne das Bewußtsein zurückerlangt zu haben. Es tut mir sehr leid.\"

Larsen schloß die Augen.
\"Decker, würden Sie bitte... fangen Sie an.\"

\"Ja, Commander Larsen.\"

Und er versank wieder in Dunkelheit.


*** NGE ***


Cedrick nickte mit unverhohlener Begeisterung.
\"Das ist großartig, wirklich, sehr gut.\"

Sergej zuckte mit den Schultern.
\"Hauptsächlich das Werk der MAGI, von mir stammte nur der Dialog. Die Bilder wurden von den moskoviter Rechnern hergestellt.\"

\"Dennoch, ich bin immer wieder stark beeindruckt von den Möglichkeiten. Und er wird sich auch an diese Bilder erinnern?\"

\"Sobald er aufwacht, genau. Ebenso wie das Attentat auf Sie Teil seiner Erinnerungen sein wird. Er wird nicht versuchen, mit dem Hauptquartier Kontakt aufzunehmen, er wird auch nicht bei seiner Frau anrufen wollen... er wird nur auf den Befehl warten, diesen Ikari zu töten, schließlich wurde er dazu ja gewisserweise geschaffen.\"

\"Gut. Wenn Ikari sich wirklich von SEELE abwenden sollte, wie einige von uns befürchten, unterzeichnet er damit sein Todesurteil...\"
Kapitel 20 - Second Children

Shinji hatte in der letzten Nacht so gut geschlafen, wie selten zuvor in seinem Leben, obwohl es ihm schwergefallen war einzuschlafen. Selbst am nächsten Morgen glaubte er noch, Reis Lippen auf seiner Wange zu spüren. Pfeifend schwang er sich schließlich auf sein neues Fahr-rad und fuhr zur Schule in der Gewißheit, das Mädchen, welche ihn sogar bis in seine Träume verfolgt hatte, dort wiederzusehen.


*** NGE ***


Rei hingegen hatte an diesem Morgen unerwarteten Besuch gehabt - sie war gerade soweit gewesen, ihr Apartment zu verlassen, um zur Schule zu gehen, als es laut und ungeduldig an der Tür klopfte.
Vielleicht war das Shinji-kun, der sie abholen wollte...
Nein, Shinji-kun hätte ganz sicher anders geklopft, nicht so fordern und... befehlend...
Sie öffnete die Tür.

Auf dem Korridor standen drei Männer, zwei davon trugen dunkle Anzüge und Sonnenbrillen, die Ausweise, welche sie am Revers ihrer Jacken trugen, wiesen sie als Angehörige des NERV-Sicherheitsdienstes aus. Bei dem dritten Mann handelte es sich um niemand anderen als Gendo Ikari.

Rei trat automatisch einen Schritt zurück.
Was wollte der Kommandant bei ihr, noch dazu zu dieser Zeit?
Sein Gesicht war wie üblich regungslos, verriet keinen seiner Gedanken.
\"Kommandant?!\"

Der bärtige Mann nickte seinen Begleitern zu.
\"Warten Sie auf mich.\"
Dann schob er sich an Rei vorbei in die Wohnung und schloß die Tür.

Nur kurz flackerte in ihr der Gedanke auf, daß sie ihn nicht eingeladen hatte, ihre Räume zu betreten. Allerdings war er der Kommandant, ihr Schöpfer, sein Wort war Gesetz.

Ikari blickte sich kurz in der Wohnung um, nahm die verstreuten Bandagen und die allgegen-wärtige Unordnung zur Kenntnis.
Rei-II hatte also immer noch nichts an ihren Lebensumständen geändert... gut... sie sollte funk-tionieren, gerade gut genug, damit kein Verdacht bezüglich ihrer wahren Herkunft aufkam. Alles weitere wäre unerwünscht gewesen... ein zu menschlicher Klon hätte seine Pläne gefähr-det. Er wollte sie nicht jetzt schon ersetzen müssen, nicht in diesem frühen Stadium.
\"Rei, ich habe erfahren, daß du gestern bei Captain Katsuragi warst, um an einer... Party... teil-zunehmen.\"
Er spie das Wort \'Party\' aus, als handle es dabei um etwas unanständiges.

\"Ja, Kommandant.\"
Rei schluckte.
Was hatte sie falsch gemacht?
Was hatte sie getan, das dem Kommandanten mißfiel?
Daß sie auf Shinji-kuns Geburtstagsfeier gegangen war?

\"Etwas derartiges wird sich nicht wiederholen.\"
Rei-II durfte keinen näheren Kontakt mit anderen Menschen haben, es könnte seine Kontrolle über sie in Frage stellen...

\"Ich... Ja, Kommandant.\"

\"Gut. Mir wurde ferner mitgeteilt, daß du das Third Children... geküßt hättest...\"

\"Das ist... korrekt, Kommandant. Ich habe Shinji-kun auf die Wange geküßt.\"

Shinji-kun...
Gendo Ikari unterdrückte einen Fluch.
Daß er Rei-II benutzt hatte, um seinen Sohn dazuzubringen, Einheit-01 zu steuern, war eine Sache, doch er hatte niemals beabsichtigt, daß sein Sohn und der Klon einander näherkamen.
\"Auch das wird sich nicht wiederholen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?\"

Seine Worte zehrten an ihrem Herzen.
Sie hatte etwas falsch gemacht, hatte ihn enttäuscht, hatte ihren Schöpfer enttäuscht.
Dabei hatte sie doch nur Shinji-kun nahe sein wollen...
\"Ja, Kommandant.\"

\"Gut. Du wolltest zur Schule?\"

\"Ja.\"

Ikari nickte.
\"Dann geh. Heute nachmittag wird ein Update des DummyPlugs durchgeführt.\"

\"Ja, Kommandant.\"
Sie ergriff ihre Tasche und verließ die Wohnung, gefolgt von dem Kommandanten, der sie kei-nes weiteres Blickes würdigte.


*** NGE ***


Shinji betrat den Klassenraum, sah sich um.
Rei saß bereits an ihrem Platz, blickte aus dem Fenster. Doch ihr Gesicht schien ihm nicht so ruhig und ausdruckslos wie gewöhnlich, sondern irgendwie bekümmert.
Was war mit ihr?
Ging es ihr nicht gut?
Shinji ging geradewegs zu ihr.
\"Hallo, Rei.\"

Sie blickte nicht zu ihm auf.
\"Hallo, Shinji-kun.\" antwortete sie leise.
Einerseits ließ seine Nähe ihr Herz schneller schlagen, andererseits dachte sie an die Worte des Kommandanten.

\"Rei, stimmt etwas nicht?\"
Besorgt stellte Shinji die Tasche ab und ging vor Reis Pult in die Hocke, um ihr ins Gesicht se-hen zu können.

\"Nein, alles ist... ordnungsgemäß.\"
Wie hohl... wie leer...
Sie fror.

\"Ich sehe doch, daß etwas nicht in Ordnung ist...\"

Rei sah nach draußen.
Irgendwo in den umliegenden Gebäuden hielten sich die Angehörigen des Sicherheitsdienstes auf, die ihr als Leibwächter zugeteilt worden waren, sechs Personen insgesamt, die sie auf Schritt und Tritt beobachteten... oder beobachten sollten, denn sie konnte sich nicht sicher sein, ob die Überwachung wirklich lückenlos war. Allerdings beobachteten sie wahrscheinlich gera-de jetzt, was sie tat, um es an den Kommandanten weiterzumelden.
\"Shinji-kun, ich darf es dir nicht sagen.\"

\"Was sagen, Rei?\"

\"Daß...\"
Sie preßte die Lippen zusammen.
Ihre Hand tastete über die Tischplatte, fand die seine, mit der er sich festhielt, berührte sie kurz.
\"Geh zu deinem Platz... bitte... es geht mir gut.\"

\"Rei...\"

\"Ich darf nicht...\"

Shinji riß die Augen auf.
Rei durfte nicht...? Durfte nicht was? Was hatte man ihr verboten? Und wer hatte es ihr verbo-ten? Eigentlich kam nur eine Person in Frage...
\"Was hat mein Vater dir verboten?\"

Rei zögerte.
Wie sollte sie es Shinji-kun erklären?
Dann überlegte sie, ging die Befehle des Kommandanten noch einmal durch.
Sie durfte keiner weiteren Geburtstagsfeier bei Captain Katsuragi teilnehmen... gut, Shinji-kuns nächster Geburtstag würde erst in einem Jahr stattfinden.
Und sie durfte ihn nicht wieder auf die Wange küssen... doch das schloß andere Stellen nicht aus... andererseits... sie wußte genau, daß der Befehl anders gemeint gewesen war, daß sie je-den körperlichen Kontakt mit Shinji-kun unterlassen sollte... aber das hatte der Kommandant nicht gesagt... ihr ging auf, daß sie zum ersten Mal seit Beginn ihrer Existenz einen Befehl nicht nur in Frage zog, sondern sogar zu interpretieren begann... noch dazu einen Befehl des Kommandanten!
\"Shinji-kun, der Kommandant war nicht damit einverstanden, daß ich zu deiner Überra-schungsparty gegangen bin.\"

\"Mein Vater... war... nicht... einverstanden?\" echote Shinji und fühlte sich, als hätte er einen Tritt in die Eingeweide erhalten.
\"Was kümmert es ihn? Er selbst konnte gar nicht kommen, mit welchem Recht will er...\"
Shinji schnappte nach Luft, war hochrot angelaufen, doch nicht vor Verlegenheit, sondern vor Wut.

\"Er ist der Kommandant. Ich... ich hätte ihn vorher informieren müssen.\"

\"Und du gehorchst ihm...\" flüsterte Shinji. \"Gehorchst ihm blind, nach allem, was wir durchge-macht haben...\"
Er blinzelte heftig, als er spürte, wie seine Augen feucht wurden.
\"Ich dachte... du wärst meine Freundin...\"

Er ergriff seine Tasche und stürmte aus dem Raum, seine gute Laune war verflogen, hatte Ver-bitterung Platz gemacht, Verbitterung über seinen Vater, der ihm wieder einmal einen Men-schen wegnahm, der ihm etwas bedeutete...


*** NGE ***


Tief im Herzen der Geofront, unter dem pyramidenförmigen Hauptquartier von NERV, wel-ches die Bezeichnung CentralDogma trug, lagen die Tiefgeschosse des Hauptquartiers, welche als TerminalDogma bezeichnet wurden. Der Zugang in diese Bereiche war nur einer Handvoll Menschen erlaubt.

Gendo Ikari verließ seinen persönlichen Aufzug, der ihn aus seinem Büro in die geheimen An-lagen gebracht hatte. Ein schmaler Korridor, der nur ihm zugänglich war, erstreckte sich vor ihm. Zu beiden Seiten gingen Türen ab.
Er öffnete die dritte Tür auf der rechten Seite, betrat ein Labor.

In der Mitte des Raumes stand ein durchsichtiger Glaszylinder, der mit LCL gefüllt war. Und in dem Zylinder befand sich Rei-II. Der Klon hatte die Augen geschlossen, er war nackt.
Um das Mädchen herum stiegen Bläschen auf.
Ikari betrachtete Rei-II. Wenn sie die Augen geschlossen hatte, glich sie Yui fast aufs Haar. Yui Ikari, seine verstorbene Frau, deren Namen er angenommen hatte, um seine Strafakte, wel-che auf seinen Geburtsnamen Rokubungi lautete, loszuwerden. Yui, welche die Grundlagen des Synchronisationsprozesses entwickelt hatte, die aus dem Gewebe der Engel ADAM und LILITH die Basis-DNA der EVAs geklont hatte, Yui, die während des ersten wirklichen Test-laufes des EntryPlug-Systems von EVA-01 derart komplett absorbiert worden war, daß nur ein paar fast unbrauchbare DNA-Stränge übriggeblieben waren, die jedoch ausgereicht hatten, das Äußere der Klone zu stabilisieren... Yui, die er geliebt, aber dennoch aus dem Weg hatte schaf-fen müssen, als sie zuviel über seine Pläne in Erfahrung gebracht hatte... ein notwendiges Opfer, ebenso wie Naoko Akagi... ebenso wie er bereit war, jeden Menschen unter seinem Kommando zu opfern, um sein Ziel zu erreichen... ein Gott zu werden...
Ja, der Klon ähnelte Yui stark... und er gehörte ihm, er würde nicht zulassen, daß Rei-II Ge-fühle für einen anderen Menschen entwickelte, sie mußte ihm bedingungslos gehorchen... an-dernfalls mußte sie ersetzt werden!
Und damit es dabei nicht zu allzu großen Verlusten kam, wurde ihr Gedächnis in regelmäßigen Abständen in die Anlagen des DummyPlugs kopiert, mit dem sie sich in Synchronisation be-fand. Von dort aus konnten ihr Wissen und ihre Erfahrungen bei Verlust eines Klons jederzeit binnen vierundzwanzig Stunden in einen anderen Klon übertragen werden.
Er ließ den Blick über den nackten Klon wandern.
Die Rei-Klone waren perfekt, entsprachen genau seinen Vorgaben...

\"Die Übertragung ist fast abgeschlossen\", erklang eine Stimme in Ikaris Rücken.
Ritsuko... warum hatte sich die Schlampe anschleichen müssen?
Ikaris ausgeprägte Selbstbeherrschung verhinderte, daß er zusammenzuckte. Ohne den Blick abzuwenden, um Akagi mit Mißachtung zu strafen, nickte er.

Ritsuko Akagi konnte ein dünnes Lächeln nicht verkneifen, während sie auf den Monitoren den Datenstrom verfolgte, der über die Synchronverbindung in den DummyPlug gelangte. Deutlich waren die Abweichungen zu erkennen, welche auf das Vorhandensein von Emotionen bei Rei hindeuteten, doch die MAGI-Rechner schlugen nicht Alarm, dafür hatte sie gesorgt.
Mit einem einfachen Tastendruck überschrieb sie die alten Daten mit den aktuellen, löschte zu-gleich frühere Protokolle. Jetzt gab es nur noch die jetzigen Daten und die Grunddaten, die ko-piert worden waren, nachdem Rei die Reifungskammer verlassen hatte... Daten, welche nicht ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit den EVANGELIONs beinhalteten. Sollte Gendo sich entschließen, Rei mit einem anderen Klon zu ersetzen, würde er sich entscheiden müssen zwi-schen einem Klon, der über Gefühle verfügte und einen, der nicht in der Lage war, einen EVA zu steuern, ohne vorher ein gutes halbes Jahr ausgebildet worden zu sein...
Weitere Tastendrücke verschleierten die Spuren ihrer Handlungen.

In der Kapsel öffnete Rei die Augen.
Sie spürte, wie die Verbindung zum DummyPlug-System langsam schwächer wurde, wie die Synchronisation heruntergefahren wurde.
Der Kommandant stand vor dem Zylinder und sah sie an...
Rei wurde kalt, eiskalt...
Sein Blick galt nicht ihr, sondern allein ihrem Körper...
Warum sah er sie so an?
Wollte er sichergehen, daß sie keine körperlichen Makel aufwies? Daß ihre Verletzungen ver-heilt waren?
Aber warum schien es ihr dann so, als drücke sein Blick Begehren aus?
Er sollte aufhören, sie so anzublicken!
Sie war kein Objekt, sie war ein Mensch!
Ihr Magen revoltierte...
Endlich wandte er sich ab.
Ob er etwas bemerkt hatte?
Nein, dazu hatte sie ihre Mimik viel zu gut im Griff, sogar besser noch als er...
Und wenn sie sich irrte? Der Kommandant konnte kein Interesse sexueller Art an ihr haben, das war völlig ausgeschlossen... er war ihr Schöpfer, er war... er mußte über soetwas erhaben sein!

Ikari runzelte leicht die Stirn, nachdem er grußlos das Labor verlassen hatte.
Hatte der Klon eben merkwürdig reagiert, als er ihn gesehen hatte? Hatte in den Augen von Rei-II ein Anflug von Angst gelegen?
Eigentlich unmöglich. Die Rei-Klone waren nicht geschaffen worden, um selbständig zu den-ken, um Furcht zu verspüren... und wenn... solange sie ihn nur fürchtete... Furcht machte ge-horsam...

Ritsuko Akagi atmete auf, als Gendo den Raum verließ.
\"Rei, du kannst die Synchronkammer gleich verlassen.\"
Sie drehte an einem Ventil. Das LCL im Glaszylinder lief ab.
\"So... Warte...\"

Tropfendnaß stieg Rei auf der Kapsel.
Der Boden war kalt unter ihren bloßen Füßen.
Der Kommandant... er sah nicht sie... er sah die Person, deren Gesicht sie hatte...

\"Hier.\"
Akagi reichte ihr einen Bademantel.
\"Zieh den über.\"

Mechanisch befolgte sie die Anweisung.
Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, das kurze Stück zwischen der Kapsel und dem Dusch-raum auf der anderen Seite des Korridors unbekleidet zurückzulegen, doch jetzt verspürte sie eine seltsame Dankbarkeit, sich bedecken zu können.

\"Rei, die Übertragung ist komplikationslos verlaufen. Alles, was du heute bist, all das ist gesi-chert, egal, was morgen geschieht.\"

Wie meinte der Doktor das?
Alles was sie heute war...
Was sie heute war...
Sollte sie ersetzt werden, dann... dann waren ihre Erinnerungen an den gestrigen Tag gerettet, würde sie diese auch in ihrer nächsten Existenz besitzen... sie würde Shinji-kun nicht verges-sen, auch nicht die Gefühle, welche sie für ihn verspürte...
Mit ihren Worten hatte der Doktor ihr ein besonderes Geschenk gemacht, das Geschenk der Hoffnung...
Ihre Gedankengänge wurde unterbrochen, als die Computeranlage an der Wand schrille Piep-töne von sich gab.

Ritsuko zuckte zusammen.
Die MAGI gaben Alarm!
Ein Blick auf den Bildschirm verriet ihr, daß die Supercomputer, welche ihre Mutter entwickelt hatte, einen Engel geortet hatten.
\"Rei, schnell, nach oben und in die PlugSuit! Sollte Shinji nicht rechtzeitig hiersein, schreibe ich die Steuerung von EVA-01 auf dich um!\"

\"Ja.\"
Rei eilte davon, ihre nackten Füße erzeugten auf dem Fliesenboden des Labortraktes ein rhyth-misches Patschen.


*** NGE ***


Mit gehetztem Gesichtsausdruck rannte Shinji in die Umkleidekabine.
Hätte er auf die Uhr gesehen, hätte er feststellen können, daß er den Weg von Misatos Apart-ment in die Geofront, zum Hauptquartier und zum Hangarbereich in Rekordzeit zurückgelegt hatte. - Ohne das ausgeklüngelte Frühwarnsystem der MAGI hätte all dies jedoch kaum etwas genützt, da auch alle Expreßaufzüge und -bahnen unter günstigsten Umständen immer noch fünfzehn Minuten für die Strecke brauchten.
Die Tür war hinter ihm noch nicht zugefallen, da hüpfte er schon in einem halbbekleideten Zu-stand auf einem Bein herum und kämpfte mit seiner Hose, faßte dabei im Stillen den Vorsatz, künftig definitiv immer erst die Schuhe auszuziehen.
Der Bademantel, der achtlos hingeworfen auf der anderen Bank vor Reis Spind lag, fiel ihm gar nicht auf.
Die Sachen landeten einfach in seinem Spind, wo die zusammengelegte PlugSuit im obersten
Fach darauf wartete, zum Einsatz zu kommen.
Er stand spitternackt vor seinem Spind und griff gerade nach der PlugSuit, als die Tür zum angegliederten Waschraum geöffnet wurde.

\"Iiiek!\" stieß Shinji hervor, als er sich unvermittelt Rei gegenübersah, die sich in einem ähnli-chen Zustand von Bekleidetheit befand wie er.
\"Argh... Rei...\"
Seltsamerweise machte es ihm nichts aus, von ihr so gesehen zu werden, allerdings war es ihm peinlich, sie so zu sehen, vor allem, da sein Körper auf den Anblick entsprechend reagierte.

\"Shinji-kun.\"
Rei zögerte. Etwas hielt sie davon ab, einfach ihre PlugSuit anzuziehen.
Wenn sie nicht noch rasch geduscht hätte, um die LCL-Rückstände herunterzuspülen, ehe sie die Suit anzog, hätte sich diese Situation vermeiden lassen... dabei verspürte sie im Gegensatz zu vorhin, als der Kommandant sie gesehen hatte, keine Scham, nicht Shinji-kun gegenüber.
Allerdings war ihr klar, daß es ihm wieder peinlich sein würde, sie nackt gesehen zu haben... ja, er lief bereits rot an, versuchte, sein Geschlechtsorgan mit den Händen zu verbergen, welches ein Eigenleben zu entwickeln schien.
\"Ich...\"
Sie wollte nicht, daß er sich ihretwegen schämte.
Rasch griff sie nach der Tür ihres Spinds und holte die PlugSuit hervor, huschte wieder in den Waschraum zurück.
\"Ich bin gleich fertig.\"
Ihr war ganz heiß...

\"Uh... uh... uh... ja...\"
Sie brauchten wirklich getrennte Umkleideräume...


*** NGE ***


Die angelaufenen Startvorkehrungen wurden auf Anweisung Gendo Ikaris unterbrochen.
Die Piloten wurden in einen Besprechungsraum beordert, wo Misato, Ritsuko und Subcom-mander Fuyutsuki bereits auf sie warteten.
Kozo Fuyutsuki saß zurückgelehnte in seinem Stuhl, überließ das Feld gänzlich dem leitenden taktischen Offizier.

Shinji war froh, seinem Vater nicht zu begegnen, da er immer noch stinksauer auf ihn war.
Rei teilte Shinjis Einstellung, wenn auch aus anderen Gründen.

\"Uhm, war es ein Fehlalarm?\" fragte Shinji in Richtung Misato.

Diese schüttelte den Kopf.
\"Nein. Aber der Engel befindet sich außerhalb unserer Reichweite, um genau zu sein, hat er ein Ziel auf dem Meer attackiert.\"

\"Auf dem Meer?\"

Rei ahnte, worum es ging.
Ihren Informationen nach sollte das Second Children mit Einheit-02 in Bälde in Japan eintref-fen. Aber warum sollte ein Engel einen Angriff auf einen EVA starten? Das, was sie suchten, befand sich schließlich im TerminalDogma tief unter ihren Füßen...

Misato schaltete einen großen Bildschirm ein.
\"Das hier ist eine Aufzeichnung, die wir über Satellit gemacht haben, die MAGI haben sie et-was aufbereitet. Schaut es euch an.\"

Zu sehen waren zunächst zwei große Schiffe, die sich in Begleitung von fünf kleineren befan-den. Dann tauchte ein dunkler Schatten unter der Wasseroberfläche auf und zerfetzte zwei der Begleitschiffe.
Auf einem der großen Schiffe, einem Flugzeugträger, entstand Bewegung.
Das Bild zoomte heran.
Unter einer Abdeckung erschien ein roter Gigant, unter dessen Bestrebungen aufzustehen das Schiff ins Wanken kam.

\"Das ist ja ein EVA...\" flüsterte Shinji und sah zur Seite, blickte Rei fragend an.

Ohne den Kopf zu bewegen erwiderte sie seinen Blick.
\"Ja. Einheit-02.\"

\"Was...\"

\"Fragen am Ende, jetzt kommt der gute Teil!\" erklärte Misato.

Aus dem Wasser schoß ein riesiger Fisch auf den EVA zu, welcher ihn packte und auf das Deck des Schiffes schleuderte, dieses dabei fast auseinanderriß. Der Fisch war riesig, viel grös-ser als der rote EVA, welcher daneben wie ein Zwerg wirkte.

\"Das ist der Engel.\"

Der Fischengel fegte den EVA von den Beinen und über Bord, folgte ihm dann.
Das Wasser schäumte auf, kurz darauf kam der rote EVA wieder an die Oberfläche, flog direkt durch eines der Begleitschiffe hindurch.
Wieder verlagerte sich der Kampf ins Wasser, die Kämpfenden wurden zu zwei dunklen Flek-ken, waren schließlich nicht mehr zu sehen.
Das Schiff, welches der EVA getroffen hatte, versank derweil langsam.

Shinji hielt den Atem an.
Der rote EVA war nicht wieder aufgetaucht... seine Akkus mußten inzwischen erschöpft sein... hatte der Engel gewonnen?

Dann brodelte das Wasser wieder, eine Fontäne jagte in den Himmel, die verbliebenen Schiffe kämpften plötzlich mit starkem Wellengang.

Rei nickte unmerklich.
Der Engel war zerstört worden, dem Sephiroth nach mußte es sich um Gaghiel gehandelt ha-ben...

Misato schaltete auf schnellen Vorlauf, ging aber sofort wieder auf Normalgeschwindigkeit, als eine rote Hand die unruhige Wasseroberfläche durchbrach und sich in das Deck des zweiten Flugzeugträgers krallte.
Dann beendete sie die Vorführung.
\"Um gleich ein paar Dinge vorwegzunehmen: Bei dem roten EVANGELION handelt es sich um die in Deutschland in der dortigen NERV-Zweigstelle hergestellte Einheit-02, das erste Se-rienmodell. NERV hat es unter strenger Geheimhaltung mittels eines UN-Konvois nach Japan bringen wollen. Anscheinend ist der Feind jedoch darauf aufmerksam geworden. Der Angriff ist jedoch gescheitert, die Vernichtung des Engels wurde von den MAGI inzwischen bestätigt. Der EVA selbst wurde nicht beschädigt.
Bei der Pilotin handelt es sich um das Second Children, ihr Name ist Asuka Soryu Langley aus Deutschland, sie wird im Laufe des morgigen Tages hier eintreffen.
So, Fragen?\"

Shinji hob die Hand, kam sich im gleichen Moment reichlich dämlich vor, schließlich waren sie nicht in der Schule.
\"Uhm, wie ist sie so, diese Asuka Soryu... ahm...\"
Wie konnte jemand nur einen derart langen Namen haben...

\"Langley. Nun, von euch ist sie wohl die am ehesten ernstzunehmende.\" warf Akagi ein.

Rei blinzelte.
Was sollte das bedeuten?
Natürlich, die Synchronrate des Second Children war höher als Shinji-kuns, der wiederum bes-ser war als sie selbst, doch was hatte das damit zu tun, ob jemand von ihnen ernstzunehmen war?

\"Häh?\"

Offenbar hatte Shinji-kun ähnliche Gedanken...

\"Nun, sie war auf einer Begabtenschule, wo sie bereits einen Oberschulabschluß gemacht hat. Dazu kommen eine zehnjährige Ausbildung bei NERV und eine Scharfschützenausbildung.\"

\"Zehn Jahre... kein Wunder, daß sie ihren EVA so gut unter Kontrolle hat... diese schnellen Bewegungen...\"

Reis linke Augenbraue wanderte einen Millimeter nach oben.
Warum lag in Shinji-kuns Stimme Bewunderung? Er kannte die andere Pilotin doch gar nicht...

\"Krisenmanagement, Urteilsvermögen, Steuertechnik - alles perfekt.\" faßte Ritsuko die Ein-drücke zusammen.

Reis andere Augenbraue hob sich ein Stückchen.
Gut, das Second Children hatte ausgezeichnet reagiert und den Engel vernichtet, dabei aber ei-ne erhöhte Risikobereitschaft an den Tag gelegt. Und was die Kontrolle über den EVA anging - die Serienmodelle verfügten diesbezüglich über Eigenschaften, welche sowohl dem Prototyp, wie auch dem Testmodell fehlten. Wenn Shinji-kun näheres aus der Akte des Second Children bekannt gewesen wäre, hätte er sich nicht derart bewundernd geäußert.

\"Wir erwarten Asuka für übermorgen im Hauptquartier, dann stelle ich sie euch vor.\"
Misato schaltete den Bildschirm ab, der bis dahin immer noch ein Standbild gezeigt hatte.

Shinji und Rei verließen den Besprechungsraum und kehrten in die Umkleidekabine zurück.
Beide standen vor ihren Spinden, die Hände an den Dekompressionsschaltern ihrer PlugSuits, und blickten sich betreten an.

\"Uh... ahm... Rei, ich warte draußen, bis du fertig bist...\" stotterte Shinji und wandte sich der Tür zu.

\"Das ist nicht nötig, Shinji-kun. Es macht mir nichts aus.\"

Shinjis Mund wurde trocken, als ihre Worte sein Gehirn erreichten.
Das konnte sie doch nicht ernst meinen...
\"Ah...\"

\"Aber wenn es dir peinlich ist, gehe ich in den Waschraum, um mich umzuziehen.\"

\"Uhm... nein... bleib hier... uh... ich meine... ich gehe in den Waschraum... und... ah... ich kom-me auch nicht raus, bevor du mir sagst, daß du fertig bist.\"
Damit raffte er seine Sachen zusammen und verschwand im Nebenraum.
Raus aus der PlugSuit, rein in seine Unterwäsche, dann in seine Hosen, das Hemd übergestreift und zugeknöpft...

\"Ich bin soweit, Shinji-kun.\" hörte er Reis leise Stimme.

\"G-gut, ich komme.\"
Die PlugSuit unter dem Arm, seine Schuhe und eine Socke in der anderen Hand, hüpfte er auf einem Bein in die Umkleidekabine und ließ sich auf die Bank fallen.

Rei saß ihm gegenüber in ihren Alltagssachen, die Hände im Schoß gefaltet, und sah zu, wie er seine Socke über den Fuß zog.
Jeder andere seines Alters hätte wahrscheinlich sabbernd die Gelegenheit ergriffen, ihr beim Umziehen zuzusehen, doch nicht ihr Shinji-kun...
Innerlich lächelte sie bei dem Gedanken, auch wenn ihre Lippen starr blieben.
Irgendwie tat ihr der Respekt, mit dem er ihr begegnete, gut.

\"Sag mal, Rei... wußtest du, daß es noch weitere EVAs gibt? Äh, naja, die Nummerierung macht so wohl auch mehr Sinn... und ich hatte mich auch schon gefragt, weshalb wir als First und Third Children bezeichnet werden, wenn es kein zweites gibt, aber...\"

\"Ja.\" beantwortete sie knapp seine Frage.

\"Hm...\"
Er fixierte Rei mit seinem Blick, machte prompt einen dicken Knoten in seine Schnürsenkel statt der beabsichtigten Schleife.
Was man ihr auch sagte, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht... dabei wußte er, daß sie lächeln konnte... und er hätte sie gerne zum Lachen gebracht... wie es wohl klang, wenn sie lachte?
Sie blinzelte nicht einmal...
Schließlich brach er den Blickkontakt ab und wandte seine Aufmerksamkeit seinen Schuhen zu. Das sah gar nicht gut aus...
Mit einem leisen Aufstöhnen zog er den Schuh aus und begutachtete den Knoten.
\"Das könnte länger dauern... Rei, vielleicht solltest du schon vorgehen...\"

\"Nein. Ich schätze deine Gegenwart.\"

\"Uh... ahm...\"
Sie schätze seine Gegenwart... das hieß doch, daß sie gern mit ihm zusammen war, oder?
Er konzentrierte sich auf den Knoten... wie hatte er das nur fertiggebracht...
Sie hielt sich gern in seiner Nähe auf...
Dann fiel ihr Schatten auf ihn und ihre kühlen Hände nahmen ihm den Schuh aus den Händen.

\"Zeig her.\"

\"Öh, das... naja...\"

Sie setzte sich neben ihn, wohl wissend, daß sie damit gegen den Sinngehalt der Anweisungen verstieß, die sie am Morgen vom Kommandanten erhalten hatte. Aber rein objektiv half sie doch nur einem Mitstreiter bei einem kleinen Problem... und sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und sich gegen Shinji-kun gelehnt hätte, um ihm noch näher zu sein...
Aber der Knoten war wirklich kompliziert, kaum zu glauben, daß Shinji-kun das in einem Au-genblick der Unachtsamkeit geschafft hatte... er brauchte wirklich jemanden, der auf ihn ein wenig acht gab...

\"Rei, das brauchst du nicht... ich kann auch so gehen...\"

\"Und wenn du über die Schnürsenkel stolperst und dich verletzt?\"

\"Uh...\"

Dieses Ende hier durch und jenes... der Knoten fiel auseinander.
Sie reichte ihm den Schuh.
\"Hier.\"

\"D-Danke.\"
Er nahm den Schuh von ihr entgegen, seine Finger berührten die ihren, ohne daß sie ihre Hände fortzog. Sie hatte zarte Hände, ihre Haut fühlte sich an wie Seide... bei der Berührung schienen Stromstöße durch seine eigenen Hände zu wandern.

Schließlich zog Rei die Hände fort, senkte den Blick, bemühte sich, ihre Atmung und ihren Herzschlag zu beruhigen.
Etwas unverfängliches, ja, das wäre jetzt wohl das richtige Thema.
\"Es war mir bekannt, daß auch an anderen Orten EVAs gebaut werden.\"

\"Äh... ja...?\"
Shinji blinzelte.
Welcher Zauber auch eben noch zwischen ihnen bestanden hatte, welche Magie ihn auch eben noch dazu hatte verleiten wollen, sie in die Arme zu nehmen, es war verflogen.

\"NERV hat Zweigstellen in Deutschland, China und den Vereinigten Staaten, sowie den Arabi-schen Emiraten. Dort werden die neuen Serienmodelle hergestellt und weitere Piloten ausgebil-det. Ferner verfügt NERV über Außenstellen in den wichtigeren Hauptstädten, welche mit Backup-Einheiten der MAGI-Serie ausgestattet sind. Sollte der Fall eintreten, daß das Haupt-quartier nicht mehr benutzt werden kann, besteht die Möglichkeit, in eine dieser Zweigstellen überzuwechseln.\"

\"Was du alles weißt...\"

Das klang nicht höhnisch oder von oben herab, sondern bewundernd, genauso bewundernd, wie er sich über die Pilotenfähigkeiten des Second Children geäußert hatte.
\"In der amerikanischen Zweigstelle wird zur Zeit EVA-04 fertiggestellt. In der Außenstelle in Matsushiro befindet sich EVA-03 kurz vor der Vollendung.\"

\"Das... ah... dann bekommen wir also bald Verstärkung.\"

\"Wahrscheinlich.\"

Shinji band die Schleife seines zweiten Schuhes zu und stand auf.
\"Uhm, wir können gehen.\"

Kurz darauf fuhren sie mit dem Aufzug der Oberfläche entgegen.
Die beiden lehnten in gegenüberliegenden Ecken der Liftkabine gegen die Wand und schwie-gen.

\"Diese Aufzugfahrten kommen mir immer wie eine Ewigkeit vor\", brach Shinji das Schweigen nach etwa zwei Minuten, in denen er den Satz wieder und wieder geübt hatte.

\"Der Aufzug benötigt genau vier Minuten und neunundvierzig Sekunden für die Fahrt von der Geofront an die Oberfläche.\"

\"Uh, ähm, das weißt du?\"

Sie nickte.
\"Ich habe die Zeit mitgestoppt.\"

\"Wa...\"
In seiner Phantasie stellte er sich Rei vor, wie sie mit einer Stoppuhr in der Hand im Aufzug stand. Das Bild hatte überhaupt nichts ungewöhnliches, trotzdem mußte er lachen. Ihre Erklä-rung war so herrlich normal...

Rei blickte ihn fragend an.
Warum lachte Shinji-kun? Hatte sie etwas komisches gesagt? Oder lachte er sie aus, weil es sie interessiert hatte, wieviel Zeit sie benötigte, um von ihrem Apartment in den Hangar zu gelan-gen? Jedoch klang sein Lachen nicht böse oder gehässig, sondern viel eher befreit.
\"Weshalb lachst du?\"

Schlagartig verstummte er.
\"Weil... uhm... das ist nicht so einfach zu erklären...\"
Ausweichen... er mußte ausweichen... ablenken...
\"Ahm, Rei, hast du die Hausaufgaben von heute schon fertig?\"

\"Nein.\"
Wie auch, schließlich konnte sie nicht hexen, sondern hatte fast den ganzen Nachmittag in der Synchronkammer des DummyPlugs verbracht... und war vom Kommandanten angegafft wor-den...
Da war er wieder dieser Gedanke, dieser Zweifel an der Integrität ihres Schöpfers.
Sie mußte ihn verdrängen... wenn sie dem Kommandanten nicht vertrauen konnte, wem dann? Die Antwort lag sehr nahe... und die betreffende Person hielt sich sogar in derselben Liftkabine auf wie sie... Nur gut, daß sie sich so gut unter Kontrolle hatte...

\"Dann... uh... hättest du vielleicht Lust, mit zu mir... also zu Misato zu kommen und... ahm, wir könnten die Hausaufgaben zusammen machen?\"

Sie war versucht, ja zu sagen, erinnerte sich jedoch an die Anweisung des Kommandanten, der-nach sie der Wohnung des Captains fernbleiben sollte... auch wenn die Anweisung sich eigent-lich auf Geburtstagspartys bezogen hatte... aber es war einfacher, den Befehl zu umgehen, als ihn zu ignorieren.
\"Ich schlage vor, daß wir zu mir gehen.\"

Shinji wollte protestieren.
Bei Rei war es unordentlich und chaotisch, wie sollten sie dort arbeiten können?
Andererseits hieß die Alternative wahrscheinlich, wieder allein über den Aufgaben zu brüten.
\"Hast du denn Platz?\"

\"Natürlich.\"

\"Ich meine, ahm, einen Tisch zum Arbeiten und Stühle?\"

\"In der Küche.\"

\"Ah. Hm.\"
Er nickte. Die Küche hatte er bei seinem kurzen Aufenthalt nicht gesehen... es hatte andere Dinge gegeben, die seine Aufmerksamkeit gebannt hatten...
\"Und... ahm... Arbeitsmaterialien? Ich habe meine Stifte und Hefte noch in Misatos Woh-nung...\"

\"Ich bin ausreichend ausgestattet.\"

\"Ja, dann... gut...\"

Sie erreichten die Oberfläche, stiegen in die Bahn, die in Richtung von Reis Gegend fuhr.

\"Shinji-kun... ich möchte dich bitten, mir erst in... fünf Minuten zu folgen.\" erklärte Rei, als sie an ihrer Haltestelle die Bahn verließen.
Es würde auffallen, wenn sie zusammen das Haus betraten, die Sicherheitsleute würden dies garantiert dem Kommandanten melden. Einzeln jedoch durfte es keine große Sache darstellen. Außerdem mußte sie noch etwas in ihrem Apartment fortstellen, Shinji-kun sollte nicht sehen, daß seine Handschuhe den Platz der Brille seines Vaters eingenommen hatte... noch nicht...

\"Äh, ist gut... warum?\"

\"Ich... muß noch etwas erledigen.\"

Sie wollte doch nicht etwa rasch aufräumen?
\"Ja, ich warte dann... fünf Minuten, ja?\"

Sie nickte, eilte voraus.


*** NGE ***


Ihr Apartment schien ihr mit einem Mal recht düster und kalt.
Rei zog die Jalousien hoch, drehte die Heizung auf - und hatte den Griff des Thermostats in der Hand. Mit einer resignierenden Geste legte sie den Griff auf den Heizkörper, sah sich um.
Ihre Wohnung war unordentlich... was würde Shinji-kun denken... das Apartment, welches er mit Captain Katsuragi bewohnte, war so ordentlich, sauber und freundlich... und das war sein Werk, wie der Captain am gestrigen Abend leise erklärt hatte...
Hastig sammelte sie die Bandagen ein, die seit Wochen in der Ecke lagen, stopfte sie in einen Müllsack und ließ diesen unter ihrem Bett verschwinden. Dann hob sie die ganzen herumlie-genden Papiere auf und stapelte sie vor dem Bett, zog die Bettdecke gerade, um den zerwühl-ten Zustand ihres Bettes zu verbergen.

Schon besser...
Was noch?
Die Handschuhe!
Sie zog die zweite Schublade auf, legte die Handschuhe zwischen ihre Unterwäsche, schob die Schublade wieder zu.
Ja, wirklich besser...
Und wenn sie noch einen ganzen Tag und ausreichend Putzmittel gehabt hätte, wäre wahr-scheinlich auch die Unsicherheit verschwunden, die sie gerade verspürte...

An der Tür klopfte es, nicht laut und fordernd, wie am Morgen, sondern sacht und trotzdem hörbar.
\"Rei?\"

\"Komm rein, die Tür ist offen!\"
Vielleicht sollte sie noch lüften...
Also riß sie das breite Fenster auf.
Gleichzeitig trat Shinji-kun ein und der entstehende Durchzug ließ die Papiere, welche sie zu-vor erst aufgesammelt hatte, wild durchs Zimmer fliegen.

\"Oh... ahm, das... tut mir leid!\" stotterte Shinji und schloß eilig die Tür hinter sich, bückte sich dann schon, um die Blätter in seinem direkten Umfeld aufzusammeln.

Rei ging ebenfalls auf die Knie, rutschte auf dem Boden herum und sammelte Papiere auf.

Sie trafen sich in der Nähe des Durchganges vom Korridor in den Hauptraum.

\"Hier.\"
Shinji gab ihr die von ihm gesammelten Blätter.

Sie legte den Stapel an der Wand ab und beschwerte ihn mit ihrem Drehstuhl.
Shinji-kun beobachtete sie... sie konnte seinen Blick fast spüren...
\"Die Küche ist dort...\"
Sie deutete auf die andere Tür, die von ihrem Schlafraum abging.

\"Äh, ja... Der Raum wirkt viel freundlicher, wenn Licht hineinfällt...\" sagte er, nur um etwas zu sagen, ehe er ihr in die Küche folgte. In seinen Augen war die Wohnung trist und grau, trotz des Lichts. Er nahm sich fest vor, ihr das nächste Mal, wenn er bei ihr vorbeikam, Blumen mit-zubringen, mit Blüten von heller, kräftiger Farbe.

\"Möchtest du Tee?\"
Rei holte eine Kanne aus dem Hängeschrank über der Spüle, füllte sie mit Wasser und stellte sie auf die Kochplatte, dann begann sie, nach einem Paket losen Tee zu suchen, das sie ver-meinte, in einem der Schubfächer aufzubewahren... nur für den Fall, daß sie einmal Besuch er-halten sollte...

Die Küche war ein kleiner Raum, in der Ecke, unter einem schmalen Fenster, stand ein Tisch mit zwei Stühlen, die Längswand wurde von der Spüle und einem Vorratsschrank ausgefüllt, ferner ging eine weitere Tür ab, hinter welcher Shinji das Bad vermutete.
Er beobachtete, wie Rei eine Packung Tee zutage förderte und aufriß, dann einen Löffel begut-achtete, auf dem sich ein wahrer Berg von schwarzem Tee befand.

Rei mußte sich eingestehen, daß sie was das Teekochen anbelangte, ein klares Defizit aufwies, da sie noch nie welchen gekocht hatte. Ob der Tee auf dem Löffel ausreichte? Oder war es vielleicht zuwenig? Vielleicht mochte Shinji-kun seinen Tee extra stark - und je mehr von dem losen Tee sie ins Wasser gab, umso stärker mußte doch der Geschmack sein, oder?

\"Mach dir wegen mir keine Mühe.\" sagte Shinji, der sich fragte, wieviele Tassen Tee Rei denn zu kochen gedachte. Es kam ihm schon merkwürdig vor, sie in der Küche stehen zu sehen, ir-gendwie konnte sie nicht mit derartigen Dingen in Verbindung bringen, aber vielleicht lag dies daran, daß er sie als EVA-Pilotin kennengelernt hatte.

\"Ist das in Ordnung so?\" sie hielt ihm den Löffel hin.
Sie sollte sich keine Mühe machen wegen ihm... und wenn sie sich seinetwegen Mühe machen wollte?!

\"Ahm, ist das nicht zu viel?\"

\"Ja?\"

\"Uhm, glaube schon... die Hälfte sollte für die Kanne genügen.\"

\"Aha.\"
Sie griff nach der Kanne auf der Heizplatte... und zog rasch die Hand zurück.
\"Au.\"

Sofort war Shinji neben ihr.
\"Was ist?\"

\"Ich habe mich verbrannt.\"
Sie wunderte sich selbst darüber, wie ruhig sie nach außen hin bleiben konnte, schließlich tat die Stelle, mit der sie mit der heißen Kanne in Berührung gekommen war, höllisch weh.
Die Haut war tief gerötet.

Shinji blickte sie entsetzt an.
Wie konnte sie nur so ruhig sein? Er selbst hätte garantiert vor Schmerzen geschrien, sie hatte ja die heiße Kanne voll angefaßt, so wie ihr Finger aussah.
\"Du mußt es kühlen!\" stieß er hervor, griff ihr Handgelenk und zog sie nach vorn, so daß die Hand unter den Wasserhahn kam, dann drehte er mit der anderen Hand das kalte Wasser auf.
Sie zuckte zurück, als der Wasserstrahl direkt auf die Verbrennung traf, ihre Kraft erstaunte ihn, doch er hielt ohne nachzudenken dagegen.
Wenn sie die Verbrennung gleich kühlte, hielt sich der Schaden vielleicht in Grenzen...
Wenn sie nicht für ihn hätte Tee kochen wollen... wenn er nicht in ihr Apartment gekommen wäre... wenn er sie nicht gefragt hätte, ob sie zusammen Hausaufgaben machen wollten... ohne ihn wäre das nicht passiert!
Erschrocken registrierte er, wie fest er ihr Handgelenk hielt, lockerte den Griff.
Hoffentlich hatte er ihr nicht auch noch wehgetan...
Ihre Haut fühlte sich so zart an, glatt wie Seide...
Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß.
\"Äh...\"
Shinji bemerkte, daß sich über Reis Wangen eine feine Rötung ausgebreitet hatte.
Es war ihr peinlich, daß er ihr Handgelenk festhielt... sicher war es ihr auch peinlich, daß er ihr so nah war...
Sofort ließ er ihren Arm gänzlich los, trat zur Seite.
\"Ähm, den Tee mache ich schon... bleib du erstmal so, ja?\"

\"Ja... danke...\"
Er war ihr sofort zu Hilfe gekommen... war ihr so nahe gewesen... sein Griff war so stark ge-wesen, obwohl sie ihn ohne große Probleme hätte brechen können... so nahe...
Ihr war heiß...
Wie er sie angewiesen hatte, beließ sie den Finger unter dem eiskalten Wasserstrahl.
Nein... es war kein Befehl gewesen... keine Anweisung, der sie unbedingt folgen mußte... aber Shinji-kun wollte, daß sie die Verbrennung kühlte, also tat sie es, obwohl sie ohnehin bald von selbst verschwunden sein würde, ihr Körper regenerierte derartige Schäden sehr schnell...

Shinji holte zwei Tassen aus dem Hängeschrank, häufte den losen Tee auf dem Tassenboden, suchte kurz nach einem Topflappen, mit dem er schließlich den nicht isolierten Kannengriff umfaßte. Dann goß er das heiße Wasser in Tassen und rührte um.
\"Etwas ziehenlassen...\" murmelte er. \"Uhm, Rei, ich habe dir doch nicht wehgetan...\"
Nervös beäugte er ihr Handgelenk, meinte, schwach die Abdrücke seiner Finger zu sehen.
\"Ah, das... das tut mir leid, ich wollte ni...\"

\"Nein. Du hast mir nicht wehgetan.\"
Rei sah ihm direkt in die Augen.
\"Du könntest mir niemals wehtun.\"

\"Das... ahm...\"
In ihren Augen sah er, daß sie es völlig ernst meinte.
Und sie hatte recht, schon der Gedanke, ihr in irgendeiner Weise Schmerzen zuzufügen, verur-sachte bei ihm schwere Übelkeit.
\"Uhm, geht es?\"

Sie betrachtete ihren Finger, die Rötung ging bereits zurück, heute abend würde sie die beschä-digte Hautschicht abziehen können, da sich darunter eine neue, gesunde gebildet haben würde. Und morgen würde diese kleine Episode nur noch Erinnerung sein.
\"Ja. Mein Körper heilt schnell.\"

\"Das... uhm... das ist mir auch schon aufgefallen. Du bist eben etwas besonderes...\"

Seine letzten Worte klangen betrübt. Was bekümmerte Shinji-kun?
\"Was hast du?\" fragte sie leise in einem Tonfall, der bar jedes Desinteresses war.

\"Ach, nichts... es ist nur... ich weiß nicht, was ich eigentlich hier soll...\"

Rei blickte ihn eine ganze Weile lang sprachlos und erschrocken an.
Er wußte nicht, was er hier sollte? Hier - in ihrem Apartment? Aber er hatte doch selbst vorge-schlagen...
\"Wir wollten gemeinsam Hausaufgaben machen.\" erinnerte sie ihn.

\"Nein, das doch nicht... ich meine... was ich hier soll.\"
Er machte eine Geste, mit welcher er die ganze Stadt zu meinen schien.
\"Ich bin nichts besonderes... nicht im Vergleich zu dir und dieser Asuka Soryu...\" er suchte nach dem Rest des Namens der neuen Pilotin.

\"Langley. Asuka Soryu Langley.\"

\"Genau. Sie ist bereits mit der Schule fertig und hat bei ihrem ersten Einsatz diesen Fischengel quasi vor dem Frühstück besiegt... und ich habe es nur geschafft, die ersten beiden Engel mit viel Glück zu vernichten, nachdem sie mich durchgeprügelt hatten... und du... ich meine... ah... du bist... uhm...\"
Das Wort, welches ihm auf der Zunge lag, lautete \'perfekt\', aber das konnte er ihr nicht sagen, nicht ohne daß zugleich ein Geständnis nach dem anderen aus ihm herausgesprudelt wäre, was er für sie empfand.

Wieder sah sie ihn lange an. Ihre Gesichtszüge wurden weich, verloren ihre Ausdruckslosig-keit.
\"Shinji-kun, auch du bist etwas besonderes...\"

\"Was kann ich denn schon? Ich bin weder besonders schnell oder stark, meine Leistungen in der Schule sind mittelmäßig... und wenn ich mich so verbrannt hätte, würde ich jetzt noch vor Schmerzen jammern.\"

Sie fand, daß er sich selbst unrecht tat.
Aber wie konnte sie ihm denn sagen, daß er in ihren Augen ein ganz besonderer Mensch war... soweit war sie einfach noch nicht...
Doch was konnte sie ihm sagen...?
\"Du bist ein Naturtalent.\"

\"Hm?\"

\"Du konntest den EVA gleich beim ersten Anlauf kontrollieren, während ich - und auch das Second Children - lange dazu ausgebildet worden sind.\"

\"Ja... aber wozu ist das gut? Du hast doch selbst gesagt, daß noch andere Piloten ausgebildet werden. Wenn du nicht verletzt worden wärst, hätte Vater mich sicher nicht nach Tokio-3 kommen lassen.\"

Das stimmte... leider... Und dann hätte sie ihn nie wirklich kennengelernt, wäre er immer nur eine Figur auf irgendwelchen Überwachungsvideos gewesen, die angefertigt wurden, wenn der Kommandant ihn besuchte... Auch das konnte sie ihm nicht sagen, nicht jetzt.
\"Aber jetzt bist du hier. Oder willst du wieder fort?\"
Bei dem letzten Satz konnte sie ein leichtes Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Shinji-kun durfte nicht fortgehen!

\"Nein... ich habe nichts anderes mehr... es gibt keinen anderen Ort, wo ich noch hingehen könnte...\"

\"Shinji-kun, du bist mir immer willkommen... es gibt also wenigstens einen Ort, wo du hinge-hen kannst.\"

\"Rei, das...\"
Shinji seufzte.
\"Ich glaube, der Tee ist soweit.\"
Er schob ihr eine Tasse hinüber.

Rei drehte den Hahn zu.
Der vormals brennende Schmerz war nur noch ein dumpfes Prickeln, Shinji-kuns Maßnahme hatte wirklich geholfen.
Sie nahm die Tasse mit dem dampfenden Getränk und führte sie vorsichtig zum Mund.
\"Schöne Farbe.\"

Shinji lächelte scheu.
\"Paß auf, daß du dir nicht die Lippen verbrennst.\"

\"Ja.\"
Sie trank einen Schluck, ließ den heißen Tee ihre Kehle hinabrinnen, spürte, wie Wärme sich in ihrem Magen ausbreitete.
\"Und schön warm... du kannst gut Tee kochen, Shinji-kun.\"

\"Ach, das ist nicht schwer...\" erklärte er verlegen. Wann kam es denn schon einmal vor, daß ihm ein Mädchen ein Kompliment machte...
\"Ist es nicht zu bitter?\"

\"Etwas, aber das macht nichts... es gibt noch einen Grund, weshalb du besonders bist...\"

\"Welchen?\"

\"Du bist mein Freund.\"

Shinji blickte sie an, sein Gesicht spiegelte ein ganzes Kaleidoskop an Gefühlen wieder - Über-raschung, Freude, Verwirrung, Verlegenheit.
\"Das, ahm, also...\"
Er schluckte.
\"Danke.\"

Sie nickte nur.

\"Darf ich dich etwas fragen?\"

\"Ja, Shinji-kun.\"
Sie hielt die Tasse auf halber Höhe, erwartete seine Frage.

\"Ich habe neulich gesehen, wie mein Vater und du miteinander gesprochen habt...\"

\"Ja.\"
Rei ließ die Tasse sinken, stellte sie auf der Spüle ab.
Hoffentlich wollte Shinji-kun nicht von ihr wissen, worüber sie sich unterhalten hatten...

\"Es ist nur... ich wüßte gern, wie ich mich mit ihm unterhalten könnte... oder worüber... wir haben seit meiner Ankunft in Tokio-3 nicht mehr miteinander gesprochen und das war auch nicht... eigentlich haben wir nie richtig miteinander gesprochen...\"

\"Du möchtest mit ihm reden?\"
Shinji-kun wollte mit dem Kommandanten sprechen... nein, nicht mit dem Kommandanten, mit seinem Vater... so seltsam es war, auch der Kommandant besaß verschiedene Gesichter - Ober-befehlshaber von NERV, Vater von Shinji-kun... ihr Schöpfer... -, ebenso wie sie verschiedene Gesichter besaß, mit denen sie sich der Welt präsentierte... EVA-Pilotin, Schülerin... nein, ei-gentlich besaß sie nur ein Gesicht, denn es gab nicht wirklich Unterschiede. Nur in Shinji-kuns Gegenwart konnte sie ihre Maske ein wenig fallenlassen...

\"Ja... Es würde zwar wohl nichts ändern, aber... wenn alles so bleibt... und ich ihn hasse... ist es schwer, ein EVA-Pilot zu bleiben... vor allem wegen der Dunkelheit in den EVAs und dem Haß, der von ihnen ausgeht... ich habe Angst, daß mein eigener Haß und der Haß des EVAs sich vermischen könnten... daß ich mich in der Dunkelheit verlieren könnte...\"

\"Aber während des letzten Einsatzes sind diese Eindrücke nicht aufgetreten.\"

\"Nein... wir wurden ja auch nicht in einem Nahkampf verwickelt... unsere EVAs konnten... sie konnten den Engel nicht wittern... sie konnten sein Blut nicht riechen...\"

Blut... warum hatte er diesen Vergleich verwenden müssen... das Blut der Engel entsprach in ihrer Zusammensetzung dem LCL, welches den EVAs als Blut diente... denn es war Blut... das Blut des Engels LILITH...
\"Wenn du...\"
Sie setzte neu an.
\"Sag deinem Vater, was du wirklich denkst.\"
Sein Vater würde vielleicht verstehen, was der Kommandant völlig ignorieren würde...

\"Das... ahm...\"
Shinji trank einen Schluck Tee, überlegte, nickte dann.
\"Ja, du hast recht, diese eine Chance muß ich ihm... und mir... geben...\"

\"Ja.\"

\"Ahm... dein Finger?\"

\"Besser.\"

\"Gut... uhm, die Hausaufgaben...\"

\"Ja. Setz dich.\"

\"Ich habe nichts zum Schreiben, könntest du mir mit einem Stift und etwas Papier aushelfen?\"

Rei öffnete die Tür des Vorratsschrankes.
\"Bedien dich.\"

Shinjis Unterkiefer klappte nach unten.
Der Schrank war von oben bis unten gefüllt mit Heften, Schreibblöcken, Federhaltern, Kugel-schreibern, Bleistiften und allem anderen, was in einer Schule benötigt wurde, wo kein alter Lehrer die Zeit damit totschlug, über den Second Impact zu erzählen.
\"Das... das ist ziemlich viel...\"

\"Es handelt sich um den veranschlagten Gesamtbedarf am Materialien bis zum Abschluß der Schule... ich verbrauche nicht soviel, wie mir zugewiesen wurde.\"

\"Uh... ja...\"
Shinji entnahm ein Heft, dessen Seiten er herausreißen konnte, sowie einen Stift, schloß die Schranktür wieder und setzte sich, während Rei ihr Aufgabenheft herausholte und offen auf den Tisch legte. Sie hatte wirklich eine sehr kleine Schrift, klein, aber dennoch sauber und les-bar.
Langsam entstand für Shinji ein Bild - sein Vater ließ nicht nur zu, daß Rei allein in dieser wahrscheinlich rattenverseuchten Bruchbude wohnte, er hatte ihr mit Sicherheit auch den ge-samten nichtverderblichen Bedarf zum Leben auf den Korridor stellen lassen und sie dann im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst überlassen.
Und dennoch vertraute sie ihm immer noch...

\"Shinji-kun, können wir beginnen?\"

\"Uh, ja...\"
Kapitel 21 - Der Engel und sein Zwilling

Die beiden, Shinji Ikari und Rei Ayanami, hatten sich bis zum Abend mit den Aufgaben beschäftigt, ehe Shinji schließlich aufgebrochen und heimgefahren war. Irgendwelche Zwischenfälle hatte es nicht gegeben - auch wenn Shinji dies ein wenig bedauerte, er hätte durchaus nichts gegen einen Abschiedskuß gehabt.

Als er heimkam, fand er Misato vor dem Fernseher sitzend vor, das obligatorische Bier in der Hand und ein weiteres Sechserpack in Griffweite.
Sie blickte demonstrativ auf die Uhr.
\"Noch eine Stunde, und ich hätte angefangen, mir Sorgen zu machen.\"

\"Uhm, ich war noch bei Rei, wir haben zusammen Hausaufgaben gemacht.\"

Misato nickte und lächelte.
\"Gut, aber vielleicht kannst du mir das nächste Mal eine Nachricht hinterlassen, wozu haben wir schließlich den Anrufbeantworter.\"

\"Ja, versprochen. Äh... ich werde uns dann mal etwas zu essen kochen.\"

\"Hm-m.\"
Sie ließ gerade den Inhalt einer Dose nonstop ihre Kehle hinablaufen - aufgrund ihres hohen und regelmäßigen Konsums hatte sie längst den Bogen \'raus, wie man eine Dose in einem Zug leerte, ohne zwischendurch zu schlucken.
\"Und, war\'s schön?\"

\"Ugh...\"
Fast automatisch lief er rot an, obwohl sie sogleich ein Lachen folgen ließ.
Wenn sie doch nur damit aufhören würde...

\"Ich find\'s schön, daß ihr beide euch versteht... aber macht bitte keine Dummheiten... du weißt doch, wovon ich spreche, oder?\"

\"Ich... ahm... glaube schon.\"

\"Hm-m. Aber falls du irgendwelche Fragen haben solltest...\"

\"Uhm, nein, nein, ich habe keine Fragen, ah...\"
Er wäre wahrscheinlich eher gestorben, als daß er sich mit ihr darüber hätte unterhalten können... auf der anderen Seite bekam er ohnehin schon mehr mit, als ihm lieb war, wenn er nur Toji und Kensuke zuhörte, während diese in den Pausen Mädchen beobachteten... obwohl Toji sich in letzter Zeit deutlich zurückhielt.
Shinji war ganz froh, als Misato sich wieder dem Fernseher zuwandte, der US-Sender brachte alle drei Teile irgendeines Mafiafilmes um eine Gangsterfamilie namens Corleone oder so ähnlich und sie hatte sich bereits seit Wochen darauf gefreut. Er selbst konnte dem Thema nicht viel abgewinnen, obwohl er insgeheim dachte, daß sein Vater ganz gut in diese Runde abgebrühter Killer gepaßt hätte...


*** NGE ***


Am nächsten Morgen fuhr er wieder mit seinem Fahrrad zur Schule.
Auf dem Gang vor dem Klassenraum begegnete er Kensuke, der gerade einer Gruppe Jungen aus anderen Klassen, die alle eine gewissen Ähnlichkeit mit ihm aufwiesen, nicht äußerlich, sondern vielmehr auf der intellektuellen Ebene, von seiner Fahrt in Misatos Sportwagen erzählte, wobei er die Fahrt, welche eigentlich keine fünf Minuten gedauert hatte, zu einer wahren Langstreckenreise ausdehnte, indem er Fahrmanöver beschrieb, die so waghalsig klangen, daß Misato sie wahrscheinlich nicht einmal sturzbetrunken versucht hätte.
Shinji winkte dem anderen Jungen kurz zu und betrat dann den Klassenraum, ließ fast in Toji und Hikari hinein, die direkt neben der Tür standen, wobei Toji gegen die Wand lehnte und Hikari näher bei ihm stand, als dies eigentlich schicklich war.

Rei saß bereits an ihrem Platz, den Kopf auf die Hände gestützt.

Shinji steuerte direkt auf sie zu, begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, welches jedoch nicht die gewünschte Reaktion hervorrief, blieb ihr Gesicht doch völlig ausdrucklos, als sie ihm zunickte.

\"Guten Morgen, Shinji-kun.\"

\"Uhm...\"
Er stellte seine Tasche auf den Boden und schwang sich auf das Fensterbrett, setzte sich neben ihr in die Fensterbank.

\"Shinji-kun, ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß dies kein regulärer Sitzplatz ist.\"

Shinji lachte.
\"Ich wollte fragen, ob wir uns heute wieder treffen wollen - ich meine, in den sechs Stunden heute werden wir nur in vieren über den Second Impact unterrichtet, ahm, natürlich nur, wenn es dir recht ist.\"

\"Es wäre mir recht. Aber ich habe heute Tests.\"

\"Ist dein EVA schon wieder soweit repariert?\"

\"Nein, Doktor Akagi simuliert die Synchronverbindung über die MAGI-Rechner.\"

\"Ach so. Schade...\"

\"Wir könnten uns jedoch vorher im Hauptquartier treffen, ich schlage den Erholungsbereich vor.\"

\"Erholungsbereich?\"
Davon hatte er noch nichts gehört - andererseits kannte er von den Einrichtungen in der Geofront auch nur den Hangar, das Test-Areal und die große Halle, in der Akagi den zweiten Engel hatte sezieren lassen, sowie den Besprechungsraum. Rei meinte doch nicht etwa das Dampfbad?

\"Das Hauptquartier ist weitestgehend autark. Es verfügt neben einer eigenen Stromversorgung über Gewächshäuser, Wohnquartiere und auch einen größeren Freizeitbereich mit Einrichtungen zur körperlichen Betätigung.\"

\"Eine Sporthalle?\"

\"Und ein Schwimmbad. Wir könnten uns dort treffen, Tische und Sitzgelegenheiten sind vorhanden.\"

\"Ja, gern... Uhm, was macht dein Finger?\"

Sie hob die Hand so, daß er die Stelle, an welcher sie sich die Verbrennung zugezogen hatte, begutachten konnte. Die Haut war völlig makellos.
\"Es ist verheilt.\"

\"Das ist gut... ahm, ja... sagt mal, Rei...\"

Ihm fiel die Pause auf die er machte, sie wußte mittlerweile, daß diese Pausen endlosen anhalten konnten, wenn sie nicht reagierte.
\"Ja?\"

\"Ich habe gesehen, daß... ahm, das Schuljahr dauert ja nur noch sechs Wochen... und...\"

\"Und in vier Wochen sind Abschlußprüfungen. Falls du fragen wolltest, ob wir zusammen lernen wollen, so bin ich damit einverstanden.\"

\"Uh, nein, nicht ganz, obwohl, ahm, das wäre wohl meine nächste Frage gewesen, ja...\"
Gut, er hatte nicht soweit gedacht. Himmel, in vier Wochen konnte viel passieren, vielleicht fanden ja ausgerechnet an den Prüfungsterminen Synchrontests statt... es mußte ja nicht gerade ein Engel sein, der vorbeischaute, nur so ein paar klitzekleine Tests...
\"Ja, ähm, die älteren Schüler werden ja direkt vorher entlassen... und am Wochenende nach den Prüfungen findet der Abschlußtanz statt und ich dachte... ahm...\"

Abschlußtanz... wollte Shinji-kun sie fragen, ob sie ihn zu diesem Tanz begleitete? Die Anweisungen des Kommandanten... nein, es war ja keine Überraschungs- und auch keine Geburtstagsfeier... aber sie würde ihm keine genügende Partnerin sein können...
\"Es wird nicht möglich sein, daß ich dich begleite.\"

\"Nein?\"
Er setzte jene Miene auf, die einem leidenden Dackelblick am nächsten kam.
\"Wirklich nicht?\"

\"Ich kann nicht tanzen.\"
Vielleicht konnte sie die Klassensprecherin um Rat fragen, aber diese war offensichtlich mit Suzuhara-kun beschäftigt...

\"Ahm, das macht nichts, wirklich nicht... ich kann nämlich auch nicht tanzen.\"

\"Weshalb möchtest du dann zu dieser Veranstaltung?\"

\"Nun, uhm, ich war noch nie zu sowas, an meiner alten Schule gab es keine Feiern...\"
Jedenfalls hätten seine Pflegeeltern ihn nicht gehen lassen...
\"Und, ahm, naja...\"

Die Stundenglocke ertönte.

\"Ich sollte wohl besser...\"

Kensuke kam hereingeflitzt.
\"Der Lehrer!\"


*** NGE ***


Das Schwimmbad war riesig, das Becken war größer als das der Schule, das blau schimmernde Wasser völlig ruhig, da sich niemand darin aufhielt.
Es gab mehrere Tische mit Stühlen darumherum, die an einer hohen Fensterfront standen, hin-ter sich einer der Hydroponischen Gärten befand, in denen NERV Obst und Gemüse für den Kantinenbetrieb züchtete - irgendwie hätte Shinji sich auch nicht gewundert, wenn er erfahren hätte, daß in der Geofront vielleicht auch Viehzucht betrieben wurde, genug Platz gab es ja, wenn er darüber nachdachte, hätte er die Stadt in der großen Höhle errichtet anstatt an der Oberfläche, wo die Engel doch des öfteren vorbeikamen.

Die beiden Teenager saßen an einem der Tische über den Aufgaben, beide waren barfuß, die Schuhe mit den Strümpfen darin standen neben dem Eingang. Der Fußboden war angenehm warm.

Shinji streckte sich und sah zur Uhr an der Wand.
Sie hatten noch eine gute halbe Stunde, bis Rei zu den Tests mußte.
Er zuckte zusammen, als sein Fuß Reis Bein streifte, zog ihn vorsichtig zurück.
\"Uhm, entschuldige.\"

Sie blickte von ihren Aufzeichnungen auf.
\"Das macht nichts.\"
Ein feines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Kurz darauf spürte Shinji, wie ihre Zehen die seinen berührten, langsam über die Oberfläche seines Fußes und dann wieder zurück wanderten.
\"Ah...\"

Rei blickte nicht auf, schaffte es sogar das Zucken ihrer Mundwinkel zu unterdrücken, während sie unter dem Tisch zum zweiten Versuch überging und ihn diesesmal leicht kitzelte.

Shinji grinste und tastete blind nach ihrem Fuß, kraulte ihn mit dem großen Zeh an der Seite.

Sie nahm seinen Fuß mit ihren beiden in die Zange, doch er befreite sich, indem er sie nun unter der Fußsohle kitzelte.
So ging es eine ganze Weile, während sie über dem Tisch vorgaben, sich den Aufgaben zu widmen, sich dabei allerdings gegenseitig versteckt fixierten, er breit grinsend, sie mit leicht zuckenden Mundwinkeln.
Plötzlich gab Rei ein leises anhaltendes Geräusch von sich, welches Shinji nach Vergehen einer sehr langen Sekunde als Kichern identifizierte. Schließlich jedoch stand sie ohne Vorwarnung auf und räumte ihre Sachen zusammen.
\"Ich muß los.\"

\"Ja.\" murmelte er mit Bedauern. \"Dann sehen wir uns morgen in der Schule.\"

\"Nein. - Du hast Tests.\"

\"Ach ja, stimmt...\"
Ups, das hatte er doch ganz vergessen, zur Abwechslung hatte Doktor Akagi ihn vormittags eingeplant...

\"Aber ich nehme für dich Unterlagen mit.\"

\"Danke.\"


*** NGE ***


Wieder verging ein Tag ohne weitere besondere Ereignisse.
Auf dem Rückweg ging Shinji bei Kensuke vorbei, der ihn schon vor Tagen eingeladen hatte, ihn zu besuchen und ein paar neue Videospiele auszuprobieren.

Shinji war zum ersten Mal bei seinem Freund zuhause, Aidas bewohnten ein kleines Haus am Stadtrand von Tokio-3, Kensukes Vater leitete eine Computerfirma, die mit der Wartung verschiedener Anlagen in der Stadt beauftragt war.
Kensukes Zimmer war genauso, wie Shinji es sich vorgestellt hatte, in Kisten stapelten sich Comic-Hefte bis unter die Decke, die freien Wandflächen waren mit Postern zugehangen und auf dem Boden bildeten CDs und Videokassetten ein richtiges Durcheinander.
Er blieb gute zwei Stunden dort, hatte aber den Eindruck, daß Kensukes Mutter, welche mehrmals in dieser Zeit in das Zimmer ihres Sohnes blickte, ihn nicht mochte und seine Anwesenheit mißbilligte, so daß er sich schließlich verabschiedete und heimging, um Essen zu kochen und die Wohnung etwas zu putzen.


*** NGE ***


In jenem heruntergekommenen Stadtviertel, in dem Rei wohnte, gab es einen großen Supermarkt, der in einer ebenfalls heruntergekommenen Lagerhalle untergebracht war.
Den Verkäufern bot sich an diesem Abend ein unerwarteter Anblick, schob doch ein Mädchen mit scharlachroten Augen, blauem Haar und blasser Haut, das eine Schuluniform trug und wel-ches das Geschäft vorher noch nie betreten hatte, einen der Einkaufswagen durch die Gänge und füllte diesen mit verschiedenen haltbaren Lebensmitteln wie Packungen mit losem Tee in verschiedenen Geschmacksrichtungen, Getränkedosen mit Limonade und Packungen mit diversen Keksen und anderen Knabbereien - schließlich wollte Rei das nächste Mal, wenn Shinji-kun sie besuchte, vorbereitet sein und ihm etwas mehr anbieten können als schwarzen Tee, der bereits seit Jahren in der Schublade gelegen hatte...


*** NGE ***


Etwa zur selben Zeit empfing Gendo Ikari in seinem riesigen Büro einen Besucher, der sich äußerst beeindruckt von der Lokalität zeigte - Ryoji Kaji.

\"So, Herr Kaji, Sie haben es also endlich geschafft, herzukommen...\"

Kaji nickte ernst, stellte den Koffer, der über eine Kette mit seinem Handgelenk verbunden war, auf den Schreibtisch.
\"Ich mußte erst sichergehen, daß Asuka gut untergebracht ist.\"

\"Herr Kaji, Ihre Verantwortung liegt in erster Linie bei NERV, vergessen Sie das nicht.\"
Ikari öffnete das Schloß der Kette.

Kaji rieb sich das befreite Handgelenk.
\"Natürlich.\"

\"Die deutsche Abteilung ist der Ansicht, daß Sie für den Posten des Chef des Strategischen Planungsstabes im Hauptquartier bestens geeignet sind, Major.\"

Kaji hob die Schultern.
\"Es ist Ihre Entscheidung, Sir.\"

\"Sie haben den Job.\"

\"Danke.\"

\"Sie können gehen.\"

Ryoji Kaji verließ das Büro und wandte sich in Richtung des Labortraktes.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi saß in ihrem Büro an ihrem Schreibtisch und brütete über ihren Unterlagen, als jemand sie von hinten stürmisch umarmte.

\"Immer noch Workaholic?\" flüsterte eine vage bekannte Stimme in ihre Ohr.

Sie befreite sich aus der Umarmung und sah auf.
\"Kaji! Lange nicht gesehen... wie lange ist das jetzt her?\"

\"Oh, ein paar Jährchen sind schon vergangen, seit wir drei zusammen auf der Uni waren... du, ich und Misato... Bist du immer noch solo?\"

Akagi nickte.
\"Keine Zeit für Beziehungen. Ich hörte, du hast bei NERV-Deutschland Karriere gemacht?\"

\"Ja.\"
Er salutierte breit grinsend.
\"Major Ryoji Kaji zur Stelle! Ab heute Leiter des Strategischen Planungsstabes.\"

\"Ikari hat dich zum Chef des NERV-Geheimdienstes gemacht?\"

\"Da staunst du, was? Himmel, Ritsuko... ist wirklich soviel vergangen?! Du hast dich kaum verändert... deine Kollegen hier müssen blind, taub und dumm sein, eine Schönheit wie dich zu übersehen!\"

Akagi lachte.
\"Immer noch der gleiche alte charmante Kaji...\"
Sie bemerkte auf der reflektierenden Scheibe ihres abgeschalteten Computermonitors, daß jemand hereingekommen war.

\"Vielleicht sollte ich dich erobern, was meinst du?\"

\"Hm, das wäre einen Gedanken wert... aber wir sind leider nicht allein...\"

\"Ja?\"
Kaji sah sich um, blickte direkt in das wütende Gesicht Misatos.
\"Oh, hi, Katsuragi-chan!\"

\"Verdammt noch mal!\" brüllte Misato. \"Änderst du dich eigentlich nie? Immer rennst du jedem Rock nach!\"

\"Hey, hey!\" Er hob abwehrend die Hände. \"Ich bin nun mal so...\"

\"Ja, ja, immer das gleiche Lied\", seufzte Ritsuko und suchte in ihrer Schublade nach Ohrstöpseln.

\"Natürlich, das ist ja auch eine prima Ausrede, was?\"

\"Katsuragi, wir sind nicht mehr zusammen, schon lange nicht mehr...\" Kaji lächelte schelmisch. \"Oder möchtest du das ändern?\"

Misato knirschte mit den Zähnen.
\"Die Zeit mit dir war der wahrscheinlich größte Fehler meines Lebens!\"

\"Ah, komm, reg dich nicht auf, du bekommst noch Falten!\"

\"Halt\'s Maul!\"

Ritsuko war inzwischen fündig geworden. Nachdem sie die Stimme der beiden Streithähne ausgesperrt hatte, konnte sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden...

\"Was machst du hier überhaupt?\"

\"Dienstreise aus Deutschland - ich habe Asuka hierherbegleitet.\"

\"Na, da sie sicher angekommen ist, kamst du jetzt ja wieder gehen.\"

\"Nein, Katsuragi-chan, du wirst schon noch etwas mit mir auskommen müssen. Ich wurde gerade zum Chef des Planungsstabes ernannt.\"

\"Aha...\"

\"Nun schau mich nicht so finster an.\"

\"Nein? Nach fast acht Jahren tauchst du wieder auf und erzählst mir, ich soll dich nicht so finster ansehen? Verdammt noch mal, ich sehe finster an wen ich will!\"


*** NGE ***


Die Synchrontests am nächsten Tag verliefen komplikationslos, Shinjis Synchratio war um null komma einen Punkt gestiegen, seiner Ansicht nach nichts, worum es sich gelohnt hätte, ein großes Aufheben zu machen, doch Ritsuko Akagi sah dies anders und trug ihn für weitere Tests in den nächsten Tagen ein.
Das hatte er nun davon, er hatte sich verbessert und wurde auch noch dafür bestraft...
Aber wenigstens liefen die Tests allesamt als Simulationen über das MAGI-Rechner-Dreigestirn.
Shinji grummelte immer noch leise vor sich hin, als er aus dem Umkleideraum kam und sein Handy leise summte.
\"Ja?\"

\"Shinji, wo bist du?\"
Es war Misato.

\"Im Gang vor dem Umkleideraum.\"

\"Bist du schon umgezogen?\"

\"Ja.\"
Sollte er jetzt vielleicht jetzt wieder in die PlugSuit steigen? Immerhin hatte er ja inzwischen mehrere...

\"Dann komm mal in den Hangar \'rüber, ich möchte dir und Rei jemanden vorstellen.\"

\"\'Bin schon unterwegs.\"
Jemanden vorstellen... Misato mußte die neue Pilotin meinen, die heute eintreffen sollte, diese Asuka Soryu... wenn er sich doch nur ihren zweiten Nachnamen merken könnte! Er wollte schließlich nicht unhöflich erscheinen... und Rei war anscheinend auch da... gut, das verringerte die Gefahr, dumm dazustehen, seine Freundin würde ihm notfalls helfen, dessen war er sich ganz sicher.


*** NGE ***


Zu Shinjis EVA - an EVA-00 arbeiteten Ritsuko Akagi und ihr Team in der benachbarten Halle - hatte sich der rote EVANGELION gesellt, den er schon aus dem Film kannte, welchen Misato ihnen zwei Tage zuvor gezeigt hatte. Ebenso wie Einheit-01 befand EVA-02 sich in einer der käfigartigen Konstruktionen, die die Roboter in deaktivierten Zustand aufrecht hielten.

Beim Eingang stand Misato, bei ihr waren Rei, welche wie übliche ihre Schuluniform trug, sowie ein rothaariges Mädchen in einem knallroten Frühlingskleid und Schuhen derselben Farbe - das mußte die neue Pilotin sein, diese Asuka Soryu... Langzahn oder so...
Sie hatte ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht, welches einen starken Kontrast zu Reis ausdruckslosem Gesicht lieferte. Sie war ganz hübsch, diese Asuka Soryu Lambley... oder so... schlank und durchtrainiert, lange Beine, sonnengebräunte Haut und blaue Augen von der Farbe des Meeres... und mit einer Oberweite, bei der Shinji sich sofort fragte, ob diese Asuka Soryu Lumpli... oder so... wirklich erst vierzehn war... natürlich war ihr ihre nicht-japanische Herkunft auf den ersten Blick anzusehen, vielleicht hatten ja auch alle Mädchen in Deutschland einen so großen Busen... Toji und Kensuke hätte es in diesem Fall dort sicherlich gefallen, wobei er sich bei Toji da gar nicht mehr so sicher war...

\"Ah, da kommt er ja... Damit wären wir komplett.\"
Misato winkte Shinji zu.
\"So, also - das ist Asuka, die Pilotin von EVA-02. Und dieser junge Mann hier...\"

Das rothaarige Mädchen trat auf Shinji zu, ergriff seine Hand und schüttelte sie.
\"Du mußt Shinji Ikari sein!\"

\"Uh, ja, das stimmt, aber...\"

\"Ich habe die Aufzeichnungen deiner bisherigen Einsätze gesehen - wirklich toll!\"

\"Uhm... also... aber...\"
Er lächelte verlegen. So eine Begrüßung hatte er nicht erwartet.

\"Du kannst seine Hand wieder loslassen, Soryu. Shinji-kun benötigt sie noch.\" erklärte Rei von der Seite mit einer Stimme, in der man Eiswürfel klirren zu hören vermeinte.

\"Oh, ja, natürlich. Tut mir leid.\"
Asuka lächelte Shinji freundlich an, zeigte blitzend weiße Zähne.

\"Und das hier ist Rei.\" stellte Misato endlich auch die letzte Person im Hangar vor.

\"Das First Children, nicht wahr?\"

\"Ja.\"

Asuka lächelte wieder strahlend.
\"Wollen wir Freunde sein?\"
Sie streckte die Hand aus.

Rei blickte auf die ausgestreckte Hand, dann wanderte ihr Blick nach oben, bohrte sich in Asukas Augen.
Da war etwas... als ob man einen kurzen Blick hinter einen Vorhang warf... ihre Freundlichkeit war nur gespielt, dahinter lag Berechnung und Abwarten, wie ein Jäger, der auf seine Beute lauert... Das Second Children war gefährlich...
\"Nein.\"
Rei wandte sich ab.
\"Shinji-kun, ich habe Kopien für dich mitgenommen, komm nachher bei mir vorbei.\"
Damit verließ sie den Hangar.

\"Oi, die ist aber übel drauf!\"
Asuka schüttelte den Kopf.
\"Also wirklich, dabei habe ich es doch nur nett gemeint, wir müssen schließlich alle zusammenhalten...\"
Sie schluchzte.

Shinji schluckte.
Warum hatte Rei sich so verhalten? Wie hatte sie Asuka nur so vor den Kopf stoßen können?
Die neue Pilotin schien zu weinen, jedenfalls verbarg sie schluchzend ihr Gesicht in den Händen... warum hatte Rei das getan, sie hatte doch gar keinen Grund gehabt!

Auch Misato machte eine bedrückte Miene, so hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Mit einer fast mütterlichen Geste - denn irgendwie kam niemandem in Verbindung mit Misato Katsuragi darauf, sie als mütterlich zu bezeichnen - legte sie Asuka den Arm um die Schultern.
\"Komm, ich bringe dich zum nächsten Waschraum... ich wollte das nicht... Rei ist normalerweise... ah... also, sie ist nicht so...\"

\"Tut mir leid\", flüsterte Shinji, als die beiden ihn passierten.

Von Asuka kam nur ein bestätigendes \"Hm-m\", welches in ein Schluchzen überging.

Wie hatte Rei nur so gemein sein können...
Plötzlich hatte er definitiv keine Lust mehr, ihr an diesem Tag noch einmal zu begegnen, die Kopien konnte sie ihm auch morgen in der Schule geben... er hatte selten erlebt, wie jemand derart gemein gewesen war... sie war ihm beinahe vorgekommen wie sein Vater...


*** NGE ***


Misato wartete draußen vor der Tür des Waschraumes.
Auch sie fragte sich, was Rei zu einer solchen Reaktion veranlaßt hatte, so wie sie das Mädchen kennengelernt hatte, hätte es Asukas Freundschaftsangebot nicht einfach zu kalt ablehnen dürfen... die beiden waren sich auch nie zuvor begegnet, weshalb hatte Rei sich also derart... ja, feindselig verhalten?

Im Waschraum nahm Asuka langsam die Hände herunter.
Ihre Wangen trugen weder feuchte Tränenspuren, noch wirkten ihre Augen verweint, im Gegenteil, sie grinste ihr Spiegelbild breit an.
\"Und so beginnt das Spiel...\" flüsterte sie.


*** NGE ***


Nachdem Asuka sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, gab Misato ihr eine Führung durch das Hauptquartier in Begleitung von Shinji, der Rundgang endete in der Cafeteria, wo Misato den beiden Saft und ein Stück Kuchen spendierte.

\"Asuka, ich habe deinen Kampfstil auf Band gesehen, du wirst deinem Ruf wirklich gerecht - nicht zu vergleichen mit unserem Greenhorn Shinji hier!\"
Dabei fuhr sie ihrem Schützling neckisch durch das Haar.

Shinji seufzte.

Asuka lachte.
\"Oh, sagen Sie doch soetwas nicht - immerhin hat er schon drei Engel besiegt. Ich muß noch soviel lernen!\"

Shinji grinste breit.
Bewunderung gehörte zu den letzten Dingen, mit denen er gerechnet hatte.
\"Ach, das war doch nur Glück.\"


*** NGE ***


Misato hatte sich wegen Reis Auftritt derart geschämt, daß sie Asuka im Anschluß zu sich in die Wohnung einlud. Shinji hatte sich bereitwillig einverstanden erklärt zu kochen - nicht, daß er nicht ohnehin gekocht hätte, doch Asuka reagierte auf seine Erklärung, er werde kochen, mit einem wahren Begeisterungssturm.

Während Shinji in der Küche stand, unterhielten Asuka und Misato sich über Asukas Heimat-land. Wie sich herausstellte, hatte Misato Deutschland einmal während der Sommerferien be-sucht, als sie noch studiert hatte.

Shinji gab sich noch mehr Mühe als sonst, auch er wollte dafür sorgen, daß Asuka Reis Verhal-ten vergaß, auch wenn er sich ständig fragte, warum Rei so reagiert hatte.
Und ihre Worte ihm gegenüber... \'komm bei mir vorbei\'... als wäre er ein Hund, den man nur zu rufen brauchte... hatte er sich vielleicht in ihr getäuscht? Steckte mehr von seinem Vater in ihr, als er zu vermuten gewagt hätte? Vielleicht hätte er ihr folgen und sie zur Rede stellen sol-len. Asuka jedenfalls schien ihm die Antwort auf seine Bitten um eine Mitstreiterin zu sein, mit der er auskam.

Asuka jedenfalls äußerte sich nur bewundernd über Shinjis Essen; während sie später am Tisch saßen und speisten, behielt sie die ganze Zeit ihr strahlendes Lächeln bei, mit dem sie Shinji re-gelrecht hypnotisierte. Dann zupfte sie ab und an an ihrem Kleid und brachte ihren Busen zur Geltung, daß Shinji sich jedesmal fast verschluckte.
Und ab und an fragte sie wieder in traurigem Tonfall, weshalb Rei sie denn nicht mochte, wo-raufhin Shinji sich jedesmal genötigt sah, ihr ein Kompliment zu machen.

Am späten Abend brachte Misato Asuka zurück ins Hauptquartier, wo diese ein Quartier hatte.

Asuka verabschiedete sich freundlich und verschwand dann in ihren Räumen.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als das Lächeln von ihrem Gesicht verschwand.
Das Third Children war genauso ein Versager, wie sie ihn sich vorgestellt hatte... auch wenn er wirklich gut kochen konnte... trotzdem war dieser Shinji Ikari definitiv ein Weichei - und wie er immer wieder auf ihren Busen gestarrt hatte!.
Und was die andere Pilotin anging... möglicherweise hatte das First Children ihre Vorstellung durchschaut... dieser stechende Blick aus den blutroten Augen... direkt unheimlich... aber daß sie ihr Freundschaftsangebot ausgeschlagen hatte, zeugte in jedem Fall von großem Mut oder großer Dummheit - oder beidem... Rei Ayanami würde schon noch sehen, was sie davon hat-te...
Sie, Asuka Soryu Langley, würde die beiden anderen Piloten sehr schnell übertrumpfen. Und dann war sie der Star bei NERV, nicht dieser ewig stotternde Shinji, der wahrscheinlich nur hier war, weil sein Vater den Laden leitete, und auch nicht dieses blauhaarige Albinomädchen mit dem starren Blick, welches schon noch bereuen würde, nicht zu ihr nett gewesen zu sein, als es die Gelegenheit hatte!
Überhaupt war das Willkommen gar nicht so abgelaufen, wie sie es erwartet hatte - Kaji war gleich nach der Ankunft in Matsushiro ins Hauptquartier berufen worden und hatte sie nicht mitnehmen wollen, die erwartete Parade hatte auch nicht stattgefunden und dieser alte Sack von einem Admiral hatte sie regelrecht von seinem Schiff werfen lassen, als ob sie auf diesem Seelenverkäufer ohnehin auch nur noch eine Minute länger als nötig verbracht hätte!
Und NERV-Oberbefehlshaber Gendo Ikari hatte es nicht einmal für nötig befunden, sie persön-lich zu begrüßen, hatte stattdessen diese seltsame Frau geschickt, die sich mit dem Third Chil-dren die Wohnung teilte... vielleicht war diese Misato ja die Geliebte vom alten Ikari...
Aber Shinji Ikari war der Schlüssel... wenn sie erst sein Vertrauen besaß, würde er sie sicher auch bald seinem Vater vorstellen - und der mußte dann einfach eingestehen, daß sie die beste EVA-Pilotin war, die es gab, je gegeben hatte und jemals geben würde!


*** NGE ***


Anstatt des Weckers wurde Shinji am nächsten Morgen von den Alarmsirenen aus dem Schlaf gerissen. Ungewaschen und ohne Zähne zu putzen hetzte er mit Misato los, die ihn zum Haupt-quartier fuhr, auch groß umgezogen hatte er sich nicht, trug nur seine Hose über den Sachen, in denen auch geschlafen hatte.
Während Shinji sich umzog und in seine PlugSuit stieg, fiel ihm an einem der Spinde ein großes Vorhängeschloß auf, in dessen Vorderseite westliche Schriftzeichen eingraviert waren - Asuka.
Also war sie bereits fertig...

Im Besprechungsraum wartete bereits Subcommander Fuyutsuki.
Shinji fand den älteren Mann, der laut Misato früher Professor an einer Universität gewesen war, gar nicht so übel, jedenfalls war er nicht so unnahbar wie sein Vater und ihm schien das Wohl der Piloten nicht ganz egal zu sein.
Ebenfalls bereits anwesend waren Misato und Asuka, deren Anblick in ihrer roten PlugSuit sei-ne Wirkung auf Shinji nicht verfehlte. Nicht zum ersten Mal war er froh, daß das Material sei-ner PlugSuit in der Lendengegend starr war und nicht so hauteng anlag wie sonst überall, er hätte sonst wahrscheinlich Atemnot bekommen und wäre früher oder später vor Scham gestor-ben.
Fast hätte er Rei nicht bemerkt, die in ihren Alltagssachen - besaß sie überhaupt andere Sa-chen? - gegen die Wand lehnte und Asuka nicht aus den Augen ließ.

\"Einer der Patrouillienkreuzer vor der Küste hat ein Unterwasserobjekt geortet, welches sich der Küste nähert. Laut MAGI handelt es sich um einen Engel, Kodename des Zieles: Israfel. Die beiden uns zur Verfügung stehenden EVAs werden umgehend starten und den Engel ab-fangen, bevor er japanischen Boden betreten kann. Noch Fragen? - Keine? Gut, viel Glück!\"
Fuyutsuki nickte ihnen mit ernster Miene zu.
Bei ihm hatte Shinji das Gefühl, daß er sie ernstnahm.

\"Hoffentlich ist das nicht wieder so ein blöder Fisch!\" erklärte Asuka und rauschte an Shinji vorbei zum Hangar.

\"Los, los!\" trieb Misato die beiden übrigen Piloten vor sich her. \"Rei, du bleibst hier.\"

\"Ja.\" bestätigte Rei.
Wohin hätte sie schon gehen sollen? Im Alarmfall war ihr Platz im Hauptquartier, jedoch war ihr EVA immer noch nicht einsatzfähig.
\"Shinji-kun, warte einen Moment.\"

\"Uhm...\"
Er wurde langsamer.
\"Du hast doch gehört...\"

\"Ich habe gestern auf dich gewartet, ich muß dir etwas sagen...\"

\"Rei, der Engel...\"
Damit rannte er die Treppe hinauf, die zu dem Steg führte, von welchem aus er in seinen En-tryPlug steigen konnte.
Der Startvorgang wurde umgehend eingeleitet.
In seiner ComPhalanx leuchtete einer der kleinen Monitore auf, es war Asuka.

\"Hi, Shinji! Hör mal, das ist mein erster Einsatz in Japan, quasi mein Debüt - überlaß mir den Engel, ja?\"

\"Uhm, Asuka, der Engel ist sicher gefährlich, wir sollen zusammen...\"

\"Ach komm, sei ein Schatz, ja? Du konntest schon drei Engel erledigen, während ich nur einen großen doofen Fisch hatte, ich muß doch zeigen, daß die ganze Ausbildung nicht umsonst war. Also, ja?\"

Sie sah ihn mit ihrem Engelsgesicht bittend an, Shinji fiel es schwer, an eine Ablehnung auch nur zu denken.
\"Äh...\"

\"Ja? Super!\"

Misato schaltete sich in die Verbindung ein.
\"Da ihr euer Vorgehen schon abgesprochen habt, ohne auf meine Anweisungen zu warten...\"
Sie klang etwas stinkig. Wenn ein Ernstfall vorlag, haßte sie es, übergangen zu werden.

\"Uhm, entschuldige, Misato.\"

\"Ja, tut mir auch leid!\"

\"Okay, okay, ihr müßt ohnehin zusammenarbeiten. Asuka, wir rüsten dich an der Oberfläche mit einer PROGRESSIVE-Lanze aus, spieß den Engel einfach auf, wenn er an Land geht. - Shinji, du wirst ihr mit einem Positronengewehr Deckung geben.\"

\"Klar.\"

\"Der Engel ist schon so gut wie erledigt!\"

\"Nicht übermütig werden, Asuka!\" warnte Misato.

Dann wurden sie von den Aufzügen an die Oberfläche getragen...


*** NGE ***


Die Endpunkte der Aufzüge lagen am äußersten Stadtrand von Tokio-3, jenseits der Lagerhalle und der Oberflächenindustrieanlagen, auch jenseits der Hügel, welche die Stadt von drei Seiten umgeben.
Vor den beiden EVAs erstreckte sich der blaue Ozean, sie befanden sich an der Küste, verein-zelt ragten die Spitzen von Gebäuden aus dem Wasser, die Region war beim Second Impact überflutet worden und der Wasserspiegel hatte sich seitdem nur unwesentlich gesenkt.

Hinter sich wußten sie die Verteidigungslinien der Stadt, Misato war gerade dabei, Streitkräfte aus den anderen Randsektoren zur Küste zu verlagern, da die dortigen Linien seit dem Angriff Shamsiels noch nicht wieder vollständig hergestellt worden waren.
Die angekündigte Ausrüstung traf ein, ein Gewehr für EVA-01 und eine Lanze mit einer lan-gen PROGRESSIVE-Klinge an der Spitze.

\"Ich übernehme den Engel!\" erklärte Asuka noch einmal. \"Wo bleibt er denn?\"

Da meldete der taktische Computer die rasche Annäherung des Zielobjektes.

\"Er kommt!\" warnte Shinji.

Das Meer schien in Bewegung zu geraten. Eine meterhohe Welle kam auf sie zugeschossen, gekrönt von schaumiger Gischt.
Und mit der Welle kam der Engel, der Shinji von der Farbe her an seinen ersten Gegner erin-nerte. Auch dieser Engel war von schwarzer Farbe, auch er hatte keinen Kopf und überlange Arme, nur endeten diese in dreifingrigen Klauenhänden. An der Oberseite des Rumpfes befand sich eine Art Yin-Yang-Symbol. Der taktische Computer identifizierte diese Stelle als den Sitz des Herzens des Engels.

\"Ach, das ist ja kindereinfach!\" rief Asuka und stieß mit der Lanze zu, als der Engel in ihre Reichweite kam.

\"Asuka, noch nicht! Laß erst Shinji...\"
Misato fluchte, als sie EVA-02 losstürmen sah.
\"Shinji, gib ihr Deckung!\"

\"Klar!\"
Shinji riß das Gewehr hoch und deckte den Engel mit einem wahren Hagel an explodierenden Positronenladungen ein.
Er ließ den Computer den Bereich, unter dem das Herz lag, näher auf dem Monitor heranzoo-men.
Da waren zwei Energiesphären... was bedeutete das denn...?

EVA-02 sprang hoch in die Luft, senkte die Lanze zum Stoß, zerteilte den Engel in der Mitte.
\"Ja!\"

Shinji stellte den Beschuß ein, wartete darauf, daß die Reste des Engels explodierten, wie es ei-gentlich zu erwarten war, die Engel waren halt schlechte Verlierer...
Asuka war verflixt schnell... sicher würde sie eine große Bereicherung für das kleine Piloten-Team sein...
Moment, da tat sich doch etwas...
\"Er bewegt sich noch!\"

\"Unsinn, ich habe ihn doch...\"

Da wurde ihr EVA auch schon von den Beinen geholt und klatschte ins Wasser.
Die beiden Hälften des Engels richteten sich auf, verformten sich, bildeten zwei separate Kör-per, welche äußerlich dem ursprünglichen Engel entsprachen, nur etwas kleiner waren.

\"Z-zwei?\" stieß Shinji überrascht hervor.

EVA-02 rappelte sich wieder auf, kam auf die Beine.
\"Was? Zwei? Was ist denn das? So was von unfair!\"
Asuka packte die Lanze mit beiden Händen.

Shinji lud in fieberhafter Eile das Gewehr nach.
Vielleicht konnten sie die beiden kleineren Engel ja rasch besiegen... vielleicht kam es zu kei-nem Nahkampf... vielleicht...

\"Paßt auf, ihr beiden!\" brüllte Misato.

Die beiden Engelszwillinge setzten sich in Bewegung.

Shinji feuerte in der Hoffnung, daß vielleicht auch ihr AT-Feld nur die halbe Stärke besaß, wurde aber von den wirkungslos verpuffenden Explosionen eines Besseren belehrt.
\"Asuka, ziel auf sein Herz!\"
Wenn Asuka erst einen der Gegner erledigt hatte, konnten sie sich den anderen zusammen vor-nehmen...

EVA-02 hob wieder die Lanze, stieß zu, doch der Engel wischte die Klinge einfach zur Seite, packte den Lanzenschaft und zog EVA-02 an sich heran.

Zugleich machte sein Zwilling einen Satz nach vorn durch den Geschoßhagel, mit dem Shinji ihn immer noch überschüttete, umklammerte EVA-01 und hob ihn hoch.

\"Nein...!\" flüsterte Shinji, als sein EVA wie ein Blatt angehoben wurde.
Zugleich meinte er wieder ein leises Wispern zu hören, das direkt von seinem EVA ausging, ei-ne Aufforderung, die Kontrolle abzugeben. Er spürte wieder diesen Durst nach Lebenskraft, stemmte sich gegen den dunklen Zorn, der auf ihn zuwogte.
Daß der Engel ihn durch die Luft warf, bekam er fast gar nicht mit, auch nicht, daß es EVA-02 ähnlich erging.

Die beiden EVANGELIONs kollidierten in der Luft, stürzten dann schlagartig zu Boden und krachten in eine Häuserruine.

\"Sofort Rückzug!\" befahl Misato.

Shinji hatte Schmerzen am ganzen Leib, auf Händen und Knien krabbelte er auf den Aufzugs-schacht zu. Sein EVA weigerte sich, sich aufzurichten, der Schadensmonitor blinkte nur noch in einem tiefen Dunkelrot, daß sein Versorgungskabel gekappt worden war, fiel da kaum ins Gewicht.
\"Asuka...\"

EVA-02 setzte sich ebenfalls langsam in Bewegung, folgte ihm.

\"Wir lenken die Engel ab! Beeilt euch!\"

Eine Bomberstaffel tauchte am Himmel auf und ließ ihre Fracht auf die Zwillingsengel fallen, Explosionen peitschten das Wasser auf, schienen die Engel aber nicht zu beeindrucken, so sie sie überhaupt wahrnahmen.

Shinji schleppte sich weiter.
Über die Synchronverbindung kamen nur Schmerzimpulse. Der EVA litt...
Die Wahrnehmung flackerte, das Bild auf dem Hauptmonitor war unscharf.
Shinji hatte kaum Gefühl in den Gliedmaßen.
Mit letzter Kraft erreichte er die Liftplattform, ließ sich einfach fallen.


*** NGE ***


Die meisten Schmerzen waren verschwunden, sobald die Synchronverbindung getrennt worden war, die übrigen resultierten von diversen blauen Flecken, die Shinji sich während der Kollision und des folgenden Sturzes zugezogen hatte.
Nachdem er den EntryPlug verlassen hatte, konnte er sehen, daß sein EVA einen reichlich ver-beulten Eindruck machte. Akagis Techniker waren bereits damit beschäftigt, an verschiedenen Stellen die Panzerung zu entfernen, um an die darunterliegenden technischen Elemente zu kommen.

Asukas EVA sah auch nicht besser aus, der rechte Arm war merkwürdig verdreht, als ob er ge-brochen war. Die Rothaarige, welche ebenfalls ihren Plug verlassen hatte, rieb sich den Arm, sah dabei Shinji einen Augenblick lang böse an.
Gerade als er ansetzte, sie zu fragen, was er in ihren Augen falsch gemacht hatte, normalisierte sich ihr Gesichtsausdruck wieder - sie hatte gesehen, daß Misato herangehetzt kam.

\"In den Besprechungsraum!\"

Sie folgten ihr.

In dieser Sekunde bebte kurz die Erde.

\"Was war das?\" rief Asuka, bekam aber keine Antwort.

Im Besprechungsraum wartete bereits der Subkommandant und sah sie mit ernster Miene an.
Neben ihm saß Gendo Ikari, die Hände gefaltet, und blickte die beiden Piloten durch seine dun-klen Brillengläser ohne zu blinzeln an.
Und neben dem Kommandanten saß Rei mit ausdrucksloser Miene.

Shinji wurde der Mund ganz trocken, während sein Vater ihn musterte, als wäre er ein lästiges Insekt.

\"Die nördlich von Tokio-3 stationierten UN-Truppen haben gerade eben eine N2-Mine direkt über dem Zwillingsengel zur Explosion gebracht, sein Vordringen wurde vorerst gestoppt.\" er-klärte Fuyutsuki.

Der Bildschirm an der Wand zeigte die beiden Engel, welche im hüfthohen Wasser standen, beide ähnelten leblosen Statuen, ihre Oberfläche brodelte und dampfte.

\"Uh... Sind sie tot?\" flüsterte Shinji.

\"Nein, die Explosion hat lediglich 28% der Körpermasse verbrannt, den Hochrechnungen zu-folge werden sie einige Zeit brauchen, um den Schaden zu regenerieren - und diese Zeit wer-den wir auch bitternötig haben, denn auch eure EVAs wurden derart schwer beschädigt, daß Doktor Akagi ihrer ersten vorsichtigen Schätzung nach etwa fünf Tage braucht, um sie wieder einsatzfähig zu bekommen.\"

\"Kann man nicht noch eine Mine draufwerfen?\" fragte Asuka.

Fuyutsuki sah sie fassungslos an.
\"Wir hatten bereits Glück, daß diese hier keine Katastrophe verursacht hat! Weitere N2-Minen sind keine Option!\"

Gendo Ikari holte Atem.
Im Raum schien die Temperatur um mehrere Grade zu fallen.
\"Piloten!\"

Shinji und Asuka zuckten heftig zusammen.
Die Stimme des älteren Ikari war kraftvoll.
\"Ja?\"

\"Was ist eure Aufgabe?\"

\"Die EVAs steuern?\" fragte Asuka, was ihr einen finsteren Blick einbrachte.

\"Nein. Die Engel zu besiegen! NERV existiert nicht, um sich mit solch erbärmlichen Auftritten zu blamieren!\"
Abrupt stand der Kommandant auf und ging zur Tür.

\"Kommandant...\" protestierte Asuka leise.

Rei warf Shinji einen kurzen Blick zu, dann folgte sie seinem Vater durch die Tür.
Sie hoffte, daß Shinji-kun die Warnung verstanden hatte.

Doch dem war nicht der Fall, Shinji war die Bedeutung ihres Blickes völlig entgangen, für ihn zählte nur, daß sie seinem Vater gefolgt war...

Auch Misato verließ eilig den Raum, so daß die beiden Piloten allein zurückblieben.

\"Argh!\" schrie Asuka auf. \"Das darf doch nicht wahr sein! Woher hätten wir denn wissen sol-len, daß soetwas passiert!\"

\"Asuka, beruhige dich!\" rief Shinji.

\"Nein, das ist doch zum Heulen - mein erster Kampf in Japan und... und...\"
Wieder sah sie ihn wütend an.
\"Konntest du nicht ausweichen?\"

\"Uh, nein... tut mir leid...\"
Weshalb entschuldigte er sich eigentlich? Den Zusammenstoß hatte er doch ebensowenig ver-meiden können wie sie.

\"Und Kommandant Ikari war wütend... sogar First hat mich voller Verachtung angesehen! Sie halten mich für unfähig!\"
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf.

\"Das... das ist doch Unsinn...\"
Rei hatte Asuka doch gar nicht angesehen... und wenn Asuka nicht so vorschnell gewesen wä-re, hätte die Situation vielleicht anders ausgesehen, auch wenn Shinji daran nicht sonderlich glaubte.

\"Nein? Ich sage dir aber... Sag mal, Shinji, kannst du nicht mit deinem Vater sprechen und das ganze geraderücken? Sicher wird er etwas anderes sagen, wenn ihr unter euch seid...\"

Shinji wurde speiübel.
\"Da kennst du meinen Vater schlecht...\" murmelte er.

\"Wieso denn?\" fuhr Asuka auf. \"Willst du mir nicht einmal diesen kleinen Gefallen tun?\"

\"Na, na, wer streitet sich denn da?\" fragte eine Männerstimme von der Tür her, sie kam von einem hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann mit Drei-Tage-Bart.

Asukas Augen leuchteten auf.
\"Kaji!\"
Sie lief zu ihm hinüber und hakte sich bei ihm ein.
\"Es ist nichts.\"

\"Aha.\"
Er sah Shinji an.
\"Du mußt Shinji Ikari sein, nicht wahr?\"

\"Uhm, ja.\"

\"Ich bin Ryoji Kaji, Planungsstab. Freut mich, dich kennenzulernen.\"

\"Äh, ja, ich freue mich auch, Sie kennenzulernen...\"

\"Habe gehört, du wohnst bei Misato.\"

\"Kennen Sie sie?\"

\"\'türlich. Wir waren zusammen auf der Uni, ist aber schon lange her... Gehen wir essen? Ihr müßt doch Hunger haben, oder?\"

\"Klasse! Abendessen mit Kaji!\" jubelte Asuka und himmelte den älteren Mann von der Seite her an.

\"Uhm, Herr Kaji, was ist mit Misato?\"

\"Tja, sie hat anderes zu tun... Verantwortliche müssen nunmal die Verantwortung tragen, nicht wahr?\"


*** NGE ***


In seinem Büro blickte Gendo Ikari über den Grat seiner Fingerknöchel seinen Stellvertreter schweigend an.

Kozo Fuyutsuki stand auf der anderen Seite des Schreibtisches und fühlte sich unwohl.
Er mochte dieses riesige Büro nicht, dabei wußte er, daß es noch ein Kompromiß gewesen war, denn Gendo hatte es ursprünglich viel größer geplant. Überhaupt dachte der andere ei-gentlich nur in großen Maßstäben...

Ikari räusperte sich.
\"Ich muß fort.\"

Fuyutsuki gelang es, die Augenbrauen nicht mißbilligend zu heben.
In der gegenwärtigen Situation mußten alle Kommandooffiziere anwesend sein!

\"Die Bergung der Lanze hat begonnen, ich will die Überführung persönlich beaufsichtigen, da-mit es zu keinen Zwischenfällen kommt.\"

\"Rechnest du mit einer Aktion von Seiten SEELEs?\"

Ikari nickte.
\"Den alten Männern ist alles zuzutrauen. Sie wollen ihren Plan vorantreiben, wenn wir die Lan-ze haben, gewinnen wir zugleich etwas Luft für mein Szenario.\"

\"Ja.\"
Fuyutsuki ließ sich seine Gedanken nicht anmerken.
Ikaris Szenario... Ikaris Plan... wenn dieser Plan nicht miteingeschlossen hätte, Yui zurückzu-holen, hätte er sich niemals darauf eingelassen, sondern Gendo bereits vor über zehn Jahren den Behörden übergeben, zusammen mit dem Wissen, welches er über ihn angesammelt hatte... stattdessen war er zu seinem Komplizen geworden...

\"Kommst du hier allein klar?\"

\"Muß ich wohl... Wenn die Kinder die Engel nicht aufhalten können, ist es ohnehin egal, wo du zu diesem Zeitpunkt bist.\"

Ikari ignorierte die verbale Spitze.
\"Ich breche morgen auf. Katsuragi hat freie Hand.\"

\"Gut.\"
Fuyutsuki selbst verstand ohnehin kaum etwas von Taktiken und Strategie, seine Stärke lag mehr in der Menschenführung und -motivation.


*** NGE ***


Misato schüttete eine Kiste mit Papieren auf einen der Tische in Ritsuko Arbeitszimmer.
\"Weißt du, was das ist?\"

\"Fanpost?\"

\"Nein. - Beschwerdebriefe und Proteste der Ministerien und verschiedener Gruppen... Scha-densberichte... und - meine Favoriten - Rechnungen und Kostenvoranschläge. Die UN wollen die Kosten ihres Einsatzes ersetzt haben, wahrscheinlich rechnen sie damit, daß NERV nicht mehr lange existiert... Aasgeier!\"

\"Immerhin stehen diese beiden Engelszwillinge direkt vor unserer Haustür.\"

\"Und, wo lange werden sie brauchen, um sich zu regenerieren?\"

\"Fünf Tage.\"

\"Wie lange wirst du für die EVAs brauchen?\"

\"Auch etwa fünf Tage.\"

Misato holte sich einen Kaffee.
\"Also sind beide Seiten bewegungsunfähig...\"

\"Ja, es wird ein Wettlauf werden, unsere Techniker arbeiten in Doppelschichten rund um die Uhr.\"

\"Werdet ihr es schaffen?\"

Ritsuko blickte Misato lange an, nickte dann.
\"Ja.\" antwortete sie entschlossen. \"EVA-01 und -02 werden rechtzeitig kampfbereit sein.\"

\"Und EVA-00?\"

\"Nein. Das schaffen wir nicht. Mit dem Konvoi sind zwar auch einige Ersatzteile gekommen, auf die ich gewartet hatte, aber ich habe einfach keine Leute, die ich entbehren kann, tut mir leid, ich kann dir keinen zahlenmäßigen Vorteil verschaffen.\"

Misato seufzte.
\"Haben die MAGI bereits etwas zu dem Engel? Etwa, warum er sich teilen konnte?\"

\"Nein. Wenn du aber mich fragst... ich denke, es war eine Falle.\"

\"Eine Falle?\"

\"Ja. Die Engel lernen, wie ich schon gesagt habe. Der Fischengel sollte unsere Verstärkung vernichten... und dieser hier setzte auf Beweglichkeit und den Überraschungsmoment.\"

\"Hm... Die Bewegungsmuster...\"

\"Die MAGI haben das bereits analysiert. Die beiden Hälften... oder Zwillinge... haben sich völ-lig gleich bewegt, nur spiegelverkehrt.\"

\"Also synchron...\"

\"Ja, als ob sie ein gemeinsames Gehirn haben. Mit ihrem Rhythmus haben sie unsere Piloten völlig überrumpelt.\"\"

\"Hm... man müßte sie also aus dem Takt bringen... nur wie...\"

\"Beim nächsten Fehlschlag wirst du sicherlich gefeuert... Ikari war stinksauer...\"

\"Sag mal, wie wäre es mit ein wenig Anteilnahme? Dafür, daß du meine älteste Freundin bist, fühle ich mich wirklich im Regen stehengelassen!\"

\"Ich hätte da etwas, um deine Stellung zu sichern...\"
Sie zog eine Diskette aus der Tasche ihres Laborkittels.

\"Was ist das? Gib her! Ist ja toll! Was ist da drauf? Was hast du dir einfallen lassen?\"

Ritsuko lächelte.
\"Die ist leider nicht von mir.\"

\"Nein? Von wem dann?\"

\"Von Kaji, er war vorhin hier und hat mit mir ein ähnliches Gespräch geführt.\"

Misato starrte auf die Diskette in ihren Händen.
Ihr Blick umwölkte sich.
\"Ich will sie nicht!\"
Sie hielt die Disk Akagi hin.

Diese ignorierte die Diskette, welche sich direkt vor ihrem Gesicht befand.
\"Du möchtest also lieber gefeuert werden, ja?\"

Misato knirschte mit den Zähnen.


*** NGE ***


Kaji gab sich während des Essens die größte Mühe, das angeknackste Selbstvertrauen der bei-den Piloten wieder aufzubauen, wobei er die schmachtenden Blicke, welche Asuka ihm zuwarf, gar nicht zu bemerken schien.

Dann kam über Lautsprecher die Mitteilung, daß Shinji und Asuka sich in Konferenzraum-2 einfinden sollten.

Kaji schickte sie auf den Weg, lächelte dabei, als wüßte er mehr.

Die beiden erwartete eine große Überraschung, Misato fing sie noch vor dem Konferenzraum ab.
\"Kommt mit, ich glaube, wir haben einen Weg, wie wir mit dem Zwillingsengel fertig werden können!\"
Sie führte sie in jenen Trakt des Hauptquartiers, in dem die Wohnquartiere lagen, und dort in ein größeres Zimmer, in welchem zwei Betten und eine Stereoanlage standen.
Das ganze sah aus wie ein Doppelzimmer.

\"Was sollen wir hier?\" fragte Asuka.

\"Ihr werdet hier die nächsten Tage zusammen wohnen.\"

\"Was?\" kam es aus zwei Kehlen.

\"Ja, ihr habt richtig verstanden. Ihr werdet die nächsten Tage zusammen verbringen. Ihr werdet zusammen essen und zusammen schlafen - letzteres natürlich in getrennten Betten.\"

\"Aber... aber das geht nicht!\" rief Asuka und lief puterrot an.

Auch Shinji wurde knallrot.
Nein, das ging doch wirklich nicht. Wenn Asuka kein Mädchen gewesen wäre, hätte er wohl keine Probleme damit gehabt, aber so...

\"Es ist aber grundlegend für unsere Strategie - die beiden Engelszwillinge bewegen sich in ei-nem gemeinsamen Rhythmus, um diesen zu stören, werdet ihr eure Manöver ebenfalls syn-chron durchführen und mit eurem eigenen Rhythmus dagegenhalten. Morgen beginnen wir mit einfachen Übungen, damit ihr euer Tempo aufeinander abstimmen könnt. Doktor Akagi ent-wickelt in der Zwischenzeit eine Choreographie für eure Manöver, dazu gehen wir in drei Ta-gen über. Am Nachmittag des vierten Tages finden Synchronisations- und Reaktivierungstests statt, Ritsuko will bis dahin die EVAs lauffähig haben, in der folgenden Nacht werden sie dann wieder zusammenmontiert. Und am fünften Tag werdet ihr diesem Engel die Leviten lesen!\"

Shinji gab ein langgezogenes \"Uh...\" von sich...


*** NGE ***


Bald darauf hatte Misato sie alleingelassen, damit sie sich einleben konnten.

Shinji stand vor seinem Bett und machte ein ratloses Gesicht.
Wie sollte er nur die nächsten Tage überstehen? Er kannte Asuka doch kaum. Sicher, sie schien ganz nett zu sein, doch wenn statt ihrer Rei seine Zimmergenossin gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich wohler gefühlt.
Auf so eine verrückte Idee konnte doch auch nur Misato kommen...
Plötzlich wurden ihm von hinten die Beine weggetreten.
Shinji erhielt einen kräftigen Stoß in den Rücken, der ihn auf das Bett warf, jemand packte sei-nen Arm und drehte ihn ihm auf dem Rücken.
\"Au!\"
Seine protestierender Schmerzensschrei brach ab, als eine kräftige Hand in seine Haare griff und ihn mit dem Gesicht ins Kopfkissen drückte.

\"Hör mir gut zu, Shinji...\" zischte eine leise Stimme in sein Ohr.
Es war Asukas Stimme...
Ihr warmer Atem streifte sein Ohr.

Shinji wurde Angst und Bange.
Weshalb griff sie ihn an? Wollte sie ihn denn umbringen? Er bekam kaum Luft!

\"Ich werde dir das nur einmal sagen. Ab sofort gelten hier ein paar Regeln. Regel Nummer Eins: Solltest du mir wieder auf den Busen starren, breche ich dir den Arm. Klar?\"

Shinji spürte, daß der Druck auf seinen Hinterkopf nachließ, nickte heftig.

\"Gut. Regel Nummer Zwei: Solltest du so etwas tun, wie versuchen, mich beim Duschen zu beobachten, breche ich dir den anderen Arm. Verstanden?\"

Wieder nickte er, vor Panik unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.

\"Sehr gut. Regel Nummer Drei: Du hast auf meiner Seite des Zimmers nichts verloren. Sollte ich dich dennoch dort erwischen, sei es, daß du meine Sachen durchwühlst, sei es, daß du ein-fach nur dumm \'rumstehst, dann... nun, das wirst du dann schon sehen. Ist das bis hierhin klar?\"

Er schaffte es, ein unterdrücktes \"Ja\" über die Lippen zu quetschen.

\"Brav so. Eines noch: Solltest du mich noch einmal so blamieren wie bei dem Kampf heute, ziehe ich dir Haut ab, nur damit du es weißt.\"

\"A-Asuka, was soll das? Ich... ah...\"
Im nächsten Moment schrie er auf, als sie den Druck auf seinen Arm verstärkte.
Zugleich spürte er, wie etwas kaltes seine Wange berührte. Er schielte danach, sah, daß sie ein langes Messer in der Hand hatte.
Ja, war sie denn verrückt geworden?

\"Was hast du denn? Oh, das... ja, ich weiß mich zu wehren... nur damit du nicht auf dumme Gedanken kommst...\"

\"Ah... bitte... warum... ich habe dir doch nichts getan...\"

\"Ihr Jungs seid doch alle gleich.\" murmelte sie monoton.
Dann ließ sie ihn los und ging in ihre Hälfte des Raumes.

Shinji rollte sich zu einem zitternden Ball zusammen, wagte nicht einmal, auch nur zu ihr hin-überzusehen.

Asuka lächelte.
Dem hatte sie es gezeigt... Shinji hatte sich ja um ein Haar in die Hosen gemacht!
Immer noch zufrieden lächelnd legte sie das unterarmlange Messer unter ihr Kopfkissen, nur für den Fall, daß er sich nicht an die von ihr festgelegten Regeln hielt. Dann würde sie ihm schon zeigen, wie gut sie mit der Klinge umzugehen verstand, wie gut ihr Onkel sie unterrich-tet hatte... kurz erinnerte sie sich an eine ihrer ersten Trainingsstunden im Hinterhof des Hau-ses, in dem sie mit ihren Pateneltern gewohnt hatte, berührte die Kerbe in ihrem linken Ohr, wo sie sich damals selbst geschnitten hatte... soetwas war nie wieder vorgekommen...


*** NGE ***


Als Misato sie am nächsten Morgen in aller Frühe weckte, um nach einem leichten Frühstück mit dem Synchrontraining beginnen zu können, verhielt Asuka sich wieder völlig nett und freundlich. Shinji war fast gewillt zu glauben, daß er alles nur geträumt hatte, daß er sich ihre Drohungen nur eingebildet hatte. Dagegen sprachen allerdings seine immer noch schmerzende Schulter und die Tatsache, daß er in seinen Sachen geschlafen hatte, weil er es nicht gewagt hatte, noch einmal aufzustehen und sich umzuziehen.

Jedenfalls warf er immer wieder ängstliche Blicke zu Asuka hinüber, ob diese vielleicht ihr Messer bei sich hatte.

\"Shinji, was ist denn los?\" erkundigte Asuka sich zuckersüß.

Shinji schluckte.
Wenn er Misato von der Sache erzählte, würde sie diesen Alptraum vielleicht beenden... aller-dings... warum sollte Misato ihm glauben? Asuka verhielt sich ihr gegenüber doch völlig brav, sie erwähnte sogar immer wieder, wie sehr sie sich darauf freute, mit Shinji zusammenzuarbei-ten.
\"N-nichts... ich habe nur... nur etwas unruhig... geschlafen...\"

\"Nanu\", machte Misato. \"Ich dachte, das hätte sich gegeben.\"

\"Uhm, das Zimmer ist ungewohnt... ja...\"
Am liebsten hätte er ihr zugeschrien, ihn sofort hier \'rauszuholen, doch wer wußte schon, wo-zu Asuka imstande war... dieses Messer war wirklich riesig gewesen...

\"Ah, ja. Gut, äh, dann können wir ja mit dem Training anfangen...\"
Sie hatte in der vorderen Hälfte des Raumes zwei Matten ausrollen lassen, die ein buntes Punk-temuster aufwiesen. Vor den Matten stand jeweils ein Monitor.
\"Also, aufgepaßt: Auf den Bildschirmen werden nacheinander verschiedene Farbmuster ge-zeigt, ihr müßt mit Händen und Füßen die entsprechenden Felder auf den Matten berühren. Das Tempo ist zunächst langsam, so daß ihr euch eingewöhnen und die Position der einzelnen Farbfelder merken könnt, später beschleunigen wir dann. Zieht euch erstmal um.\"

Auf den Betten lagen farblich identische Kleidungsstücke, dabei handelte es sich jeweils um ei-ne schwarze knielange Stretchhose und ein ebenfalls schwarzes T-Shirt.

Asuka kicherte.
\"Ich kann mich doch nicht im selben Zimmer umziehen wie Shinji.\"

Misato grinste.
\"Stimmt.\"

Shinji hoffte, daß Misato Asuka ins angegliederte Badezimmer schicken würde, damit er mit ihr unter vier Augen sprechen konnte, leider erfüllte Misato seinen stummen Wunsch nicht.

\"Shinji, komm schon, sei ein Gentleman und geh nach nebenan.\"

\"Ja...\"
Er preßte die Lippen zusammen.


*** NGE ***


Misato wollte gerade mit dem Training beginnen - die Kinder waren bereits in Startposition am unteren Ende der Matten -, als Kaji den Raum betrat, Asukas aufgeregtes \"Kaji!\" ignorierte und sich direkt an Misato wandte:
\"Ich muß kurz mit dir sprechen.\"

\"Wir haben zu tun.\"

\"Es ist wichtig.\"

\"Na, hoffentlich. Wir haben nicht viel Zeit!\"
Sie folgte ihm auf den Flur.
\"Also?\"

\"Katsuragi, ich habe gerade erst erfahren, daß du die beiden in einem Raum zusammengesteckt hast... glaub mir bitte, das ist nicht klug!\"

\"Wieso? Hast du Angst, Shinji würde über Asuka herfallen? Da brauchst du keine Sorge ha-ben, ich kenne ihn gut genug, um für ihn bürgen zu können, daß er soetwas nicht einmal in Er-wägung ziehen würde.\"

\"Es ist nicht wegen Asuka... um die brauche ich keine Angst zu haben.\"

\"Ach, was dann?\"

\"Hör zu, ich darf nicht ins Detail gehen... aber das kann nicht gutgehen.\"

\"Du hast mir doch die Diskette geschickt!\"

\"Aber das\", er deutete auf die Tür, \"war nicht Teil meiner Idee.\"

\"Geht es darum? Weil ich deine Idee ein wenig verändert habe?\"

\"Nein, Katsuragi...\"

\"Worum dann?\"

Kaji schwieg.
Er erinnerte sich an jede Nacht vor über zweieinhalb Jahren, als er in seinen Pflichten versagt hatte, als er versagt hatte, Asuka zu beschützen. Er erinnerte sich daran, daß ihr Onkel ihm das Versprechen abgenommen hatte, daß diese Nacht niemals erwähnt werden würde, nachdem sie die furchtbar zugerichtete Leiche Fresenharks beseitigt hatten...
Er durfte ihr nicht mehr sagen, wollte er sein Wort nicht brechen. Zugleich fürchtete er um den Jungen, der sicher nichts davon ahnte, daß Asuka ein atmende Zeitbombe war...

\"Gut, dann gehe ich jetzt wieder \'rein. Wenn du das nächste Mal störst, dann bitte mit etwas wichtigem!\"

\"Katsuragi...\" setzte Kaji an, sprach aber bereits mit der geschlossenen Tür.

Drinnen atmete Shinji verhalten auf, als Misato zurückkam. Asuka hatte ihn die ganze Zeit über beobachtet wie ein hungriger Hai einen hilflosen Schwimmer im tiefen Wasser. Jetzt setz-te sie wieder ihre freundliche Miene auf.

\"Kann Kaji uns nicht Gesellschaft leisten?\"

\"Kaji ist beschäftigt\", erwiderte Misato gereizt.

\"Och.\"

\"So, keine weitere Zeit vergeuden! Los geht\'s!\"
Sie aktivierte die Apparatur.


*** NGE ***


Bis zum Mittag waren sie keinen Schritt weitergekommen.
Die beiden schienen ihren jeweiligen Rhythmus einfach nicht aneinander anpassen zu können, entweder hinkte Shinji einen Augenblick hinterher oder Asuka war zu schnell.
Misato sah, daß der inzwischen heftig schwitzende Shinji sich alle Mühe gab, mit Asuka Schritt zu halten, doch es war Asuka, welche letztendlich das Tempo vorgab und Shinji hinter sich zu-rückließ.
\"Asuka, du mußt dich besser auf Shinji einstellen!\"

\"Natürlich!\" flötete sie zurück.

Wieder gab es nur eine leichte Mahlzeit, dann erlaubte Misato den beiden, zu duschen und sich etwas auszuruhen, wobei sie die von Kaji ausgesuchte Melodie, zu welcher Ritsuko und die MAGI momentan eine an die Verhältnisse an der Oberfläche angepaßte Choreographie entwar-fen, spielte.

Shinji spielte mit dem Gedanken, sich einfach im Bad einzuschließen und nicht mehr herauszu-kommen, solange Asuka im Nebenraum war, konnte sich aber nicht dazu durchringen.

Nach einer zweistündigen Ruhepause, in der die beiden Piloten wie erschlagen auf ihren Betten lagen, setzte Misato das Training fort, ohne bis zum Abend nennenswerte Fortschritte zu erzie-len.
Seufzend verkündete sie, daß sie morgen weitermachen würden, und verließ das Zimmer.

Kaum war Misato verschwunden, setzte Asuka sich auf und warf Shinji wahrhaft tödliche Blicke zu.
\"Das ist alles deine Schuld!\"

\"Wieso? Ich... ich gebe mir alle Mühe...\"

\"Ja, sicher doch. Aber was kann ich auch von einer Pappnase wie dir erwarten? Erst versaust du mir mein Debüt in Japan, dann stehe ich vor dem Kommandanten wegen dir wie eine An-fängerin da und jetzt muß ich mich auch noch mit dir und deinem Gejammer herumschlagen. Ich wette, dein Vater kritisiert dich nie!\"
Damit löschte sie das Licht.

Shinjis Atem stockte.
Warum mußte sie immer wieder von seinem Vater sprechen? Glaubte sie wirklich, er und sein Vater würden miteinander klarkommen?
\"Nein, das tut er nicht\", murmelte Shinji und drehte sich auf die Seite.
In diesem Moment war es ihm völlig egal, ob sie ihm im Schlaf vielleicht die Kehle durch-schnitt...
Stattdessen traf ihn etwas hartes am Kopf.
\"Au!\"
Er rollte sich seitlich aus dem Bett, ging in Deckung.
Doch alles blieb still.
Er tastete über seinen Hinterkopf, fühlte eine rasch anschwellende Beule.
Dann tastete er über sein Kissen, fand schließlich den Gegenstand, mit dem sie ihn getroffen hatte - einen Schuh...

In dieser Nacht tat er kaum ein Auge zu, wagte nicht, auch nur das geringste Geräusch zu ma-chen.
Asuka knirschte abwechselnd mit den Zähnen und gab laute Schnarchgeräusche von sich.


*** NGE ***


Misato setzte das Training nach demselben Schema wie am Vortag fort.
Doch wieder gab es kaum eine Verbesserung, jenseits einer bestimmten Geschwindigkeitsstufe gingen die Reaktionen der beiden Teenager derart auseinander, daß abzusehen war, wann sie völlig unsynchron werden würden.

Diesesmal war auch Kaji anwesend, er hatte sich schweigend hinzugesellt und beobachtete das Geschehen, wobei Misato ihn nach Kräften ignorierte. Und er hatte Rei mitgebracht. Da Kom-mandant Ikari nicht anwesend war, hatte niemand ihn daran hindern können, das First Children anzufordern, welches ihn mit überraschender Bereitwilligkeit begleitet hatte.

\"Was denkst du?\" fragte Misato.

Kaji zog die Augenbrauen hoch.
\"Du redest noch mit mir?\"

\"Ist ja sonst keiner hier außer dir und Rei.\"

\"Okay... ahm... das sieht aus, wie der Tanz von Affe und Kranich.\"

\"Ja, das trifft es. - Kinder, stop, stop! Shinji, du bist viel zu steif, höre mehr auf die Musik!\"

\"Ja, tut mir leid.\"
Shinji blickte zu Boden.

\"Und, Asuka, wie oft muß ich es dir noch sagen: Paß dich besser an Shinji an!\"

\"Wie, an diese Schnecke?\"

Asuka schluckte, schüttelte in einer entschuldigenden Geste den Kopf.
\"War nicht so gemeint. Aber wie soll ich denn mein Tempo senken, dann werde ich zu lang-sam!\"

\"Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied! Also, noch mal!\"

Diesesmal lief es etwas besser, jedenfalls ließ Shinji sich mehr von der Musik leiten und berühr-te intuitiv die richtigen Stellen auf der Matte. Jetzt kam ihm endlich seine musikalische Bega-bung zugute.
Sogar Asuka wurde etwas langsamer, schien endlich eingesehen zu haben, daß sie sich an Shin-jis Tempo anpassen mußte. - Und dann glitt sie plötzlich aus und trat Shinji mit voller Wucht in die Rippen...
Shinji sah nur noch Sterne, während er sich auf den Rücken wälzte und nach Luft schnappte.
Asuka kniete sogleich neben ihm und stammelte Entschuldigungen, welche Shinji jedoch alles andere als ehrlich vorkamen. Und nicht nur ihm...

Rei hatte die Augen zusammengekniffen und war bereits einen Schritt auf die beiden zugegan-gen, als sie von Kaji zurückgehalten wurde. Sie protestierte nicht, rief auch nicht, daß Soryu absichtlich nach Shinji-kun getreten hatte, daß sie ihren Ausrutscher nur vorgetäuscht hatte, daß sie ihrem Shinji-kun wehgetan hatte... und sie stürzte sich auch nicht auf die Rothaarige, um ihr das Genick zu brechen, wie sie es im ersten Augenblick vorgehabt hatte.
Niemand durfte Shinji-kun verletzen, nicht solange sie über ihn wachte... und doch war es ge-schehen... sie hatte versagt, sie hätte eher... nein, es wäre gar nicht möglich gewesen. Und trotzdem fühlte sie sich verantwortlich.

Kaji ging an ihr vorbei, hockte sich neben Shinji, half ihm, sich aufzusetzen.
\"Geht\'s?\"

\"Shinji?\" fragte Misato.

\"Ja, ja, es geht...\" murmelte Shinji mit verkniffenen Gesicht.

\"Wir machen besser eine Pause...\"

Kaji schüttelte den Kopf.
\"Nein, Katsuragi, ich habe eine andere Idee. Asuka, mach mal Pause, Shinji bekommt Sonder-training!\"

Asukas Mundwinkel zuckten.
Endlich hatte Kaji eingegriffen, sicher würde er dieses Weichei Ikari jetzt auf Touren bringen. Warum sollte sie schließlich ihr Niveau senken, das war ja absolut lächerlich und noch dazu un-zumutbar...

\"Sondertraining?\" japste Shinji und verdrehte die Augen.
\"Ich glaube, mir... ah... mir geht es gar nicht gut...\"

\"Hör auf zu scherzen! Auf die Beine, wenn das alles vorbei ist, kannst du dich von mir aus so lange ausruhen, wie du willst!\"

Ja, wenn er das überlebte!

\"Rei, komm \'rüber. Hast du dir den Bewegungsablauf eingeprägt?\"

\"Ja.\"
Rei setzte sich in Bewegung, nahm neben Shinji Aufstellung.

Überrascht sah Shinji sie an - und stellte fest, daß sie ihn aufmunternd anlächelte.
Ihr Lächeln verfehlte seine Wirkung nicht, er glaubte fast zu spüren, wie neue Energie durch seinen Körper schoß, wie der Schmerz in seiner Rippengegend verblaßt und verkrampfte Mus-keln sich lockerten.

\"Kaji, was wird das?\" flüsterte Misato.

\"Wart\'s ab. Vielleicht müssen wir einfach nur ein Glied der Kette auswechseln...\"

\"Na gut... - Also, ihr beiden, los geht\'s!\"

Shinji bewegte sich wie im Traum, folgte nur der Musik, ließ sich tragen, bis es nur noch zwei andere Geräusche neben der Musik gab, seinen eigenen Herzschlag und einen weiteren, der völlig synchron mit dem seinen war.

Misato staunte.
Shinji und Rei bewegten sich mit einer Präzision, welche sie die ganzen letzten anderthalb Tage vergeblich gesucht hatte. Die beiden berührten genau zeitgleich die jeweils aufleuchtenden Farbfelder, verhielten sich, als ob ihre beiden Körper von einem einzigen Geist gesteuert wur-den.
\"Kaji, das...\"

\"Katsuragi, damit habe ich auch nicht gerechnet... wie Spiegelbilder...\"

Tatsächlich konnte dieser Eindruck entstehen, vergaß man die äußeren Unterschiede zwischen den beiden. Ihre Bewegungen jedenfalls waren völlig synchron, als ob sie seit einer Ewigkeit nichts anderes getan hatten, als sich auf diesen Tag vorzubereiten.

\"Ich muß Ritsuko fragen, wie lange es dauert, die Steuerung von EVA-02 auf Rei umzuschrei-ben...\"

\"Hey, das könnt ihr nicht tun!\" schrie Asuka dazwischen.
Sie sprang von ihrem Bett auf und stampfte auf Kaji und Misato zu, stellte Shinji dabei ein Bein und brachte ihn aus dem Takt.

Zugleich hielt Rei inne und richtete sich langsam auf, bereit bei einer weiteren Aktion gegen Shinji-kun mit der gebotenen Gewalt einzuschreiten.

\"Das könnt ihr einfach nicht... vorhin... da hat die mich völlig gestört und aus dem Takt ge-bracht!\"
Asuka deutete auf Rei.
\"Die stört nur! Und EVA-02 gehört mir!\"

\"Einheit-02 gehört NERV\", korrigierte Misato.

\"Dann gib mir noch eine Chance!\"

\"Asuka, du hattest deine Chance. Aber Shinji und Rei kommen einfach besser miteinander klar.\"

\"Das... Kaji, verhindere das!\"

\"Tut mir leid, Asuka. Katsuragi ist der Einsatzleiter.\"

\"Aber...\"
Sie drehte sich um, warf Rei einen haßerfüllten Blick zu.
\"Dann soll sie ihn doch nehmen!\"
Asuka rannte an Misato und Kaji vorbei aus dem Raum.

\"Ah...\" setzte Shinji an.

Misato preßte sich die Hände gegen die Schläfen.
\"Warum...\"

Kaji legte ihr die Hand auf die Schulter.
\"Asuka kriegt sich schon wieder ein, ich werde mit ihr reden. - Und ihr solltet jetzt erstmal et-was essen, damit ihr fit seid für weitere Trainingsstunden.\" wandte er sich an das neue Piloten-team.

Shinji nickte, wandte sich dann Rei zu, ergriff ihre Hand.
\"Danke, daß du gekommen bist...\"

\"Major Kaji hat mich herbeordert, Shinji-kun.\" korrigierte sie ihn, wünschte sich zugleich, es wäre ihre Idee gewesen. Trotzdem drückte sie seine Hand und ließ sie auch nicht los, als sie zur Tür ging, um dem Captain zur Kantine zu folgen, so daß Shinji-kun ihr folgen mußte.
Kapitel 22 - Herz und Seele

Asuka blickte mit zornverzerrtem Gesicht zu Einheit-01 hinüber. Sie stand auf dem Metallsteg, welcher vor der Brust von EVA-02 verlief.
Es war doch alles die Schuld des Third Children! Wenn dieser Ikari schneller gewesen wäre, wenn er sich ihr hätte anpassen können, wie man es doch wohl von einem EVA-Piloten erwar-ten konnte, wäre es nicht soweit gekommen!
Und jetzt - was blieb ihr?
Sie war von dem Einsatz nicht nur ausgeschlossen worden, nein, diese Katsuragi-Schlampe hatte auch noch bestimmt, daß das First Children ihren EVA-02 steuern würde. Und sie konnte gar nichts dagegen tun, das hatte sie bereits erfahren müssen, als sie versucht hatte, den roten EVANGELION vom EntryPlug aus zu aktivieren. Offensichtlich hatte der NERV-Hauptrech-ner ihre Aktivierungsbefehle überbrückt.
Das First Children würde ihren EVA steuern... allein schon der Gedanke verursachte bei Asuka Übelkeit. Sicher würde sie ihren Liebling beschädigen... überhaupt war EVA-02 auch der einzi-ge Grund, daß sie den beiden anderen Piloten kein Scheitern wünschte, doch wenn ihr eine Möglichkeit eingefallen wäre, wie First während des anstehenden Kampfes verletzt oder gar getötet werden könnte, ohne daß der EVA zu Schaden kam, sie hätte Himmel und Hölle in Be-wegung gesetzt, daß es auch soweit kam.
Wenigstens hatte sie ihre Sachen aus dem Zimmer holen können... noch so eine unfaire Unver-schämtheit, welche dieser Captain sich ihr gegenüber geleistet hatte. Ihrer Ansicht nach gehör-te Katsuragi unehrenhaft entlassen, die Frau war doch völlig unfähig...
Und Third... Ikari war doch ganz klar ein Versager, er hätte aus dem Team ausgeschlossen werden müssen, nicht sie... sie hätte ihn härter treten sollen... oder gleich mit dem Messer einen neuen Haarschnitt verpassen sollen...

\"Das wird euch noch leid tun...\" flüsterte das Mädchen mit den roten Haaren. \"Sehr leid...\"
Mit langsamen Schritten verließ sie den Hangar, ganz in Gewaltphantasien versunken, deren Mittelpunkt die anderen beiden Piloten waren, die ihr ihr Debüt in Japan verdorben hatten.

Vielleicht gab es noch andere Möglichkeiten...


*** NGE ***


\"Misato, das war wirklich knapp\", seufzte Shinji während des Essens.

\"Wieso? - Gut, zwischen Asuka und dir stimmt die Chemie einfach nicht, obwohl ich nicht ganz verstehe, warum sie sich nicht an dein Tempo anpassen konnte, trotzdem ist das jetzt auch nur eine Notlösung.\"

\"Das... ah... das meinte ich nicht...\"
Shinji biß sich auf die Lippe. Sollte er Misato erzählen, wie Asuka wie verhalten hatte, wenn sie allein gewesen waren? Würde sie ihm denn glauben? Offensichtlich hielt sie immer noch große Stücke auf Asuka, dieses Mädchen mit dem Engelsgesicht, hinter dem sich ein wahrer Satan verbarg.

\"Nein? Was ist es dann? Weil sie dich getreten hat?\"

\"Uhm...\"

\"Komm, das war doch nicht Absicht.\"

\"Misato, da...\"
Er schluckte seinen Protest hinunter, als Rei ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß.

\"Captain Katsuragi, weshalb bezeichnen Sie mich als Notlösung?\" fragte Rei ruhig.

\"Rei, nichts gegen dich, aber EVA-02 wurde bisher nur von Asuka gesteuert, die gesamte Software ist im Hinblick auf sie entwickelt worden.\"

Shinji verschluckte sich, begann zu husten.
Wenn EVA-02 Asuka ähnelte, dann konnte er jederzeit im Hangar amoklaufen!

Rei blickte zur Seite, beobachtete Shinji, wie dieser mit rotangelaufenen Gesicht hustete.
Shinji-kun schien keine Luft zu bekommen!
Sie hob die Hand und klopfte ihm auf den Rücken.

Shinji flog nach vorn, konnte sich mit den Händen abfangen, als seine Nasenspitze bereits sei-nen Teller berührte.
Jetzt schlug Rei ihn auch noch... was hatte er denn bloß getan?
Aber wenigstens konnte er wieder atmen.

\"Besser, Shinji-kun?\"
So stark hatte sie ihn gar nicht treffen wollen!
\"Entschuldige.\"

\"Schon... schon gut...\"
Shinji atmete tief durch.
Rei hatte ihn nicht absichtlich so hart geschlagen... aber sie war halt stark, obwohl man es ihr nicht ansah.

Misato stand auf.
\"Alles klar bei dir? - Gut, dann treffen wir uns in einer Stunde wieder in eurem Zimmer zum Training. - Rei, ich lasse dir gerade passende Sachen besorgen. - So, ah, ich denke, ich schaue mal bei Ritsuko vorbei und frage an, wie es mit dem Umschreiben der Steuerung aussieht.\"
Sie verließ die Kantine.

\"Shinji-kun, ist wirklich alles in Ordnung?\"

\"Ja, Rei. Ich war nur überrascht, das ist alles.\"
Shinji war über alle Maßen erleichtert. Der Alptraum der letzten zwei Tage war vorerst ausge-standen.
\"Es ist gut, daß Misato Asuka gegen dich ausgetauscht hat.\"

\"Wir arbeiten besser zusammen.\"

\"Nicht nur das... ahm... dir vertraue ich.\"

Rei nickte, drückte seine Hand, allerdings nur schwach.
Wenn Shinji-kun ihr vertraute, würde sie sein Vertrauen nicht enttäuschen...

Sie kehrten in das Zimmer zurück, welches sie die nächsten Tage zusammen bewohnen wür-den. Dort erwartete sie ein Chaos, welches sich hauptsächlich auf die linke Hälfte des Raumes beschränkte, die Hälfte, welche Asuka zu ihrem Territorium erklärt hatte.
Auf dem Boden lag die Tanzkleidung hingeworfen, daneben das Bettzeug. Das Laken war von der Matratze heruntergerissen worden, die Matratze selbst lag nicht mehr auf dem Lattenrost des Bettes, sondern quer auf dem Bett.
Shinjis Sachen lagen in einer Ecke, vermittelten den Eindruck, gegen die Wand geworfen wor-den zu sein.

Mit einem leisen Aufschrei stürzte Shinji sich auf sein Zeug, sammelte es ein und legte es vor-sichtig auf sein Bett.
Sein SDAT-Player war zerbrochen, die Rückwand aufgeplatzt und das elektronische Innenle-ben quoll heraus.
\"Asuka...\"

Rei sah sich mit unbewegter Miene um, trat dann an das Bett, welches nun ihr Bett sein sollte, heran und richtete die Matratze, warf dann das Bettzeug darauf. Dann wandte sie sich Shinji zu und ihr Gesicht verlor alle Härte und Ausdruckslosigkeit, als sie sah, mit welch verletztem Ge-sichtsausdruck er auf die Teile des Gerätes in seinen Händen blickte, so als ob er selbst zu Schaden gekommen wäre.
Sie ging zu ihm, setzte sich neben ihn.
\"Shinji-kun?\"
Das Gerät mußte ihm etwas bedeutet haben, sonst würde er nicht so reagieren...

\"Sie hat es kaputtgemacht...\" murmelte er.

\"Vielleicht kann man es reparieren.\"

\"Nein, sieh doch...\"
Er hielt ihr die Überreste des SDAT-Player unter die Nase.

Rei sah, daß das Gerät schwere Schäden aufwies.
Und sie verspürte Wut in sich aufsteigen auf das Second Children.

\"Du hattest es gewußt...\"

\"Nein, nur geahnt, daß mit Soryu etwas nicht stimmte... ihre Freundlichkeit war zu übertrie-ben.\"

\"Ja... und ich bin voll auf sie hereingefallen...\"
Shinji ließ den Kopf hängen.

Rei legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich.
\"Sollte sie noch einmal versuchen, dich zu verletzen, werde ich da sein, um sie aufzuhalten.\"

\"Rei...\" kam es dumpf von Shinji, \"sie besitzt ein Messer... sie ist gefährlich...\"

\"Das kann ich auch sein.\"

Eine einfache Feststellung... doch Shinji lief es kalt den Rücken hinab.

Misato betrat den Raum, sah die beiden Teenager auf dem Bett sitzen, wobei Rei den Arm um Shinji gelegt hatte und dieser den Kopf auf ihrer Schulter ruhen ließ.
\"Ä-hem... Als ich sagte, die Piloten müßten bei diesem Einsatz ein Herz und eine Seele sein, meinte ich das eigentlich nicht sprichwörtlich.\"

\"Uhm... Misato...\"

\"Captain Katsuragi, Shinji-kun benötigte Trost.\"

\"Was ist denn passiert?\"

Shinji präsentierte ihr die Reste seines SDAT-Player.
\"Das war Asuka\", fügte er mit Bitterkeit hinzu.

\"Asuka? Habt ihr sie gesehen?\"

\"Nein, Misato, aber das kann nur sie gewesen sein!\"

\"Aber sicher doch nicht mit Absicht. Okay, sie ist wütend, weil sie nicht in den Einsatz kann, aber deswegen wird sie doch nicht deine Sachen mutwillig zerstören, dazu ist sie doch viel zu nett.\"

Shinji sprang auf, ließ dabei die Trümmer fallen.
\"Misato, das stimmt nicht! Asuka ist nicht nett! Asuka ist gefährlich! Sie hat ein Messer!\"

\"Ein Messer?\"

\"Ja, wenigstens so lang.\"
Er deutete die Länge seines Unterarmes an.
\"Sie hat mich damit bedroht!\"

\"Ach, komm! Warum sollte sie denn soetwas tun? Du hast sicher etwas falsch verstanden.\"

In diesem Moment platzte Asuka hinein und baute sich vor Misato auf. Ihre Augen schimmer-ten feucht.
\"Captain, ich muß mit Ihnen sprechen!\"

\"Ah, das trifft sich, Shinji hat mir gerade etwas von einem Messer erzählt, mit dem du ihn be-droht haben sollst.\"

\"Was, ich?\"
Asuka blickte Misato verwirrt an.
\"Ich soll ihn bedroht haben?\"
Jetzt nahm ihr Gesicht einen verletzten Ausdruck an.
\"Wie kann er soetwas nur behaupten!\"

\"Asuka, sicher war es ein Mißverständnis. Aber ich muß dich trotzdem fragen: hast du ein Messer?\"

\"Ja, sicher... mein Taschenmesser... hier.\"
Sie holte ein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche, klappte die Klinge heraus, klapp-te dann eine Feile, einen Schraubenzieher und eine zweite kürzere Klinge heraus.

\"Also, Shinji, das sieht mir kaum nach\", sie wiederholte seine eigene Längenangabe mit den Händen, \"aus.\"

\"Aber sie hat soetwas.\"

Asuka schniefte.
\"Warum verbreitest du solche Lügen über mich, Shinji? Ich habe dich bewundert!\"
Wieder zog sie die Nase hoch.
\"Ist es, weil ich dich versehentlich getreten habe?\"

\"Shinji, also, ich weiß nicht. Wann soll das denn gewesen sein?\"

\"Am ersten Abend, Misato. Glaub ihr kein Wort!\"

\"Aber ich habe doch gar nichts gemacht!\" rief Asuka.

\"Könntest du das vielleicht geträumt haben, Shinji?\"

Misatos Stimme klang nicht so, als ob sie ihm glaubte...
\"Und mein SDAT-Player? Den hat sie auch kaputtgemacht!\"

Misato seufzte.
\"Asuka, was kannst du dazu sagen?\"

\"Das... ich war vorhin so wütend...\"

\"Aha!\" stieß Shinji aus.

\"Und als ich meine Sachen holte... weil ich ja nicht mehr im Team bin... und sicher jetzt Rei hier einziehen will... ich wollte schnell machen, weil ich keinem von euch in die Arme laufen wollte... und da muß ich ihn \'runtergeworfen haben... es tut mir leid, Shinji... ich kaufe dir auch einen neuen... aber warum erzählst du nur solche Lügen?\"

\"Uh...\"
Shinji ließ die Schultern hängen, fing sich aber schon im nächsten Moment wieder.
Nein, noch einmal würde sie ihn nicht täuschen!

Doch auch Misato hatte seine Reaktion bemerkt und für sich interpretiert.
\"Shinji, ich bin wirklich sauer!\"
Zugleich strich sie Asuka über den Kopf.
\"Ist ja gut...\"

\"Captain, ich bin... ich bin eigentlich nur hergekommen, um Sie zu bitten, es sich noch einmal zu überlegen...\"

\"Ja, nach dieser Szene hier... ich könnte dich gegen Shinji auswechseln und Rei nimmt EVA-01...\"

\"Nein.\"

Misato sah auf.
Es war nicht Shinji gewesen, von dem dieses \'Nein\' gekommen war...
Rei stand mit verschränkten Armen zwischen Shinji und ihr und fixierte sie mit ihren roten Au-gen, als wollte sie Misato durchbohren.
\"Rei?\"

\"Ich werde keinen Einsatz mit Soryu durchführen.\"

Misato blinzelte heftig.
Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein... erst Shinji, der sich völlig unverständlich auf-führte, dann Rei, die offen Widerworte gab...

\"Misato, ich habe die bessere Ausbildung, ich gehöre in dieses Team, sonst scheitern wir!\" flü-sterte Asuka mit tränenerstickter Stimme.

\"Ich werde keinen Einsatz mit Soryu durchführen.\" wiederholte Rei.

\"Rei, ich befehle dir...\"

\"Captain Katsuragi, überprüfen Sie bitte folgenden Sicherheitscode: Sigma-Sigma-Delta-Drei-Neun-Eins. Sie werden feststellen, daß ich Ihnen gleichrangig bin, wobei ich natürlich Ihre Fachkenntnisse und Ihre Qualifikation als Senior Offizier während eines Einsatzes anerkenne.\"

Misatos Unterkiefer klappte nach unten.
Was hatte Rei ihr da gerade gesagt? Sie hätte denselben Rang?
\"Ich bin gleich wieder da...\"

Asuka blieb zurück, starrte die anderen beiden Piloten haßerfüllt an.
Wenn die Angaben von First stimmten, nutzte ihr auch ihr eigener Rang nichts.
\"Das werdet ihr noch bedauern!\"
Sie trat auf Rei zu, hob die Hand zum Schlag.

Rei tat nichts, um dem Schlag auszuweichen, oder ihn abzufangen, jedenfalls nichts, was be-merkbar war.

Shinji allerdings fing Asukas Hand am Gelenk ab.
\"Das reicht... Wag. Das. Nicht. Noch. Einmal.\"
Seine eigene Wut und die Stärke, die in seinen Worten lag, überraschte ihn selbst, sofort ließ er sie wieder los.
Seine Finger hinterließen rote Abdrücke auf Asukas Haut.

Mit geweiteten Augen stolperte Asuka rückwärts.
\"So ist das also...\"
Asuka stürmte aus dem Raum, rannte an Misato vorbei, die an einem Computerterminal stand und dort den von Rei genannten Code überprüfte, ohne diese zu beachten.
Das erklärte doch alles... First und Third waren ein Paar, sonst würde der kleine Schwächling sich nicht für diese blasse Porzellanpuppe stark machen... wahrscheinlich genügte schon ein kleiner Schlag, um ihr den Kopf von den Schultern zu hauen, das erklärte auch die hohe Verle-tzungsrate des First Children... aber denen würde sie es schon noch zeigen... solange der Cap-tain auf ihrer Seite war... und Kaji...

Misato sah der davonlaufenden Asuka hinterher, verzichtete aber darauf, sie anzurufen, statt-dessen wandte sie sich wieder dem kleinen Monitor zu, der eigentlich zum InterKom-System des Hauptquartiers gehörte, dort war ein Bild von Rei Ayanami erschienen, über welches langsam Daten scrolten.

Ayanami, Rei... Codename: First Children... Funktion: EVA-Pilotin, derzeit Einheit-00 zuge-wiesen... Rang: Captain, nur dem Kommandanten gegenüber Rechenschaft schuldig...

Misato schluckte.
Kommandant Ikari hatte ihr also eine Laus in den Pelz gesetzt... damit hatte sie wirklich nicht rechnen können, daß Rei mit vierzehn Jahren ihr gleichrangig war... und warum hatte sie das nicht eher erfahren...
Sie kehrte in das Doppelzimmer zurück, kämpfte mit ihrer Beherrschung.
\"Rei, deine Angaben stimmen.\"

Rei verzichtete darauf, die Worte des Captains zu bestätigen.
Genau für derartige Fälle hatte sie ihren Rang erhalten, daß sie sich nur dem Kommandanten gegenüber zu verantworten hatte, bedeutete nicht weniger, als daß sie gewissermaßen mit sei-ner Stimme sprach. Doch bisher hatte es keinen Grund gegeben, von diesem Privileg Gebrauch zu machen.

\"Ihr... ihr werdet das Training fortsetzen... Ritsuko ist fast mit der Choreographie fertig... - Und, Shinji, was dich betrifft, so werde ich mir überlegen müssen, was nach diesem Einsatz ge-schieht...\"

\"Misato, ich...\"

\"Kein Wort darüber, nicht jetzt... Deine Lüge hat unserer Freundschaft schwer geschadet, das ist dir hoffentlich klar.\"

\"Shinji-kun hat nicht gelogen.\"

\"Ja, genauso, wie du es schon früher mal vielleicht erwogen hast, mich über deinen Rang zu in-formieren.\" murmelte Misato mit ätzendem Sarkasmus.
Sie mußte hier raus... Kaji konnte das Training weiter überwachen...

Shinji beobachtete Misatos Abgang und verspürte einen Stich im Herzen.
\"Sie glaubt mir nicht...\"

\"Shinji-kun, sie wird Asuka noch durchschauen. Ich habe in Asukas Augen geblickt und dort die Dunkelheit gesehen...\"

\"Wenn ihr EVA wie sie ist...\"

Rei nickte.
Ihre Kehle wurde trocken.
\"Shinji-kun... Danke.\"

\"Wofür?\"

\"Daß du mich verteidigt hast.\"

\"Ich konnte doch zulassen, daß... ahm...\"
Er wandte sich ab, damit sie nicht bemerkte, wie er errötete.
\"Du... du bist wirklich ein Offizier bei NERV?\"

\"Ja. Der Kommandant hielt es für notwendig, damit innerhalb der Gruppe der Piloten eine Be-fehlshierarchie besteht.\"

Der Kommandant... sein Vater... irgendwie fiel es ihm leichter, über seinen Vater in seiner Rol-le als Oberbefehlshaber von NERV nachzudenken, seine Gedanken waren dann viel weniger haßerfüllt.
\"Also... uhm... also bist du mein... äh... meine Vorgesetzte?\"

\"Shinji-kun, ich beabsichtige nicht, von meinem Rang dir gegenüber Gebrauch zu machen. Aber es war nötig, die Tatsache zu erwähnen, um Captain Katsuragi von weiteren Umbese-tzungen abzuhalten.\"

\"Glaubst du wirklich, daß sie Asukas Vorstellung durchschauen wird?\"

\"Ja. Soryu kann das nicht ewig durchhalten.\"


*** NGE ***


Misato betrat Ritsuko Akagis Büro und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen.
\"Wir haben ein Riesenproblem.\"

\"Stimmt.\"

\"Asuka ist... - Moment, was stimmt bei dir nicht?\"

\"Also, erstmal: Die Choreographie für den Kampf ist fertig, liegt da drüben. Die Reparaturen an den EVAs gehen auch gut voran, wir werden rechtzeitig fertig sein. Aber ich habe Schwie-rigkeiten, die Steuerung von Einheit-02 umzuschreiben, die Kommandodateien sind codiert...\"

\"Mit sowas wirst du doch fertig, du hast schließlich die MAGI.\"

\"Stimmt schon, aber dieser Code ist recht kompliziert, das wird etwas dauern. Auch die MAGI brauchen etwas Zeit für einen Kaskadencode. Dazu ist das ganze Betriebssystem auf Asuka ausgerichtet, ich werde jedes Unterverzeichnis und jede Datei einzeln überprüfen und manuell umschreiben müssen. Außer...\"

\"Außer?\"

\"Außer ich erstelle eine Sicherungskopie und überschreibe das komplette System mit den Da-ten von EVA-00, die müßte ich dann zwar auch noch anpassen, aber das dürfte schneller ge-hen, weil ich mich mit dem Aufbau auskenne... das System von EVA-02 hingegen geht noch auf Doktor Soryu zurück, sie und meine Mutter waren immer völlig verschiedener Ansichten über die Systemarchitektur.\"

\"Doktor Soryu?\"

\"Asukas Mutter, verstorben 2004, etwa ein halbes Jahr vor meiner Mutter.\"

\"Oh... ja, stimmt, das hatte ich in ihrer Akte gelesen...\"

\"Dann mache ich das so, ist wohl der beste Weg. Und was ist dein Problem?\"

\"Shinji...\"
Misato seufzte.
\"Er kommt nicht mit Asuka aus, dabei sah es am Anfang ganz gut aus, doch jetzt hat er sich ei-ne haarsträubende Geschichte ausgedacht, sie hätte ihn mit einem Messer bedroht.\"

\"Oh... Misato, bist du sicher, daß es nur eine Geschichte war?\"

\"Weshalb? Soetwas macht doch keine Vierzehnjährige!\"

\"Hm, weiß nicht. Schau mal, hier...\"
Sie rief ein Diagramm auf ihren Monitor.
\"Das sind die Daten von Asukas Synchrontests aus Deutschland... das ganze ist so gut lesbar wie ein Diagramm ihrer Gehirnströme... diese Kurve hier deutet auf erhöhte Gewaltbereitschaft hin... und hier... starke innere Wut...\"

\"Du meinst, Shinjis Geschichte könnte stimmen?\"

\"Es ist zumindest möglich.\"

\"Mein Gott... und ich habe ihn gleich abgebügelt... und dann noch Rei...\"

\"Was ist mit Rei?\" fragte Ritsuko interessiert.

\"Als ich sie und Asuka als Team aufstellen wollte, hat sie mich darüber in Kenntnis gesetzt, daß sie mir gleichrangig ist - und schlimmer noch, sie muß keine Befehlskette beachten, son-dern untersteht Kommandant Ikari direkt.\"

Ritsuko stellte ihre Kaffeetasse ab.
Das überraschte sie nun doch, wenn auch nicht so sehr wie offenbar Misato, schließlich hätte sie damit rechnen können, daß Gendo dafür sorgte, daß Rei ein Ass im Ärmel hatte.

\"Misato, ich denke, du solltest Asuka genau im Auge behalten. Und wer kümmert sich jetzt ei-gentlich um das Training?\"

\"Ich habe Kaji gefragt... der sitzt doch ohnehin nur nutzlos in seinem Büro. - Und in der ande-ren Sache... hoffentlich habe ich keinen gewaltigen Fehler begangen...\"


*** NGE ***


Kaji tauchte bald bei Rei und Shinji auf und ließ die beiden mit dem Synchrontraining beginnen.
Der stoppelbärtige Mann war derart beeindruckt davon, daß die beiden Teenager selbst unter der höchsten Geschwindigkeitseinstellung sich noch völlig gleich, wenn auch spiegelverkehrt bewegten, daß er das Training eine Stunde eher beendete, als eigentlich vorgesehen. Seiner Ansicht nach konnten die beiden sich gar nicht mehr verbessern - und man konnte es mit dem Üben auch übertreiben, niemandem lag etwas daran, wenn die beiden Piloten vor Erschöpfung ihre EVAs nicht starten konnten.
Allerdings überließ sie nicht sich selbst, sondern zog sich einen Stuhl heran und setzte sich auf Höhe der Bettenden und bedeutete den beiden, sich doch auf die Betten zu setzen.
Kaji ließ einen Moment vergehen, bevor er sich räusperte.
\"Shinji, Katsuragi hat mir da eine haarsträubende Geschichte erzählt. Asuka hätte dich be-droht...\"

\"Hat sie auch!\"

\"Hey, kein Grund zu schreien. Erzähl mir einfach, was vorgefallen ist.\"

\"Ahm, ja...\"
Shinji berichtete von den Ereignissen des ersten Abends, als Asuka sich zuerst noch ganz freundlich gegeben und ihn dann plötzlich attackiert hatte, erzählte Kaji von den \'Regeln\', die Asuka aufgestellt hatte und den damit verbundenen Drohungen. Und er ließ auch das furchbar lange Messer nicht aus, mit dem sie seine Wange berührt hatte.

Kaji saß schweigend da und hörte zu, nickte schließlich.
\"Ich glaube dir.\"

\"Sie... sie glauben mir, Kaji-san?\"
Endlich jemand, der ihm glaubte, der sich nicht von Asukas freundlichem Getue um den kleinen Finger wickeln ließ.

\"Ja. Ich kenne Asuka etwas näher und das entspricht ihrer... Art.\"

\"Aber worum tut sie soetwas?\"

\"Shinji, Asuka wurde übel mitgespielt... das soll keine Entschuldigung sein, nur eine Erklärung. Und viel mehr kann ich dir auch nicht sagen, da ich an ein Versprechen gebunden bin. Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich mit Katsuragi darüber sprechen werde. Ansonsten kann ich euch beide\", er blickte in die Runde, \"nur warnen und bitten, achtsam zu sein. Ich glaube zwar nicht, daß Asuka auf euch losgehen würde, aber sicher ist sicher. Ich werde auch selbst ein paar Vor-kehrungen treffen.\"
Dann stand er auf und stellte den Stuhl an die Wand zurück.
\"Wascht euch, eßt etwas, ruht euch aus. Morgen geht\'s erst richtig los. Und daher\", Kaji zwin-kerte, \"keine kraftraubenden Aktivitäten.\"
Er ging hinaus.

Shinji ließ sich nach hinten fallen.
\"Ich hatte schon befürchtet, niemand würde mir glauben.\"

\"Ich glaube dir.\" erwiderte Rei leicht pikiert. Zählte ihre Unterstützung denn nicht?

\"Ich weiß. Ich meinte doch auch die Erwachsenen.\"

\"Ja.\"

\"Was hat Kaji-san nur mit \'kraftraubenden Aktivitäten\' gemeint? Ich könnte jetzt keinen 1000m-Lauf mehr schaffen oder sowas.\"

\"Ich denke nicht, daß er derartiges meinte.\"

Shinji hob den Kopf, sah Rei neben seinem Bett stehen.
\"Sondern?\"

\"Sex.\"

\"Argh...\"
Sofort setzte er sich auf, wurde wieder rot.
Wie konnte sie nur so offen dieses Wort sagen...

\"Ich gehe duschen.\"

\"Uhm...\"

Rei ließ ihn allein.

Shinji schüttelte den Kopf.
Mit Rei in einem Zimmer... über Nacht... hoffentlich ging das gut...
Er saß immer noch auf der Bettkante, als sie zurückkam.

Sie trug einen Pyjama, an dem noch das Preisschild klebte. Ihr Haar war naß.
\"Du kannst jetzt das Bad benutzen, Shinji-kun.\"

Shinji stand auf, blieb aber vor ihr stehen.
\"Rei... hast du gar keine Sorge? Ich, uhm, ich meine... mit mir in einem Raum zu schlafen und so... ahm... ich könnte schließlich... uhm... ah... was, wenn ich über dich herfallen würde...\"

Rei blickte ihn völlig ernst an.
\"Würdest du das, Shinji-kun? Ziehst du ein derartiges Vorgehen in Erwägung?\"

\"Ich? Ahm... nein, natürlich nicht.\"

\"Dann brauche ich auch keine Sorge zu haben. Wir müssen uns beide auf einen Einsatz vorbe-reiten. Sexuelle Kontakt sind in einer derartigen Situation der NERV-Charta nach strengstens untersagt.\"

\"Wa... uh... ja... ähm, ich bin im Bad... uh...\"


*** NGE ***


Gekleidet in Shorts und T-Shirt kam er zurück aus dem Bad.
Rei saß auf ihrem Bett und beobachtete ihn.
Rechnete sie etwa damit, daß er...

\"Shinji-kun, würdest du bitte dein T-Shirt ablegen?\"

\"Uh, was?\"

\"Captain Katsuragi und Major Kaji haben beide unterlassen zu überprüfen, ob deine Rippen durch Soryus Tritt verletzt wurden.\"

\"Ah, Rei, das... äh, das ist schon in Ordnung.\"

\"Shinji-kun, ich möchte sichergehen, daß du voll einsatzfähig bist.\"

\"Uh, ich könnte noch zu Doktor Akagi...\"

\"Muß ich doch von meinem Rang Gebrauch machen?\"

\"Ahm...\"
Er schluckte.
Gut, es war ja nur das T-Shirt... wenn Asuka ihn nun in tiefergelegene Regionen getreten hät-te...
Zögernd schob er den Stoff nach oben.

\"Setzen.\" orderte Rei und stand auf.

Shinji ließ sich auf der Bettkante nieder.

Rei nahm neben ihm Platz und schob das T-Shirt noch etwas höher.
Ihre Finger fühlten sich kühl auf Shinjis Haut an, schienen sie zugleich zu verbrennen, denn ihm wurde ganz heiß unter ihrer sanften Berührung, jedenfalls bis sie die bläulich verfärbte Stelle über seinen Rippen berührte, wo Asuka ihn getroffen hatte.

\"Das... Au!... Rei, muß das sein?\"

\"Ich kann keine Verletzung der Rippenknochen fühlen. Es ist wirklich nur eine Prellung.\"

\"Sag ich doch\", murmelte er und bedauerte im nächsten Augenblick, daß sie ihre Hand zu-rückzog und aufstand.

Rei setzte sich wieder auf ihr Bett und gab vor, konzentriert der Musik zu lauschen, die mit lei-ser Lautstärker immer noch aus verborgenen Lautsprechern drang.
Wenn sie nicht aufgestanden wäre... wenn sie ihn auch nur eine Sekunde länger berührt hätte... dann wären ihr die Vorschriften allesamt egal gewesen...


*** NGE ***


Shinji lag in seinem Bett und lauschte Reis regelmäßigen leisen Atemzügen.
Da es im Zimmer nicht ganz dunkel war - unter der Türritze fiel Licht hindurch -, konnte er schwach ihre Umrisse sehen. Sie lag auf dem Rücken, die Decke bis zum Hals gezogen, trotz-dem zeichnete die Decke weich die Konturen ihres Körpers ab - und seine Phantasie arbeitete ebenfalls auf Hochtouren.
Für ihn war Rei ein Engel, keines der Wesen, gegen die sie kämpften, sondern ein wahrer En-gel. Hinter der meist starren Maske ihres Gesichts verbarg sich eine sanfte, aber sehr starke Seele.
Noch immer vermeinte er, die Berührung ihrer Finger zu spüren, doch nicht in Verbindung mit dem Schmerz, den die Berührung des Blutergusses über seinen Rippen verursacht hatte...
Gern wäre er aufgestanden und zu ihr hinübergegangen, um einmal durch ihr Haar zu streichen oder über ihre Wange, doch angesichts ihres Gespräches am Abend hätte sie das vielleicht falsch auffassen können, dabei hätte er niemals etwas getan, mit dem sie nicht einverstanden war...
So blieb er liegen und wartete, bis ihm die Augen zufielen und ihn der Schlaf übermannte.


*** NGE ***


Die nächsten beiden Tage vergingen wie im Fluge. Die erforderlichen Bewegungen und Kampfmanöver hatten sie schnell verinnerlicht, so daß Kaji rasch zur nächsten Stufe übergehen konnte: In einer großen Halle war ein maßstabgerechtes Modell des Küstenabschnittes errich-tet worden, einschließlich der Modelle der beiden Zwillingsengel, wobei Shinji und Rei anstatt ihrer EVAs agierten und Kaji die beiden mit Rollen und Motor versehenen Modelle über Fern-steuerung bewegte. Nach Ablauf des dritten der vier Tage, die sie für das Training hatten, er-hielt die Choreographie einen letzten Feinschliff und während der Generalprobe am Vormittag des vierten Tages, bei welcher sowohl Misato und Ritsuko wie auch Subcommander Fuyutsuki anwesend waren, erfüllten die beiden Piloten die Vorgaben innerhalb der Fünf-Minuten-Frist. Die EVAs würden ohne ihre Versorgungskabel in den Kampf ziehen, da diese die Beweglich-keit der Einheiten einschränkten, das Ziel würde es sein, die beiden Zwillingen zuerst aus ihrem Rhythmus zu bringen und dann gegeneinander zu schleudern, so daß sich ihre AT-Felder kurz-fristig gegenseitig neutralisierten. Und dann würden beide EVAs gleichzeitig den Todesstoß anbringen.

Den Proben nach war es möglich...
Der Nachmittag des vierten Tages war Reaktivierungstests vorbehalten, wobei noch längst nicht wieder alle Systeme der EVAs arbeiteten, Ritsuko Akagi jedoch die Nacht durchzuarbei-ten beabsichtigte, um gegen Morgen die letzten Feinabstimmungen vornehmen zu können.

Rei ließ es sich nicht anmerken, doch als ihr EntryPlug mit dem Steuernerv von EVA-02 ver-bunden wurde, verspürte sie Furcht. Allerdings geschah nichts, weder tauchte der Schatten Asukas plötzlich über ihr auf, womit sie fast gerechnet hatte, noch verweigerte sich ihr der EVA, was Doktor Akagi wiederum befürchtet hatte.
EVA-02 war völlig still, als die Synchronverbindung geschlossen wurde, nahm Rei weder das geistige Rauschen wahr, welches sie von EVA-00 gewöhnt war, noch das für EVA-01 typische dumpfe Grollen. Ihre Synchronrate hielt sich jedoch im gewöhnlichen Bereich. Dennoch war da etwas, das sie nicht näher bestimmen konnte, etwas, das dafür sorgte, daß sie der Einheit nicht vertraute.

Alle Beteiligten waren sehr zufrieden mit dem Erreichten, wurden allerdings auch nervös, wenn sie an den morgigen Tag dachten, welcher die Entscheidung bringen würde.

Shinji und Rei waren am Abend schweigend in ihre Betten gekrochen, doch Schlaf wollte sich nicht einstellen.

\"Rei?\"

\"Ja, Shinji-kun?\"

\"Glaubst du, daß wir es schaffen werden?\"

\"Das ist keine Frage des Glaubens. Wir müssen es schaffen.\"

\"Ja... Rei, sei vorsichtig. Sollte mir ein Fehler unterlaufen, dann versuche nicht, mir beizuste-hen... Wenn jemand diese beiden Engel allein besiegen kann, dann bist du das.\"

\"Shinji-kun... du irrst dich. Und ich könnte dich nicht im Stich lassen.\"

\"Ahm... Rei...\"

\"Du solltest schlafen, Shinji-kun.\"

\"Ja.\"


*** NGE ***


Kurz nach vier Uhr morgens schlugen die Überwachungssysteme Alarm.
Misato, die in der Kommandozentrale auf einem Stuhl genächtigt hatte, schreckte hoch, ebenso wie die meisten Brückenoffiziere, ebenso wie Kozo Fuyutsuki, der zusammengesunken an ei-nem Terminal gehockt hatte, anstatt oben im Kommandositz.

\"Einer der Zwillinge hat sich etwas bewegt!\" vermeldete Shigeru Aoba.

Misato stellte eine Verbindung zu Ritsukos tragbaren ComLink her.
\"Ritsuko, wie sieht es aus? Oben rührt sich \'was!\"

\"Oh, von mir aus kann\'s losgehen. Wir sind gerade fertiggeworden - über eine Stunde vor dem Zeitplan.\"

\"Ich werde dich loben, wenn wir das hier überleben.\"


*** NGE ***


Mechanisch, völlig in Synchronität und ohne einen Blick zur Seite zu werfen, waren Shinji und Rei aus ihren Betten geklettert, hatten sich noch im Zimmer umgezogen und waren Seite an Seite in ihren PlugSuits den Korridor zum Hangar entlanggerannt.

An einer Abzweigung hatte Asuka gelauert, um Rei zu Fall zu bringen, in einem Büro einzu-schließen und ihren Platz einzunehmen, doch das Auftauchen Ryoji Kajis hatte sie von der Ausführung ihres Planes abgehalten.

Die beiden Piloten erreichten den Hangar, stiegen in die EntryPlugs, zögerten kurz, blickten einander gleichzeitig an... vielleicht zum letzten Mal...
Kapitel 23 - Der Preis des Sieges

\"Der Feind hat die Verteidigungslinie bei Gora durchbrochen!\"

Nickend nahm Misato die Mitteilung zur Kenntnis.

\"Zehn Sekunden bis zum Start der EVAs!\"

Sie konzentrierte sich auf den großen Hauptbildschirm, dieser zeigte einmal das Vorrücken der Engel, die schon das Stadtgebiet erreicht hatten und sich nun auf einer der Ausfallstraßen dem Zentrum näherten, dann gab es zwei kleinere Bilder, das eine zeigte die beiden EVAs in den Käfigen, das andere eine taktische Darstellung des Kampfgebietes von oben. Die beiden Engel waren zwei wandernde rote Punkte auf der Karte. Die Ausstiegsöffnungen der Liftschächte waren blau markiert.

\"Fünf... vier... drei... zwei... eins...\"

\"Lift-off!\" rief Misato. \"Viel Glück, ihr beiden!\"

Unter hoher Beschleunigung rasten die beiden EVAs an die Oberfläche. Noch während des Aufstieges wurden die Halterungen gelöst, so daß die beiden Giganten in die Luft geschossen wurden.

Einen langen Moment schwebten EVA-01 und -02 in der Luft hoch über den Engeln, die takti-schen Computer nutzten die Zeit, um ihre Daten abzugleichen und zu aktualisieren.
Dann griff die Schwerkraft nach ihnen, zog sie zurück zum Boden.

\"Musik starten!\" wies Misato an.


*** NGE ***


In ihren Cockpits schlossen die beiden Piloten die Augen und ließen sich von der Musik fort-tragen. Sie mußten nicht sehen, was die Bildschirme vor ihnen zeigten, über die Synchronver-bindung konnten sie durch die Augen der EVAs sehen - und diese besaßen keine Lider.

Shinji wich nach rechts aus, Rei nach links.
Beide griffen in aufspringende Waffenbunker nach Positronengewehren, eröffneten das Feuer auf jeweils einen der Engelszwillinge, ließen sich dann zurückfallen, gingen hinter schwer ge-panzerten Gebäuden in Deckungen, bewegten sich dann aufeinander zu, tauschten die Plätze.
Weitere Magazin wurden leergefeuert, eine Wolke von Staub umgab die Engel, während die EVAs große Bögen schlugen und sich in ihre Rücken brachten, während die Abwehranlagen der Stadt den Beschuß übernahmen und von der Position der EVAs ablenkten.

Shinji spürte plötzlich wieder den Blutdurst in sich aufsteigen... nein, nicht in sich... der Drang zu töten ging von seinem EVA aus... ein leises Flüstern, aus dem Rhythmus auszubrechen und endlich den Feind mit den eigenen Händen anzugreifen, sich für die Schmerzen zu rächen, die ihm zugefügt worden waren, sie dem Engel tausendfach zurückzuzahlen...
Shinji preßte die Lippen zusammen.
Nein, er würde nicht nachgeben...
Das Flüstern wurde lauter, bekam etwas lockendes... doch das schlimmste war, daß es mit sei-ner eigenen Stimme sprach...
Töten... Zerreißen... Verstümmeln...
Wenn er nachgab, brach er aus dem Rhythmus aus... und dann würde er Rei im Stich lassen... und wenn es ihm gelang, die beiden Engel zu zerfetzen? Dann würde sie nicht in Gefahr gera-ten... Dann mußte sie nicht kämpfen...
Dieses Flüstern... waren das noch seine Gedanken?
Oder waren es die Gedanken des EVAs?
Wollte er ihn dazu bringen, seine Partnerin zu verraten?
Das konnte er nicht... er konnte doch nicht...

Die völlig Leere in EVA-02 war beunruhigend, es fehlte der leichte Widerstand, den Rei von EVA-00 gewohnt war, ebenso der Eindruck von Kontakt.
Alles verlief nach Plan, sie befanden sich im Rücken der Engel, sobald die Abwehrsysteme das Feuer einstellten, würden sie in den Nahkampf gehen.
Rei machte ihr Messer bereit, mußte nicht zur Seite blicken, um zu wissen, daß Shinji-kun es ihr gleichtat. Sie spürte seine Gegenwart, vernahm seinen Herzschlag wie ein leises Pochen in ihrem Hinterkopf, nicht das Pochen von Kopfschmerzen, nicht unangenehm... vielmehr das Wissen, daß er da war, daß sie nicht allein war, ein Gefühl, bei dem sie erst begriffen hatte, daß sie sich immer danach gesehnt hatte, seitdem sie existierte, als sie es zum ersten Mal gespürt hatte.
Und dann brach diese Verbindung plötzlich ab.

\"Rei, du kommst aus dem Takt!\" schrie Misato.

Doch Rei hörte sie nicht.
In ihrem Kopf herrschte mit einem Mal ein unerträglicher Lärm wie von tausend Stimmen, schlimmer, als wenn alle Schüler der Klasse gleichzeitig durcheinander riefen. Es war jedesmal ein und dieselbe Stimme, eine Frauenstimme... und es waren jedesmal ein und dieselben Wor-te... die Stimme schrie nach ihrer Tochter, verlangte nach ihrer Tochter... sie schrie nach So-ryu...
\"Ich... bin... nicht... Soryu...\" stieß Rei hervor, während ihr Herz schneller und schneller zu schlagen begann, als die Panik, welche der EVA verspürte, auf sie übergriff.

\"Rei! Was ist bei dir los? Deine Werte spielen verrückt! Die Synchronrate fällt!\"

Rei antwortete nicht, kämpfte gegen die Stimme in ihrem Kopf an.
\"Schweigt doch endlich...\" flüsterte sie, preßte die Kiefer so fest zusammen, daß es schmerzte.
Wenn sie die Kontrolle verlor... wenn ihre Synchronrate zu stark sank... dann war sie hand-lungsunfähig... dann mußte Shinji-kun es allein mit den beiden Engeln aufnehmen... dann wür-den sie ihn verletzen... oder schlimmeres...
\"Ich kann das nicht zulassen...\"
Ihr Herz schien kurz davor zu stehen, in ihrer Brust zu explodieren.

\"Rei, wir versuchen, dir zu helfen! - Shinji, schnell... Ritsuko synchronisiert euch beide über die MAGI...\"

So war es also zu sterben...
Das konnte nicht sein...
Sie konnte noch nicht sterben, selbst wenn der Doktor ihr Gedächnis auf eine ihrer Schwestern übertragen konnte... es würde nicht sie sein, sondern eine andere... die Dritte... sie würde nie wirklich erfahren, wie es war, nicht mehr allein zu sein...

Schweigen... die Stimmen sollten schweigen... endlich schweigen...
Sie glaubte, ihr Kopf würde platzen.

\"Rei! Rei, hör zu!\"

Shinji-kun... Das war Shinji-kuns Stimme...
Sie stemmte sich gegen den Lärm, war überrascht, festzustellen, daß ihre beiden EVAs noch immer einigermaßen synchron agierten.
Gerade endete der Beschuß, begann der Staub sich zu legen.
Wenn sie noch handeln wollten, dann jetzt...
Aber der Lärm in ihrem Kopf... diese Stimme, die ständig nach Asuka schrie... das konnte doch nicht der EVA sein... sollte es sich mit Einheit-02 ähnlich verhalten, wie mit Einheit-01? Sollten beide EVAs... beseelt sein...?

Shinji selbst kämpfte gegen die Impulse aus den Tiefen seines EVAs.
Der Blutdurst... der Haß... der Wunsch zu töten...
Rei steckte in Schwierigkeiten!
Er mußte ihr helfen, komme, was da wolle! Er mußte ihr helfen!
Da war noch etwas... er hatte es bereits einmal wahrgenommen, eine weitere Präsenz... nicht Haß... keine dunkle Kälte, sondern ein warmer Hauch, fast schon eine Berührung, so als würde ihn jemand in die Arme schließen und gegen die Finsternis beschützen...
Das Flüstern verstummte...
Er konnte wieder klar denken...
\"Rei...\"
Wenn er versuchte ihr zu helfen... nur wie?... dann verließ er den Rhythmus...
Was konnte er nur tun?
\"Rei!\"

\"Shinji...\" drang es leise aus dem Lautsprecher.

Sie hatte ihn gehört...
Die Engel... sie tauchten aus der Staubwolke auf, der geringe Vorteil war vergeudet...
Aber die Musik lief noch... wenn er nicht im Rhythmus bleiben konnte... dann mußte er impro-visieren!
Shinji ließ EVA-01 zu EVA-02 hinüberspringen, umfaßte den roten Mecha um die Hüfte, zog ihn an sich heran.

Rei spürte die Berührung, als läge der Arm um ihre eigene Hüfte.
\"Was tust du?!\"
Sie stellte fest, daß ihre eigene Stimme imstande war, das laute Geschrei aus dem EVA zu übertönen, daß sie ihre eigenen Gedanken wieder zu hören imstande war, daß Shinji-kuns Ge-genwart ihr die Kraft gab, die Panik niederzukämpfen, die nicht die ihre war!

\"Nimm den linken!\"
Shinji wirbelte Reis EVA herum, gab ihm Schwung, warf ihn auf den linken der beiden Zwil-linge zu, raste selbst auf den anderen zu.

Jetzt waren sie wieder in Synchronität, handelten völlig spiegelverkehrt, deckten ihre Gegner mit Schlägen ein.
Die Engel schlugen zurück, doch die EVAs waren einen Sekundenbruchteil schneller, duckten sich unter den Krallenhieben zur Seite, unterliefen sie, schlugen kraftvoll zu, packten ihre Geg-ner, schleuderten sie zur Seite, setzten sogleich nach.
Die beiden Engel prallten mit den Rücken gegeneinander.
Ihre AT-Felder überlappten sich, neutralisierten sich kurzfristig.
Die Zwillinge verschmolzen wieder, formten einen größeren, breiteren Engel.
Schon waren die EVAs mit gezogenen PROG-Messern heran, stießen die Klingen in die beiden Herzen des Engels.
Die folgende Explosion riß sie von den Beinen, Shinji und Rei fanden sich in einem Gebäude wieder, welches ihre EVAs zur Hälfte durchschlagen hatten, Arme und Beine miteinander ver-knotet.
Dann erloschen die Bildschirme und Anzeigen in den Plugs, als die Akkus den letzten Rest ge-speicherter Energie abgegeben hatten. Schlagartig sank die Synchronisation der Piloten mit den EVAs auf Null, verstummten die Schreie und das Flüstern völlig, verschwand auch die freund-liche Präsenz, welche Shinji wahrgenommen hatte.

Shinji öffnete den Kreuzgurt, beugte sich nach vorn zum Funkgerät hin.
\"Oh, Mann...\" murmelte er. \"Das wäre fast schiefgegangen... Rei, kannst du mich hören?\"

\"Ja, Shinji-kun.\"

\"Wir haben es tatsächlich geschafft.\"

\"Ja, Shinji-kun.\"

Reis Stimme klang seltsam, so warm und freundlich...
\"Bist du in Ordnung?\"

\"Ja.\"

\"Und du hast gesagt, du könntest nicht tanzen...\"


*** NGE ***


Die EVAs wurden geborgen und in den Hangar zurückgebracht.
Ritsuko Akagi begann sofort damit, das ursprüngliche Betriebssystem zu reinstallieren und die Kommandodateien wieder auf Asuka umzuschreiben, doch dies war kein großer Arbeitsvor-gang, schließlich hatte sie die alten Daten auf den MAGI hinterlegt.
Mehr Arbeit würde die Reparatur der neuen Beschädigungen machen, aber auch das hielt sich in Grenzen.

Die beiden Piloten erhielten die nächsten beiden Tage frei, mußten sich aber dennoch bereithal-ten, sollte ein weiterer Engel auftauchen.
Shinjis Jubel darüber wurde im Lift nach oben von Reis Bemerkung, daß sie nur noch drei Wo-chen hatten, um sich auf die Abschlußprüfungen vorzubereiten, erstickt.
Seine Freude wich Nachdenklichkeit.
Sie hatten in der Zeit, die er auf die Schule von Tokio-3 ging, nicht wirklich etwas gelernt, der alte Lehrer, bei dem sie die meisten Fächer hatten, erzählte ja immer wieder dasselbe wie eine defekte Schallplatte, doch dies schloß nicht aus, daß ihre Prüfungen den eigentlich angesetzten Unterrichtsstoff behandeln würden, den sie sich ja auch mit Hilfe der Bücher hätten anlesen können.
Als er seine diesbezügliche Vermutung Rei unterbreitete, nickte diese.

\"Das ist sogar wahrscheinlich, Shinji-kun. Die Abschlußprüfungen werden von insgesamt drei verschiedenen Lehrern kontrolliert. Wir sollten heute noch mit Lernen beginnen.\"

\"Uh... und ich hatte gehofft, daß wir wirklich ein freies Wochenende hätten...\"

\"Shinji-kun, ich bin mit dem meisten Stoff auf dem laufenden und muß lediglich die letzte Wo-che aufarbeiten, wir können jedoch alles noch einmal zusammen durchgehen.\"

\"Hm, ja.\"
Rei hatte also im Gegensatz zu ihm keine Lücken... sicher würde sie die Prüfungen bestehen. Doch wenn er durchfiel, hieß das nicht nur, daß er die Klasse wiederholen mußte, er würde auch mit anderen Schülern zusammenkommen und seine alten Freunde nicht sehen... und er würde nicht den halben Tag mit Rei in einem Raum verbringen können, auch wenn zwischen ihnen doch eine gewisse räumliche Entfernung bestand... nein, das wollte er ganz und gar nicht.
\"Ja, wir können heute anfangen. Bei mir?\"

\"Ich...\"
Rei machte eine Pause, erinnerte sich an die Anweisung des Kommandanten, Captain Katsu-ragis Wohnung nicht mehr zu betreten. Außerdem war sie selbst ja jetzt auf Besuch vorberei-tet.
\"Nein, wir gehen zu mir.\"

\"Ja, ahm, gut. Ich muß nur... uhm... ich muß nur kurz bei Misatos Wohnung vorbei und... uh... etwas erledigen... ich bin gegen... ahm, ist drei Uhr dir recht?\"

\"Natürlich, Shinji-kun.\"
Sie hatte doch den ganzen Tag zu ihrer Verfügung und es gab nichts, daß sie sonst hätte tun müssen. Natürlich hatte sie Zeit!

\"Ahm, ja, schön. Ich will mich nur umziehen und... uhm... etwas kochen... und Misato eine Portion kaltstellen... und meine Sachen holen... und, uhm, Toji und Kensuke kurz anrufen...\"

\"Kriegsberichterstattung?\"

\"Wa...? Öh, ja, so kann man es wohl nennen... Kensuke quetscht mich nach jedem Einsatz im-mer so aus...\"

Sie maß Shinji von oben bis unten. Er sah nicht sonderlich gequetscht aus - also wahrscheinlich wieder eine dieser Redewendungen. Vielleicht sollte sie bei Gelegenheit ein entsprechendes Le-xikon studieren...
\"Keine vertraulichen Informationen.\"

\"Wie meinst du das?\"

\"Du darfst ihm keine vertraulichen Informationen am Telefon mitteilen, auch nicht über eMail oder mit der Post. Die Verbindungen werden von den MAGI überwacht.\"

\"Uh... gut, daß mir das auch schon jemand sagt...\"

\"Ja.\"

\"Ich will ihnen ja auch nur sagen, daß ich in Ordnung bin. Nach dem letzten Engel hatte Toji mich so besorgt angesehen... ich glaube, seit er bei mir im EntryPlug war, weiß er, wie gefähr-lich es ist.\"

\"Suzuhara-kun scheint...\"
Rei dachte nach, wie lautete doch gleich diese Redewendung...
\"Er scheint eine harte Schale, aber einen weichen Kern zu haben.\"

\"Ja... ahm... du hast ihn sicher auch mit Hikari gesehen.\"

\"Das habe ich.\"
Und sie hätte gerne mit der Klassensprecherin getauscht, aber natürlich nur, wenn es sich an-statt um Suzuhara-kun um Shinji-kun gehandelt hätte, der ihre Hand gehalten hätte...

Sie trennten sich in der Bahnstation in der Nähe der Schule.
Während Rei in ihrem Zug in Richtung ihres Wohnviertels fuhr, saß sie nachdenklich auf der Bank, holte schließlich ihr Handy heraus und wählte aus dem Gedächnis eine Nummer.

Es klickte in der Leitung, dann meldete sich eine junge Frauenstimme.

\"Horaki.\"

\"Ist... Hikari zu sprechen?\"
Es hatte sie ein wenig Überwindung gekostet, den Vornahmen der Klassensprecherin auszu-sprechen, doch im Nachhinein wußte sie, daß es so richtig war. Vielleicht hatte Shinji recht, vielleicht sollten sie ihren Freunden ein Zeichen geben, daß sie den Einsatz überstanden hatten.


*** NGE ***


Misato marschierte im Eilschritt durch die Korridore des Hauptquartiers, öffnete mehrere Bü-rotüren, fand die Person, nach der sie Ausschau hielt, schließlich im Kommandoraum des Test-centers.

Ryoji Kaji stieß gerade mit Maya Ibuki auf den Sieg an, in ihren Tassen schwappte schwarzer Kaffee, den Kaji mit einem Schuß aus seinem Flachmann versetzt hatte, welcher jetzt leer auf dem Tisch stand. Der Alkohol hatte ihn - selbstverständlich in Maßen eingenommen - während der ersten Tage der Seereise warmgehalten, und nach dem Angriff des Engels, als sein Hub-schrauber wieder auf dem Deck des Flugzeugträgers gelandet war, hatte er sich auch einen kräftigen Schluck gegönnt, schon allein, um seine Scheißangst herunterzuspülen, die ihn beim ersten Anblick des Riesenfisches überkommen hatte.
Als Kaji Misato hereinkommen sah, legte er plötzlich den Arm um die verdutzte Maya.
\"Spiel mit\", flüsterte er in ihr Ohr, während er sie an sich heranzog.

\"Ryoji Kaji, du kannst es einfach nicht lassen!\" polterte Misato.

Kaji grinste jungenhaft und ließ Maya langsam los, zwinkerte ihr zu, wobei er darauf achtete, daß Misato dies nicht bemerkte.
\"Ach, Katsuragi, wir wollten doch nur ein wenig feiern.\"

\"Das sehe ich. Und auch noch hier, wo euch jeder im Hangar sehen kann!\"

\"Du weißt doch, daß ich das Risiko mag.\"

\"Ja, ja... ich muß mit dir sprechen - sonst wäre ich schon längst wieder weg und hätte euch bei-de alleingelassen!\"

Wieder zwinkerte Kaji Maya zu.
Es war schon seltsam, was für einen Aufstand Katsuragi machte, wo er ihr doch angeblich völ-lig egal war...
\"Okay, Katsuragi-chan, was gibt\'s? Möchtest du gerne mitfeiern?\"

Das war wohl ein wenig zuviel des Guten gewesen, denn Misato lief vor Zorn rot an.
\"Nein, verdammt! Es geht um Asuka!\"

Schlagartig wurde Kaji ernst.
\"Maya, entschuldige uns bitte.\"

\"Ähm, ich muß ohnehin weg... Sempai braucht mich sicher bei den EVAs...\"
Maya Ibuki verließ den Raum, in dem mit einem Mal dicke Luft zu herrschen schien.

Kaji wartete, bis die Tür zugefallen war, dann wandte er sich wieder Misato zu.
\"Setz dich.\"
Er deutete auf den freien Stuhl neben sich.

\"Nein, ich stehe lieber.\"

\"Was möchtest du wissen?\"

\"Ich möchte von dir erfahren, was mit Asuka ist. Kaji, was verheimlichst du mir? Was ist los mit dem Mädchen, warum wolltest du nicht, daß sie und Shinji...\"

\"Du solltest dich wirklich setzen.\"

\"So schlimm kann es schon nicht sein.\"

\"Hängt davon ab.\"

\"Dann fang endlich an zu erzählen. Ich muß wissen, woran ich bin. Shinji sagte, sie hätte ihn mit dem Messer bedroht.\"

\"Oh... das hätte ich nicht... andererseits...\"

\"Hör auf mit dem Gestotter und rede endlich.\"

\"Gut, gut, Katsuragi... konnte dir ja noch nie \'was abschlagen... Asuka, ja... schlimme Ge-schichte, wirklich schlimme Geschichte...\"

\"In Ordnung, spielst du jetzt den alten Jahrmarktswahrsager?\"

\"Nein... Ich fange am besten ganz vorn an... als Asuka vier Jahre alt war, starb ihre Mutter.\"

\"Steht in der Akte.\"

\"Aber nicht wie und warum.\"

\"Selbstmord.\"

\"Stimmt, aber in der Akte steht nicht die ganze Geschichte. Doktor Kyoko Soryu leitete die Forschungssektion von NERV-Deutschland, sie war für die Entwicklung der EVA-Serienmo-delle zuständig - oder besser, den Grundlagen der Serienproduktion... sie war auch als Testper-son für die Synchronverbindung tätig. Und eines Tages erlitt sie einen schweren Nervenzusam-menbruch während der Arbeit, ein gutes Vierteljahr lang war sie nicht ansprechbar, erst danach besserte sich ihr Zustand und die Ärzte ließen sie nach Hause in die Obhut ihres Mannes. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit eine jüngere Geliebte genommen und machte keine An-stalten, sein Verhältnis zu verbergen. An dem Tag, an dem das für die Piloten-Auswahl zustän-dige MARDUK-Institut Asukas Befähigung, einen EVA zu steuern, feststellte, beging Kyoko Soryu Selbstmord... und Asuka war die erste Person, welche die Tote fand... sie hatte sich an einem Deckenbalken ihres Zimmer erhängt...\"

\"Das ist furchtbar...\" murmelte Misato.

\"Ja, allerdings. Nach der Beerdigung nahmen Asukas Patentante und ihr Mann die Kleine erst-einmal bei sich auf, denn Asuka weigerte sich, zu ihrem Vater zurückzukehren, der in ihren Augen ihre Mutter verraten hatte und für ihren Tod verantwortlich war. Später kam es zu ei-nem richtigen Krieg um das Sorgerecht, bei dem ihre Pflegeeltern den längeren Atem hatten... Asukas Onkel ist ein hohes Tier in der Kommandoetage des UN-Nachrichtendienstes, angeb-lich hat er Doktor Langley einen kleinen abendlichen Besuch abgestattet... aber das ist wohl nicht so wichtig... Asuka kam dann auf eine Begabtenschule, wo sie letztes Jahr ihren Abschluß gemacht hat... sie hat den Stoff eines ganzen Jahres in der Hälfte der Zeit gelernt... das Mäd-chen ist hochintelligent...\"

\"Hm, ja. Und weiter?\"

\"Das schlimmste kommt erst noch. Ich arbeite seit sechs Jahren für die deutsche NERV-Zweigstelle... seit Asukas zehntem Geburtstag war ich für ihre persönliche Sicherheit zustän-dig. Und kurz nachdem sie zwölf wurde, habe ich versagt...\"

\"Was ist passiert?\"
Misato zog sich nun doch den Stuhl heran.

\"Asuka hatte gerade mit der Abschlußklasse begonnen... sie war die jüngste dort, die anderen waren alle wenigsten drei Jahre älter... aber sie kam sehr gut mit ihnen aus, gehörte wirklich dazu, so schien es jedenfalls. Ihr bester Freund war ein sechzehnjähriger namens Pietter... Pietter Fresenhark, sein Vater ist im Stadtrat von Wilhelmshaven... sie und die Clique, zu der Fresenhark gehörte, haben oft zusammen für Prüfungen gelernt... deshalb hatte ich mir auch nichts dabei gedacht... ahm... Es war ein Dienstag nachmittag, Pietter hatte Asuka angerufen, daß sie, also die Gruppe, sich treffen wollten, um noch ein paar Notizen durchzugehen... für die nächste Woche stand ein wichtiger Test an... ich habe sie selbst hingefahren... die Fresen-harks haben eine große Villa in der Arkologie, fast schon eine eigene kleine Welt mit einem Park dahinter und allem... ich setzte sie vor dem Haus ab, sie meinte, ich sollte nicht warten, hätte doch sicher wichtigeres zu tun, ihr Onkel würde sie schon abholen... also fuhr ich zu-rück... unterwegs fielen mir ein paar Dinge ein - ich hatte beim Vorbeifahren einen Blick ins Wohnzimmer geworfen, doch es war leer gewesen. Gut, hatte ich gedacht, vielleicht kommt der Rest ja später, oder vielleicht war Asuka zu früh... trotzdem hielt ich an und wartete, ob noch jemand kam. Doch zehn Minuten lang tauchte niemand vor der Tür der Fresenharks auf. Plötzlich wurde mir... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben sollte... so ein Gefühl von Vorah-nung... Instinkt... irgendetwas stimmte nicht... Ich sprang aus dem Wagen und lief zurück, klin-gelte an der Tür, doch niemand öffnete. Also trat ich die Tür ein, zog zugleich meine Waffe. Das Wohnzimmer war leer, ebenso die Küche... aus dem ersten Stock kam ein leises Keu-chen... ich rannte die Treppe hinauf, trat die nächste Tür ein... und da fand ich die beiden... Pietter lag auf Asuka und... Katsuragi, er hatte sie vergewaltigt... Dieses verdammte Schwein...\"

Misato sah die Tränen, die sich in Kajis Augenwinkeln sammelten, legte ihm die Hand auf die Schulter.
\"Kaji, laß gut sein.\"

\"Nein, du sollst alles hören... Fresenhark hatte es geplant, er hatte alles vorbereitet... er hatte mit seinen Freunden gewettet, daß er bis zu den Prüfungen Asukas Unschuld genommen haben würde... er hatte ihr gleich nach dem Eintreten etwas zu trinken angeboten... Limonade... darin war eine Droge gewesen, die sie schläfrig und willenlos gemacht hatte... und dann hatte er sie in sein Zimmer gebracht und entkleidet und...\"
Kaji verbarg sein Gesicht in den Händen.
\"Wenn ich nur eher reagiert hätte... wenn ich doch nur gleich umgekehrt wäre... so konnte ich ihn von ihr herunter- und aus ihr herausziehen... ich habe ihm einen Schlag mit dem Pistolen-griff verpaßt, der ihm die Nase gebrochen und mehrere Zähne ausgeschlagen hat... dann wik-kelte ich Asuka in die Decke und brachte sie ins Bad... und ich rief mein Büro an... keine fünf Minuten später standen zwei weitere Leute von NERV im Hausflur und kümmerten sich um Asuka... und dann erschien Asukas Onkel... ich hatte diesen Mann noch nie zuvor wütend er-lebt... ich hatte Pietter mit dessen Gürtel an einen Stuhl gefesselt... mir war hundeelend und übel... das Bettlaken war voller Blutflecken und... der Junge hockte auf dem Stuhl, blutete aus Mund und Nase, hatte seine Hosen immer noch zwischen den Knien hängen... und Asukas On-kel... Larsen, Wolf Larsen... er schlug Fresenhark ins Gesicht und zwang ihm ein Geständnis ab, ließ nicht locker, bis der Junge alles erzählt hatte... Pietter heulte dicke Tränen, es täte ihm alles so leid, er wüßte nicht, was über ihn gekommen sei... ich habe ihm nicht geglaubt... Lar-sen brüllte ihn an, Asuka sei noch ein Kind... und dann hat er ihn kastriert...\"

\"Kastriert?\" echote Misato.

\"Ja.\"
Kaji machte eine Handbewegung, als fuchtele er mit einem Säbel herum.
\"Einfach alles abgeschnitten... gab eine verdammte Sauerei... und Fresenhark brüllte, als ob... naja... ich hatte kein Mitleid mit ihm, nicht nachdem, was er getan hatte, nicht nachdem ich in Asukas Augen gesehen hatte... Larsen sah mich an, wies mich an, mich um den Jungen zu kümmern... dann ging er hinaus, um sich um Asuka zu kümmern...\"

\"Was hast du getan?\"

\"Ich habe ihm zwei Kugel in den Kopf gejagt. Anschließend haben wir die Leiche in der Nord-see versenkt. Ein Aufräumteam des ODIN-Geheimdienstes hat das Haus wieder hergerichtet. Stadtrat Fresenhark weiß bis heute noch nicht, was mit seinem Sohn passiert ist...\"

\"Das ist schrecklich... Das arme Mädchen...\"

\"Danach schwor sie sich, nie wieder wehrlos zu sein. Sie ließ sich von ihrem Onkel Schießun-terricht geben und im Messerkampf ausbilden. Deshalb hatte ich Sorge um Shinji... daß er et-was falsches sagen könnte, daß er vielleicht etwas tun könnte, das bei Asuka die Erinnerung wieder aufwecken könnte. Sie reagiert auf eine wahrgenommene Bedrohung mit der maxima-len zur Verfügung stehenden Gewalt, verstehst du?\"

\"Kaji, das hättest du mir schon vor Tagen sagen müssen... das hätte in der Akte stehen müs-sen!\"

\"Befehl von ganz oben, Kommandant Ikari selbst hat eine Löschung der entsprechenden Ein-träge befohlen.\"

\"Aber warum?\"

\"Ich weiß es nicht, Katsuragi. Warum hat Ikari seinen eigenen Sohn bei Verwandten abgege-ben, ihn nach zehn Jahren zu sich geholt und ignoriert ihn dennoch weiterhin? Warum gibt es keine Unterlagen bezüglich des Todes von Yui Ikari, Shinjis Mutter? Warum gibt es keine Si-cherheitsaufzeichnungen von dem Tag, an dem Naoko Akagi starb? Warum lebt Rei Ayanami, das First Children, in einer heruntergekommenen Wohngegend der Stadt, oder besser, warum hat Ikari das Mädchen in ein dortiges Quartier gesteckt? Was befindet sich im TerminalDogma, den Anlagen tief unter uns, zu denen nur Ikari und Ritsuko Zutritt haben? Warum hat EVA-00 beim ersten Aktivierungslauf verrückt gespielt? Was ist so besonderes an Rei, daß ihre Verle-tzungen in Rekordzeit heilen? Und warum... warum waren die MARDUK-Einrichtungen, die ich in den letzten Monaten überprüft habe, alles nur leere Gebäude? Warum ist Ikari die letzten beiden Male, als das Hauptquartier direkt bedroht war, oder es zumindest sehr unklar war, ob die EVAs es schaffen würden, jedesmal spurlos verschwunden?\"

\"Kaji, das... das sind eine Menge Fragen...\"

\"Ja, Katsuragi. Und ich habe vor, darauf eine Antwort zu finden, auf jede einzelne. Möchtest du mich begleiten, wenn ich einen Weg finden sollte, ins TerminalDogma vorzudringen?\"

\"Ich... ja, das würde ich gern. Ich möchte wissen, was hier wirklich geschieht...\"


*** NGE ***


Shinji hatte die Wohnung aufgeräumt, den Pinguin gefüttert, Essen gekocht, eine große Por-tion für Misato in den Kühlschrank gestellt, selbst etwas gegessen, noch einmal geduscht, sich umgezogen und erst mit Toji und dann mit Kensuke gesprochen, während er seine Schultasche gepackt hatte.
Er sah auf die Uhr, als er den Hörer auflegte.
Erst zwei Uhr...
Rei erwartete ihn erst um drei. Für die Fahrt brauchte er eine Viertelstunde... besser er ging noch etwas eher los zur Haltestelle... zwanzig Minuten...
Seine beiden Freunde hatten sehr erleichtert geklungen, daß er in Ordnung war. Die ganze Wo-che über war die Schule ausgefallen, für die Schüler in Tokio-3 allerdings kein großer Grund zur Freude, bedeutete es doch, daß sie während eines Engelalarms die Bunker nicht verlassen durften. Aber wenigstens hatte es keine neuen Hausaufgaben gegeben... Kensuke bestand na-türlich darauf, am nächsten Schultag über alles genauestens aufgeklärt zu werden... na, die bei-den würden staunen, wenn er ihr von der messerschwingenden Asuka erzählte!
Asuka... das Gesicht eines Engels, doch dahinter das Herz eines Teufels...
Es wollte gar nicht später werden...
Ihm fiel sein Vorhaben ein, Rei etwas mitzubringen.
Schnell schrieb er Misato eine Nachricht, damit sie wußte, wo er war. Er hatte allerdings keine große Lust, ihr über den Weg zu laufen, noch zu deutlich erinnerte er sich an ihren zweifelnden Blick, als er ihr von Asukas Drohungen erzählt hatte, ihre Vorwürfe hallten ihm immer noch in den Ohren nach.


*** NGE ***


Rei blickte zur Uhr, als es an ihrer Tür klopfte.
Auch in der letzten Woche war ihre Klingel nicht gerichtet worden, langsam fragte sie sich, ob der Hausmeister, der angeblich für den ganzen Block zuständig war, überhaupt existierte.
Es war Punkt drei, das konnte nur Shinji-kun sein, er schien einen starken Hang zur Pünktlich-keit zu haben..
Sie ging nicht zur Tür, sie lief, riß die Tür auf...
Von einem Sekundenbruchteil zum anderen bremste sie ab, wechselte wieder zu ihrer normalen Geschwindigkeit über.
Draußen stand tatsächlich Shinji-kun... und er hielt ihr einen Strauß leuchtender bunter Blumen entgegen.
\"Hallo, Shinji-kun\", hauchte sie.
Warum klang ihre Stimme so schwach und dünn...?

\"Uhm, Rei, die sind für dich... und die hier auch...\"
Er überreichte ihr die Blumen, sowie eine Vase, die er ebenfalls im Geschäft erstanden hatte.
Ursprünglich hatte er überlegt, ihr einen Strauß roter Rosen mitzubringen - sein Taschengeld hätte für ein halbes Dutzend gereicht -, aber das hätte sie falsch verstehen können... also hatte er für sie einen großen bunten Strauß Wildblumen gekauft, frische leuchtende Blumen, die ihre Wohnung hoffentlich freundlicher gestalten würden, dazu eine Vase für die Blumen, die recht preisgünstig gewesen war. Er glaubte nicht, daß Rei selbst eine Vase besaß - und die Teekanne war nun doch kein geeigneter Platz in seinen Augen.

Zögernd nahm Rei die Blumen entgegen.
Wie bunt und farbenprächtig der Strauß war... und so viele Blumen... wenn sie von den Preisen der Artikel im nahen Supermarkt ausging, mußte Shinji-kun ein Vermögen für sie ausgegeben haben, Blumen waren doch sicher teuer... und so viele... und wie sie dufteten... Erde... Gras... der Wind...
Es war das erste Mal, daß ihr jemand Blumen brachte. Und es war das erste Mal, daß jemand ihr etwas gab, daß keinen eigenen Zweck erfüllte wie Nahrung, Kleidung und Schulhefte...

Shinji stand immer noch auf der Schwelle, fühlte sich so nervös, wie er sich nicht einmal beim ersten Mal, als er in einen EVA gestiegen war, gefühlt hatte. Hoffentlich gefielen ihr die Blu-men... hoffentlich hatte sie keine Allergie dagegen... hoffentlich mochte sie die Farben... hof-fentlich hatte er sich nicht zuviel herausgenommen...
\"Ich... uhm... ich hoffe, sie... uh... gefallen dir.\"

Rei blinzelte heftig, um die Tränenflüssigkeit zu vertreiben, die sich in ihren Augen angesam-melt hatte.
\"Ja, sehr, Shinji-kun... Sie sind wunderschön...\"
Sie schluckte.
\"Komm doch herein...\"

Shinji betrat das Apartment.
Sie mochte die Blumen... sie fand sie wunderschön... wunderschön... aber die Blumen waren bei weitem nicht so schön wie sie... und wenn er ein wenig Rückgrat besessen hätte, hätte er ihr dies auch gesagt...
\"Ahm, die müssen ins Wasser.\"

\"Ja.\"
Rei verschwand in der Küche.

Shinji sah sich in ihrem Schlafraum um, der Raum war immer noch so spartanisch eingerichtet, wie er ihn in Erinnerung hatte, allerdings war er jetzt sauber und aufgeräumt und das Fenster war offensichtlich geputzt worden. Er folgte Rei in die Küche, wo sie den Blumenstrauß gera-de in der Vase auf die Ablage neben der Spüle stellte.

\"Vielen Dank, Shinji-kun.\"

\"Freut... uhm... freut mich, daß sie dir gefallen.\"

\"Du weißt gar nicht, wie sehr.\"

\"Ich dachte, ahm, etwas Farbe könnte... ähm...\"

\"Ja.\"
Sie lächelte ihn an.

Shinji war, als würde er schmelzen.
Ja, vor ihm stand ein wahrer Engel, es fehlten nur fedrige Flügel.

\"Ich koche uns Tee.\"

\"Soll ich nicht besser?\"
Nicht, daß sie sich wieder verbrannte...

\"Nein, das ist nicht nötig. Ich werde vorsichtig sein.\"

\"Ahm, ja.\"
Er setzte sich auf den Platz unter dem schmalen Fenster, stellte seine Tasche neben sich und holte rein mechanisch seine Bücher und Unterlagen heraus, ohne den Blick von ihr abzuwen-den.
\"Ich, ahm, ich habe mit Toji und Kensuke gesprochen, ahm, nur um sicherzugehen... uh, sie sa-gen, daß während des Alarms kein Unterricht stattgefunden hat...\"

\"Ja.\"

Rei hatte ähnliches von der Klassensprecherin gehört. Hikari hatte sichtlich erleichtert geklun-gen, als sie erfuhr, daß Shinji-kun und sie selbst unverletzt geblieben waren, hatte dann so-gleich nachgeschoben, daß es auch unter den Mitschülern keine Verletzten gegeben hatte.
Rei bereitete die Tassen vor und stellte die Kanne mit dem Wasser auf die Kochplatte.
\"Wir können gleich beginnen. Oder hast du Hunger?\"

\"Uh, nein, ich habe gerade etwas gegessen...\"
Shinji überlegte. Rei wollte ihm doch nicht etwa etwas kochen? Oder wollte sie sich selbst et-was machen? Er hätte ihr doch auch etwas mitbringen können... wenn er gewußt hätte...

\"Falls doch, habe ich hier etwas.\"
Sie öffnete die Tür des Hängeschrankes, präsentierte ihrem Besucher ihre Einkäufe.

Shinji staunte nicht schlecht, als er die Kekspackungen, die haltbaren Kuchen und all die ande-ren Sachen sah.
\"Das... das ist ja eine ganze Menge...\"

\"Ja. Wir werden auch viel zu tun haben, um uns auf die Prüfungen vorzubereiten... Tee ist doch das richtige, oder? Ich habe auch Limonade oder Fruchtsaft...\"
Plötzlich fühlte sie sich wieder unsicher.

\"Nein, nein, ich trinke gerne Tee.\"

\"Gut, ich habe jetzt verschiedene Sorten.\"

Shinji lehnte sich zurück.
Rei hatte also eingekauft... und da sie selbst solche Sachen bisher nicht benötigt hatte, und da sie ansonsten keinen Besuch erhielt, konnte das ja nur bedeuten, daß sie die Sachen eingekauft hatte, weil sie damit rechnete, daß er öfters vorbeikam... und das fand Shinji irgendwie absolut großartig!


*** NGE ***


Nach einem arbeitsamen Nachmittag kehrte Shinji in die Wohnung zurück, die er sich mit Mi-sato teilte. Sie war bereits da und erwartete ihn mit ernster Miene.
Shinji ahnte übles, jetzt kamen sicher neue Vorwürfe, vielleicht hatte Asuka ihr sogar irgend-welche neuen Märchen aufgetischt... so brav, wie die Rothaarige sich in Misatos Gegenwart gab, mußte diese ihr ja glauben!

\"Shinji...\" setzte Misato an und konnte ihre ernste Miene nicht mehr aufrechterhalten, zog ein völlig trauriges Gesicht. \"Shinji, ich muß mich bei dir entschuldigen... Kaji hat mir alles er-zählt.\"

Kaji-san... er hatte Misato über Asuka aufgeklärt... wunderbar! Dieser Kaji schien wirklich in Ordnung zu sein! Misato wußte jetzt, daß Asuka nur Theater spielte...
\"Ist gut.\" murmelte Shinji und hoffte, daß es damit aus der Welt war, das ganze war ihm so schon peinlich genug.

\"Nein, ist es nicht. Ich hätte dir zuhören sollen... du warst immer ehrlich zu mir und hättest es verdient gehabt.\"

\"Misato, bitte, vergessen wir es einfach, ja?\"

\"Ahm, gut... aber du darfst auch Asuka nicht böse sein, dieses Mädchen hat viel hinter sich... sie hat wirklich schlimmes durchgemacht...\"

\"Und deshalb bedroht sie mich?\"

\"Ich... ach, Shinji, vergib ihr das. Ich werde mit ihr sprechen, sicher kommt ihr miteinander aus.\"

\"Ja, vielleicht...\"
... wenn die Hölle einfror...
Asuka hatte also viel hinter sich... und er? Er hatte seine Mutter vor zehn Jahren verloren und seinen Vater eigentlich auch... er war gezwungen worden, mit einem ihm völlig unbekannten Mecha in den Kampf gegen einen Außerirdischen zu ziehen... und er hatte immer noch einen dicken blauen Fleck über den Rippen in der Form eines Schuhes! Asuka hatte wirklich Glück, daß er nicht der nachtragende, rachsüchtige Typ war...


*** NGE ***


Am nächsten Nachmittag erzählte er Rei von Misatos Äußerung, sie würden nach einem klä-renden Gespräch sicher mit Asuka auskommen.

Reis Antwort fiel knapp und emotionslos aus:
\"Wenn man es mir befiehlt.\"
Dann warf sie einen Blick auf den Blumenstrauß, den Shinji-kun ihr an diesem Tag mitgebracht hatte und der auf dem kleinen Tisch in der Küche zwischen ihnen stand.
\"Shinji-kun, du darfst nicht soviel für mich ausgeben.\"

\"Ich möchte es aber... ahm... ich möchte deine Wohnung in ein Blumenmeer verwandeln... ich möchte, daß du etwas hast, an dem du dich erfreuen kannst... uhm...\"

\"Dann genügt es, wenn du herkommst.\"

\"Uhm...\"

Sie wandten sich beide errötend wieder den Aufgaben zu, die sie an diesem Tag abzuarbeiten sich vorgenommen hatten.


*** NGE ***


Am nächsten Tag in der Schule traf Shinji sich mit seinen Freunden in der Mittagspause auf dem Dach der Schule, ebenfalls anwesend waren Rei und Hikari, woran eigentlich nur Kensuke Anstoß zu nehmen schien, der auf einem reinen Jungentreffen beharren wollte, bis Toji ihm spaßeshalber die Faust unter die Nase hielt - schließlich war Rei Shinjis Freundin, und Hikari versorgte ihn seit jüngstem mit Mittagessen, da durfte man sich schließlich nicht undankbar zei-gen!
Dafür horchte Kensuke Shinji dann bis ins kleinste Detail über den letzten Einsatz aus. Als Shinji erwähnte, daß er und Rei mehrere Tage und Nächte in einem Zimmer verbracht hatten, bekamen die drei anderen - Toji, Kensuke und Hikari - rote Ohren und starrten erst ihn und dann Rei an. Shinji überging es und erzählte von den Tanzübungen und dem dahinterstehenden Plan. Und er erzählte von Asuka.

\"Bedroht hat sie dich?\" schimpfte Toji. \"So ein Miststück! Die soll mir mal in die Finger kom-men... ach nee, das ist dumm...\"

\"Was denn?\" fragte Shinji.

Toji lächelte verlegen.
\"Ich schlage keine Mädchen.\"

\"Das ist auch gut so!\" erklärte Hikari. \"Aber wie sie mit dir umgesprungen ist, daß war wirk-lich nicht nett, als ob sie gleich das Kommando übernehmen wollte.\"

\"Das trifft es wohl.\"

\"Naja, mein Alter, aber wenn sie schon einen Schulabschluß hat, hast du doch wenigstens hier vor ihr Ruhe, was? Da bekommen die langweiligen Unterrichtsstunden mit den Monologen zum Second Impact ganz neue Qualität, oder?\"

\"Uh, ja, glaub schon...\"
So ziemlich alles war besser, als einer messerschwingenden Irren ausgeliefert zu sein, egal wie schwer diese es gehabt hatte...

Sie gingen wieder nach unten in den Klassenraum. Dort erwartete sie eine Überraschung:

Der alte Lehrer war bereits anwesend, obwohl die Unterrichtsstunde noch gar nicht begonnen hatte. Grund dafür war die Vorstellung einer neuen Mitschülerin. Diese stand an der Tafel und schrieb dort gerade ihren Namen auf.
Standard-Schuluniform...
Lange gebräunte Beine, die in den weißen Strümpfen noch mehr zur Geltung kamen...
Strahlend blaue Augen...
Feuerrotes schulterlanges Haar...
Asuka Soryu Langley...

\"Kneif mich mal einer...\" murmelte Shinji.

\"Wow, ist die hübsch!\" flüsterte Kensuke.

Toji knuffte ihn in die Seite.
\"Shinji, ist sie das?\"

\"J-j-j-ja.\"

\"Ken, hör auf zu sabbern, das ist der Feind!\"

\"Was?\"
Kensuke war damit beschäftigt, seine beschlagenen Brillengläser zu putzen.

\"Ich will bis übermorgen umfassendes Bildmaterial. Wenn sie sich nur einen Schnitzer leistet, wenn sie unseren Freund auch nur böse ansieht... dann sorgen wir dafür, daß sie von der Schu-le fliegt!\"
Toji schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche.

Asuka wandte sich den Neuankömmlingen zu.
\"Oh, Shinji, da bist du ja... und du auch, Rei.\"
Der erste Teil ihrer Aussage war voller Wärme und Freundlichkeit, die jedoch völlig aus ihrer Stimme verschwunden waren, als sie beim letzten Wort angelangt war.
\"Ich bin so froh, in eure Klasse gekommen zu sein!\"

\"Uh, was... was machst du hier?\"

\"Ach...\"
Sie zog ein trauriges Gesicht.
\"Das japanische Schulministerium weigert sich, meinen deutschen Abschluß anzuerkennen. Und Kommandant Ikari ist immer noch nicht zurück, um diesbezüglich ein Machtwort zu spre-chen.\"
Ihre Stimme klang zuckersüß.

Doch diesesmal fiel Shinji nicht im Ansatz darauf herein, sondern wahrte Distanz, blieb dabei in Reis direkter Nähe, damit jeder Angriff von Seiten Asukas auf einen von ihnen vom anderen abgeblockt werden konnte.

\"Ist die süß!\" flüsterte Kensuke wieder verträumt und wurde von Toji mit einem Ellenbogen-stoß in die Realität zurückgeholt.

Hikari trat auf Asuka zu.
\"Hallo, ich bin Hikari Horaki, die Klassensprecherin, wenn du Fragen hast, wende dich ruhig an mich.\"

\"Oh, ja, freut mich sehr, dich kennenzulernen. Ah, wo kann ich mich hinsetzen?\"

\"Such dir einen Platz auf, es sind genug frei.\"

\"Ja, danke. - Und ihr seid sicher Shinjis Freunde, oder?\"

\"Sie hat mich angesehen...\"

\"Schnauze, Ken!\"

\"Uhm, Asuka, das sind Toji und Kensuke.\"

\"Hi.\" grollte Toji und versuchte ihr mit einem finsteren Blick mitzuteilen, daß jeder Angriff auf Shinji ein Angriff gegen ihn war.

\"Hallo! Ich bin Kensuke Aida...\" erklärte Kensuke mit schmachtendem Blick und fing sich da-für Ellenbögenstöße von zwei Seiten - von Toji und Hikari - ein.

\"Schön, schön...\" lächelte Asuka und sah sich um, steuerte dann zielstrebig den Platz hinter dem Pult an, auf dem Shinjis Tasche stand.

Das Blut wich aus Shinjis Gesicht. Das konnte doch nicht sein... wie sollte er denn... wie sollte er den Tag überstehen mit ihr in seinem Nacken... Da half nur eins - schnelle Improvisation.
\"Ich komme zu dir\", flüsterte er in Richtung Reis, machte mehrere große Schritte, riß seine Ta-sche von seinem alten Pult und schwang sie auf das Pult hinter Reis Fensterplatz.

Der alte Lehrer beobachtete das ganze nur stirnrunzelnd.
Die Jugend von heute... das erinnerte ihn an die Zeit direkt vor dem Impact, als... und schon begann er mit seinem Monolog, als die Glocke läutete und die Stunde begann.

Asuka blickte wütend auf Shinjis Rücken, welcher Glück hatte, daß ihr Blick keine Löcher bohren konnte. Third hatte sich gerade noch aus dem Staub gemacht. Und seine beiden be-scheuerten Freunde waren ebensowenig in ihrer Nähe wie die Klassensprecherin mit den vielen Sommersprossen... warum hatte Misato nur darauf bestehen müssen, daß sie zur Schule ging, reichte es nicht, daß sie ihre Vorstellung durchschaut hatte? Mußte sie ihr jetzt auch noch da-raus, daß sie Probleme mit den japanischen Schriftzeichen hatte, einen Strick drehen? Aber we-nigstens war ihr EVA nicht beschädigt worden. Und wenigstens hatte First nichts von sich zu-rückgelassen...


*** NGE ***


Da nun drei Piloten zur Verfügung standen, war der Plan für die Tests geändert worden, so daß jeder Pilot nur noch zeitversetzt an jedem dritten Tag zum Synchrontraining erscheinen mußte, solange Doktor Akagi keine Kreuztest oder ähnliches ansetzte.
An diesem Nachmittag war Shinji dran, sein Synchronwert blieb jedoch konstant, egal wie sehr Akagi ihn anspornte, sich zu konzentrieren.
Im Nachhinein war er froh, daß Rei und er sich das Wochenende mit den Aufgaben beschäftigt hatten, für den nächsten Tag plante Doktor Akagi die ersten Reaktivierungstests für EVA-00, so daß ein gemeinsames Lernen erst am übernächsten Tag wieder möglich sein würde.
Shinjis Kopf schwirrte vor Wissensfetzen - mathematische Formeln, physikalische Grundsätze, Passagen aus literarischen Texten... vielleicht sollte er vorschlagen, bei der Benotung in Sport mit EVA-01 auftauchen zu dürfen, dann würde er mit Sicherheit ein paar Rekorde schlagen...

Als er sich duschen und umziehen wollte, mußte er feststellen, daß im Umkleideraum Umbau-maßnahmen stattfanden: Die Seitenwand zum benachbarten Lagerraum war herausgebrochen worden, so daß der Raum größer wurde, ferner war ein langer Wandschirm quer durch den Raum gespannt worden.
Anscheinend hatte endlich jemand erkannt, daß NERV EVA-Piloten beider Geschlechter hatte.
\"Super\", murmelte Shinji sarkastisch und machte sich auf die Suche nach seinen Sachen und ei-nem freien Waschraum.

Das Abendessen mit Misato verlief schweigsam, Shinji stocherte in seinem Essen herum und Misato grinste immer wieder, als wüßte sie etwas, daß sie gerne mitgeteilt hätte, aber nicht durfte.

Am folgenden Tag begann die Schule ganz normal, nur daß Shinji nun ebenfalls am Fenster saß und Hikari auch sogleich den Sitzplan entsprechend änderte.
Kensuke schlich mit bereiter Kamera durch die Schule, um von Asuka Bilder zu machen, so-bald diese auftauchte, wie sich herausstellte, hatte diese bereits nach dem ersten Tag einen Haufen männlicher Verehrer, was wiederum Toji Shinji leise erzählte.
Toji und Kensuke planten, mit den Fotos ein Vermögen zu machen, indem sie sie an die Mit-schüler weiterverkauften.

\"Sag mal, Shinji, so schlimm kommt sie mir gar nicht vor\", brummte Toji.

\"Sie tut nur so, glaub mir.\"

\"Ich glaube dir alles - okay, fast alles. Wollte das nur mal erwähnen. Vielleicht hat sie ja eine Standpauke bekommen.\"

Shinji hob nur die Schultern.

Kensuke kam hereingestürmt.
\"Leute... auf dem Schulhof!\" keuchte er und lief zu seinem Platz, um den Film zu wechseln.

Wie auf ein geheimes Kommando hin stürmten die Schüler zu den Fenstern.

\"Das ist ja die neue!\" - \"Und dieser Schläger, Masamoto...\"

\"Sieh dir das an\", murmelte Toji.


*** NGE ***


Die Dinge liefen schlecht für Masamoto, dem früheren Tyrannen der Tokio-3-High.
Seinem Vater war die Geschichte von der Schlägerei zu Ohren gekommen und daß er Rei Aya-nami - diese bleiche Schlampe - angegriffen hätte. Und da sein Alter offenbar einen Anschiß von seinem Vorgesetzten bei NERV bekommen hatte, hatte er diesen sogleich an seinen Sohn weitergegeben, ihm das Taschengeld gänzlich gestrichen und die Schlüssel für sein Motorrad einkassiert.
Seitdem er von der rotäugigen Hexe fertiggemacht worden war, nahm ihn zudem kaum jemand noch ernst an der Schule, niemand ließ ihn mehr die Hausaufgaben abschreiben und die jünge-ren Schüler taten sich zusammen und bildeten Blöcke, sobald er in ihre Nähe kam.
Wirklich zum Kotzen...
Und dieser blöde Suzuhara stolzierte mit seiner sommersprossigen Freundin, der Klassenspre-cherin der 2-A, händchenhaltend über das Schulgelände... wahrscheinlich war sie genauso be-scheuert wie Suzuhara selbst.
Sobald er auch nur in die Nähe dieser Ayanami kam, tauchte auf seinem Oberkörper wieder der rote Punkt eines Laserzielgerätes auf, der ihm sagen zu wollen schien, daß er besser wieder umkehrte. Die rotäugige Tusse sollte ihm nur an einem Ort über den Weg laufen, wo ihre Leib-wächter kein freies Schußfeld hatten... oder besser noch, wo sie sie gar nicht sehen konnten...
Dann lief ihm diese neue Schülerin über den Weg... feuerrotes Haar, blaue Augen, sonnenge-bräunte Haut, Beine vom Boden bis zum Hintern und eine Oberweite, wie viele ältere Mäd-chen, die Masamoto kannte, sie nicht besaßen. Daß er nicht zu sabbern anfing, war möglicher-weise einer der wenigen Anhaltspunkte dafür, daß er kein schlechtgekleideter Gorilla, sondern ein Angehöriger der Spezies Homo Sapiens war. Allerdings zog er die Neue in Gedanken be-reits aus. Ob diese Bräune wohl nahtlos war...?
Und das beste daran war, daß sie seinen angeknacksten Ruf noch nicht kannte und deshalb problemlos einzuschüchtern sein dürfte!
Masamoto stellte sich ihr also gleich hinter dem Schultor in den Weg, bemühte sich, gleichsam lässig und furchteinflößend zu wirken, als er auf sie herabblickte.
\"Hi, Süße, neu hier?\"

Die Rothaarige blieb stehen, musterte ihn von oben bis unten, verzog dann verächtlich das Ge-sicht.
\"Geh mir aus dem Weg, du Affe.\"

Masamoto lief vor Zorn dunkelrot an.
Dieses kleine Miststück! Na, der würde er es zeigen, die würde schon sehen, was sie davon hatte! Der sah man doch schon von weitem an, daß sie keine reinblütige Japanerin war...
Kraftvoll ließ er seine schmierige Pranke auf ihre Schulter sinken, übte genug Druck aus, daß die meisten Menschen vor Überraschung in die Knie gegangen wären.
\"Nee, Kleine, wenn du hier durch willst, kostet dich das was... Wegezoll! Gib mir dein Essens-geld... du könntest mir natürlich auch dein Höschen zeigen, hätte ich auch nichts \'gegen.\"
Dabei lachte er kehlig.
Nur gab die Rothaarige nicht unter dem Druck seiner Hand nach...
Im nächsten Moment spürte Masamoto einen scharfen Schmerz im Knie, knickte ein, heulte auf vor Schmerz.
Sie hatte ihn getreten... tat das weh... das Miststück hatte ihn getreten... voll gegen sein Knie...
Der nächste Tritt folgte, landete wuchtig in Masamotos Kronjuwelen, ließ ihn noch lauter auf-heulen. Tränen verschleierten seine Sicht. Blind wischte er mit der linken Hand durch die Luft, um sie zu packen zu kriegen, während er die andere gegen seinen schmerzenden Unterleib preßte.
Dann folgte ein dritter Tritt, als die Rothaarige mit einem hohen Kick ihre Schuhsohle mitten in seinem Gesicht plazierte, dabei seine Nase zerschmetterte und ihm den Kiefer brach.
Masamoto flog halb ohnmächtig zurück.

Asuka strich ihren Rock glatt.
\"Zufrieden mit dem, was du gesehen hast?\" flüsterte sie, dann trat sie dem Fleischklops so kräftig wie sie konnte in die Rippen und bedauerte, ihm nicht ihre Initialen in den Wanst schli-tzen zu können, aber Misato hatte ihr ja den Gebrauch ihres Messers strengstens untersagt...

Gemessenen Schrittes ging sie auf das Schulgebäude zu, ließ den größeren und breiteren und auch viel schwereren älteren Jungen, dessen Gesicht ein einziger blutiger Matsch zu sein schien, achtlos liegen.

Drinnen wurde Asuka sofort von einer großen Zahl Zeugen ihrer Aktion umringt, darunter ihre Verehrer, welche sie nun mit einem Hauch von Unglauben anblickten, und viele frühere Opfer Masamotos, vor allem Mädchen, die er belästigt und ihres Essensgeldes erleichtert hatte. Für diese war Asuka die Heldin der Schule.
Lachend und scherzend bahnte sie sich ihren Weg zum Klassenzimmer.
Endlich bekam sie die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Und wenn sie geahnt hätte, wie we-nig dazu nötig war, hätte sie dem Fleischkloß noch ein paar Schläge mehr verpaßt... ihr Onkel hatte ihr schließlich nicht nur Tritte, sondern auch Handkantenschläge und Ellenbogenstöße beigebracht, die an der richtigen Stelle angebracht fatale Wirkung entfalten konnten...

Wie eine Königin zog Asuka in den Klassenraum ein.
Sie hatte den gefürchteten Masamoto fertiggemacht! Die Schüler umringten sie auch hier wie eine Traube, umlagerten ihren Platz, wollten wissen, wo sie das gelernt hatte, ob sie den Schwarzen Gürtel besaß, ob sie vielleicht schon auf Meisterschaften angetreten war und vieles mehr. Ganz bescheiden ließ Asuka die Bemerkung fallen, daß dies zu den Dingen gehörte, die ihr während ihrer vieljährigen Ausbildung zur EVA-Pilotin beigebracht worden waren.
Ein Raunen ging durch die Menschentraube, einige Mitschüler blickten zu Ikari und Ayanami hinüber und fragten sich, ob diese beiden auch so derartigem fähig waren - aber wenn sie es waren, warum hatte dann erst Asuka Soryu Langley an die Schule kommen müssen, um für Ordnung zu sorgen?! Daß Toji bereits mit dem Schläger aneinandergeraten war, vergaßen sie dabei, ebenso wie sie bequemerweise vergaßen, daß Rei Masamotos Ruf bereits mit einer ein-fachen Handbewegung praktisch zerstört hatte, bevor Asuka aufgetaucht war.

\"Mensch, spielt die sich auf\", murmelte Toji.

Shinji nickte.
\"Das genießt sie.\"

\"Bestätigt.\" kam es von Rei.

Hikari stand immer noch am Fenster und sah zu Masamoto hinunter, der immer noch auf dem Pflaster des Schulhofes lag, eine Hand gegen den Schritt gepreßt, die andere auf sein Gesicht, sein rechtes Bein stand in einem Winkel ab, der nur bedeuten konnte, daß es gebrochen war.
\"Ob er einen Arzt braucht?\"

\"Wahrscheinlich.\"
Toji trat neben sie, berührte sie sanft an der Schule und drehte sie um.
\"Ich glaube, ich habe ein paar Zähne fliegen sehen. - Ah, da kommt schon die Schulkranken-schwester.\"
Er verspürte kein Bedauern für den älteren Jungen, das war ohnehin mal fällig gewesen. Allerdings konnte er sich jetzt auch ein Bild von Soryus Fähigkeiten machen - Shinji hatte wirklich nicht übertrieben.

Den ganzen Vormittag über saß Asuka mit strahlendem Lächeln an ihrem Platz, während der Pausen ließ sie sich von ihren Fans huldigen. In der zweiten Stunde wurde sie zur Direktorin gerufen, kehrte aber schon bald zurück, ohne daß sich an ihrem Gesichtsausdruck etwas geän-dert hätte.
Kensuke teilte Shinji in der nächsten Pause mit, daß er Misato über den Hof hatte gehen sehen, bevor Asuka zum Direktor zitiert worden war.
Als die letzte Schulstunde vorbei war, schlenderte Asuka an Shinjis Pult vorbei, lächelte ihn an und flüsterte ihm fast zärtlich zu: \"Wir sehen uns, Shinji-kun!\"

\"Urgh...\" machte Shinji. Sein Herz schien erst wieder schlagen zu wollen, als Asuka den Klas-senraum verlassen hatte.

Auf Reis Stirn bildete sich eine tiefe Falte, als sie die Augenbrauen zusammenzog.
Soryu stand es definitiv nicht zu, ihren Freund Shinji-kun zu nennen! Das durfte nur sie! Gut, auch Captain Katsuragi durfte ihn so nennen, Hikari vielleicht auch, solange sie nicht zu freundlich wurde, aber Soryu nicht, wirklich nicht!
Ein leises Grollen entrann ihrer Kehle, welches ein aufmerksamer Zuhörer als den Namen der neuen EVA-Pilotin hätte interpretieren können.

\"R-Rei... ist alles... in Ordnung?\"

Rei blickte zu ihm, die Zornesfalte auf ihrer Stirn glättete sich.

\"Ja, Shinji-kun.\"

\"Uh... ahm... gut... dann, äh, dann bringe ich dich noch ein Stück.

Sie nickte, verließ Seite an Seite mit ihm den Klassenraum.


*** NGE ***


Auf dem Rückweg trödelte Shinji ein wenig, fuhr einige Umwege mit seinem Fahrrad, kaufte noch ein paar Dinge für das Abendessen ein, das er zuzubereiten gedachte, wenn Misato von ihrer Schicht kam, griff dabei in eine Lache ausgelaufener Currysoße, weil er mit den Gedan-ken ganz woanders war.
Hoffentlich gab bei den Reaktivierungstests keine Komplikationen... andererseits war EVA-00 noch weit davon entfernt, wieder voll einsatzfähig zu sein, was die Gefahr eines Amoklaufes doch stark reduzierte. Aber vielleicht könnte er ja gegen Abend noch einmal im Hauptquartier vorbeischauen und sich dann von Misato mit zurücknehmen lassen.

Schließlich kam er daheim an, fuhr mit dem Fahrrad im Aufzug nach oben - es paßte mehr schlecht als recht in die Liftkabine, aber er hatte keine Lust, es die Stufen in den vierten Stock hochzuschleppen.
Seltsam... Rei wohnte auch im vierten Stock... diese Ähnlichkeit war ihm noch gar nicht aufge-fallen...
Das Rad konnte er im Hausflur stehen lassen, in seinem Zimmer wäre es auch etwas eng ge-worden. Er nahm die Einkäufe vom Gepäckträger und trug sie in die Wohnung, stolperte noch im Korridor fast über einen großen Karton.

\"Nanu?\" entfuhr es ihm.
Er stellte die Einkaufstüte auf den Tisch und sah sich um.
Der ganze Korridor war zugestellt mit Kartons und Kisten, alles noch zugeklebt oder zugenagelt.
Was war denn hier los?
Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, auch in der richtigen Wohnung zu sein, indem er die Zahl der Kühlschränke in der Küche feststellte.
Langsam ging er zwischen den Kartons hindurch, als er Wasserrauschen hörte.
Wahrscheinlich nahm der Pinguin ein Bad. Wenn PenPen doch nur hätte sprechen können... dann hätte er ihm erzählen können, was die ganzen Kartons hier sollten. Der Vogel war schließlich sehr clever.
Seufzend öffnete Shinji die Badezimmertür, er mußte sich ohnehin die Hände waschen - blöde Currysoße...
\"Hey, PenPen, was sollen denn die ganzen Kartons draußen?\" fragte er, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen, die über ein \'Wark\' hinausging.
Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen... merkwürdig, PenPen badete doch im-mer eiskalt...
Langsam drehte er den Kopf, sah die Gestalt hinter dem Duschvorhang... ein nackte Gestalt mit flammendrotem Haar...

\"Perverser!\" brüllte Asuka Soryu Langley aus vollem Hals.

Dann sah Shinji eine Faust direkt auf sich zukommen. Und danach sah er erstmal gar nichts mehr.


*** NGE ***


Fußboden... er lag auf dem Fußboden...
Decke... die Decke des Wohnungsflures...
Schmerz... linkes Auge... wahrscheinlich am Zuschwellen...
Stimmen... Misato... und Asuka...

Ächzend setzte Shinji sich auf, tastete über sein Gesicht, ertastete eine nette Schwellung, zuck-te zusammen.

\"Hier, drück das aufs Auge.\"
Misato reichte ihm ein Tuch, das sie in kaltem Wasser getränkt hatte.
Neben ihr stand Asuka, barfuß, die Haare naß, in ein blau-weiß gestreiftes Badetuch gehüllt.
\"Asuka, mußtest du gleich zuschlagen?\" ihrer Stimme war anzumerken, daß sie sich nur mit Mühe beherrschte.

\"Ich habe mich erschreckt. Er stand plötzlich im Bad.\"

\"Genau deshalb kann man die Tür abschließen. - Shinji, warum bist du ins Bad gegangen?\"

\"Warum? Misato, ich wohne hier! Ich wollte mir die Hände waschen!\"
Er verzog das Gesicht, als er sich den Lappen auf sein Auge drückte. Wo war sein EVA, wenn er ihn brauchte?

\"Siehst du, Asuka, keine Absicht. Wenn Shinji gewußt hätte, daß du im Bad bist, hätte er die Tür nicht einmal angesehen.\"

\"Na gut... Tut mir leid.\" sagte Asuka kleinlaut. \"Ich hatte mich nur so erschrocken...\"

Shinji nahm es ihr nicht ab. Und Misato war anscheinend auch nicht ganz so davon überzeugt.
\"Misato, was macht sie hier überhaupt?\"

Statt Misato antwortete Asuka - und gab einem von Shinjis übelsten Alpträumen mit ihren Worten Realität: \"Ich wohne jetzt auch hier!\"

Shinji schoß in die Höhe, war auf den Beinen und im Eingangsbereich schneller, als das men-schliche Auge ihm hätte folgen können.
\"Misato, das ist nicht wahr... sag, daß das nicht stimmt.\"

\"Ich wollte eigentlich vorher mit dir reden, Shinji, aber irgendwie warst du schneller hier als ich... Ich dachte, daß es für Asuka nicht schlecht wäre, mit uns wie in einer Familie zu leben... sie kann doch nicht allein im Hauptquartier wohnen.\"

Das war ein Traum... das mußte ein schlechter Traum sein...
Verzweifelt kniff Shinji sich in den Arm, doch er wachte nicht auf.
\"Misato, das geht nicht! Ich wohne nicht mit ihr unter einem Dach!\"

\"Shinji, ich habe mit Asuka gesprochen, sie...\"

\"Ja, das hat sie, Shinji, ich wollte mich bei dir entschuldigen... ich wollte dich nicht bedrohen... es sollte ein Scherz sein, wirklich...\"

\"Sie hat es mir hoch und heilig geschworen. Du solltest ihr eine Chance geben, Shinji.\"

Shinji sah von einer zur anderen, schüttelte nur den Kopf.
\"Nicht mit mir... das mach ich nicht noch einmal mit!\"
Sprach\'s, stieg in seine Schuhe und war bereits im Flur.

\"Warte, Shinji!\" rief Misato. \"Wo willst du denn hin?\"

\"Irgendwohin, nur weg!\"
Er packte sein Fahrrad und rannte die Treppe hinab.

Misato blieb mit offenstehenden Mund zurück, hinter sich Asuka, welche die Arme vor der Brust verschränkt hatte und lächelte. Das Lächeln verschwand schlagartig von Asukas Lippen, als Misato sich umdrehte, machte Verwirrung und Besorgnis Platz.

\"Misato, wenn ich gewußt hätte, daß er so reagiert, wäre ich nie hergekommen, das mußt du mir glauben... ich wollte mich doch mit ihm versöhnen...\"

\"Ja, ja...\" murmelte Misato gehetzt.
Gut, Shinji würde sich schon wieder beruhigen, sicher brauchte er nur ein wenig Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen... vielleicht half es ihm, wenn er bei einem Freund übernachte-te...
Misato ging schweren Schrittes in die Küche, holte zwei Sechserpacks aus dem Kühlschrank, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und öffnete die erste Dose...

Derweil überlegte Asuka, wann wohl der beste Zeitpunkt war zu fragen, ob sie Shinjis Zimmer bekommen könnte...


*** NGE ***


Völlig abgehetzt stand Shinji vor einer Wohnungstür in einem engen Hausflur, deren Klingel-schild verkündete, daß es die Wohnung der Suzuharas war. Toji wohnte in einem Haus, wel-ches von der Bauweise her dem ähnelte, in welchem Rei ihr Apartment hatte.
Shinji drückte so lange auf den Klingelknopf, bis von drinnen ein brummendes \"Komme doch, kein Grund für Krach\" kam und sich schlurfende Schritte näherten.
Die Tür wurde geöffnet.

\"Oh, Shinji, na, das ist ja eine Überraschung!\" rief Toji.
Seine Verärgerung über die Störung war sofort wie fortgeblasen.
\"Was ist denn mit dir los... Mensch, wer hat dir denn das verpaßt?\"
Er deutete auf Shinjis Auge, welches bereits fast zugeschwollen war.
\"Das ist das größte Veilchen, das mir in diesem Jahr bisher untergekommen ist...\"

\"Ja, ja, Toji... Kann ich \'reinkommen?\"

\"Klar.\"
Toji trat zur Seite.

Shinji betrat die Wohnung.

Der Korridor war noch schmaler als der Hausflur, an der rechten Seite gingen zwei Räume ab, am anderen Ende war eine Tür. Aus dem hinteren Raum kamen Geräusche wie von einer Sportveranstaltung.

\"Ja, ist nicht groß, aber wir kommen klar.\" murmelte Toji.

\"Junge, wer ist es denn?\" krähte eine Stimme aus dem hinteren Raum.

\"Nur wer aus meiner Klasse, Opa!\" schrie Toji.

\"Ah, so. Er soll sich gut die Füße abtreten. Deine Großmutter haßt Schmutztapsen auf dem Teppich!\"

Toji bedeutete Shinji nichts zu sagen.
\"Klar, Opa!\" brüllte er.
Dann wandte er sich flüsternd an Shinji: \"Mein Großvater, arbeitet als Wissenschaftler bei NERV... eigentlich voll das Genie, nur leider fast taub... und er glaubt, meine verstorbene Oma wäre noch am Leben und könnte jeden Moment heimkommen. Ansonsten ist er aber voll in Ordnung.\"

\"Aha...\" murmelte Shinji.

\"Stören wir ihn besser nicht, sonst hält er dich am Ende noch für irgendeinen meiner Cousins... passiert ihm ständig mit Kensuke... komm mit in die Küche.\"
Toji schob Shinji in den ersten Raum, der neben Spüle, Herd, Geschirr- und Vorratsschrank einen Tisch und ein schmales Bett enthielt.
\"Ich schlafe hier, Opa und mein Vater nächtigen im Nebenzimmer... naja, wirklich nicht viel Platz...\"

Shinji strich seinen Vorsatz, Toji zu fragen, ob er bei ihm übernachten könnte. Wahrscheinlich hätte Toji ihm sogar sein Bett überlassen und selbst auf dem Boden geschlafen, aber das hätte Shinji nicht über\'s Herz gebracht.
\"Ah ja... ahm...\"

\"Also, wer hat dich so zugerichtet?\"
Toji schob die Ärmel seines Trainingsanzuges hoch.
\"Am besten gehen wir gleich bei ihm vorbei und nehmen ihn die Mangel... vorher holen wir noch Kensuke...\"

\"Das war Asuka.\"

\"Was? Verdammt...\"
Toji ließ die Fäuste sinken, machte ein enttäuschtes Gesicht... er konnte doch nicht losgehen und Mädchen verprügeln...
\"Alter, was ist passiert?\"

\"Ich... oh je... ich bin nach Hause gekommen... und ins Bad... und da stand sie unter der Du-sche... und dann ging ich auch schon zu Boden...\"

\"Unter der Dusche? Du hast sie nackt gesehen?\"

\"Uh, ja.\"

\"Und? Hat sie wirklich...?\"
Toji machte eine bogenförmige Geste vor seinem Oberkörper.
\"Oder ist ihr BH nur ausgestopft? Und sind die roten Haare echt?\"

\"Toji! Darauf habe ich doch gar nicht gedacht!\" entgegnete Shinji gereizt.

\"Ahm, ja, klar, tut mir leid... manchmal geht\'s noch mit mir durch... nichts Hikari davon sagen, ja?\"

\"Schon klar.\"

\"Und was jetzt? Willst du etwas hierblieben, bis die Furie bei euch aus der Wohnung ver-schwunden ist? - Ist kein Problem, wirklich...\"

\"Das könnte länger dauern... Misato hat sie bei uns einziehen lassen.\"

\"Echt? Mann, oh, Mann... Wenn Soryu nicht so fies drauf wäre, würde ich dich beneiden... zwei hübsche Frauen, die ständig um dich herum sind, vielleicht leichtbekleidet...\"

\"Toji, vielleicht sollte ich doch mit Hikari sprechen...\"

\"Äh, nee, laß, bitte! War nur ein Scherz, Alter! Hm... willst du vielleicht hier übernachten? Du kannst mein Bett haben und...\"

Shinji hob abwehrend die Hände.
\"Nein, nein, wirklich, das ist nicht nötig. Ich... uh... ich kann im NERV-Hauptquartier schla-fen... muß mir nur ein Zimmer zuweisen lassen... uhm... mach dir bloß keinen Aufwand mei-netwegen...\"

\"Na gut, ist wahrscheinlich auch bequemer. Soll Opa sich mal dein Auge ansehen? Versteht ei-ne Menge von Erster Hilfe, hat mich früher immer wieder zusammengeflickt, wenn ich in eine Schlägerei verwickelt gewesen war...\"

\"Uhm... nein, es geht schon... ich war auch nur gerade in der Nähe... ahm... ich will gleich wei-ter...\"

\"Ja... hm... du willst wirklich nicht noch etwas bleiben?\"

\"Naja... ein bißchen kann nicht schaden... ein paar Minuten...\"


*** NGE ***


Aus den beabsichtigten \'ein paar Minuten\' wurden mehrere Stunden. Draußen war es bereits dunkel, als Shinji aufbrach. In der Zwischenzeit war auch Tojis Vater heimgekommen, hatte den Gast freundlich begrüßt und gefragt, ob er nicht zum Essen bleiben wollte, doch Shinji hat-te abgelehnt, er wollte den Suzuharas nicht irgendwie zur Last fallen. Außerdem war es mit insgesamt vier Personen richtig eng in der Wohnung geworden, zudem der andere Raum eher einem Wandschrank ähnelte, in dem ein Etagenbett und ein Fernseher standen.
Tojis Großvater hatte Shinji geraten, in Rindersteak auf das zugeschwollene Auge zu drücken, auf Tojis Frage, wo in Gottes Namen Shinji denn ein Steak hernehmen sollte, aber nur gelacht.

Nun fuhr Shinji wieder durch die Straßen der Stadt und hakte im Kopf einen Namen nach dem anderen ab, wo er vielleicht hätte unterkommen können, die Liste war aber nicht sehr lang.
Zu Kensuke konnte er nicht, der hatte zwar genug Platz, aber seine Mutter konnte Shinji nicht leiden... wahrscheinlich hätte sie ihn nicht fortgeschickt, aber Shinji wollte auch nicht, daß sein Freund wegen ihm Ärger bekam...
Hikari schied gleich ganz aus, er wußte zwar vage, wo sie wohnte, aber plötzlich vor ihrer Tür zu stehen, wäre doch sehr dreist gewesen...
Ins Hauptquartier wollte er auch nicht wirklich, vielleicht war ja sein Vater inzwischen zurück, dem er wirklich nicht über den Weg laufen wollte...
Und ansonsten...
Rei...
Vielleicht konnte er bei Rei übernachten...

Aber schickte sich das?
Sicher, sie würde es verstehen... und sie würde ihn auch sicher nicht wegschicken... und sie hatten auch schon in einem Zimmer übernachtet... aber...
Wenn er in der Küche schlief, sollte das kein Problem darstellen...

Kurz darauf stand er vor ihrer Wohnungstür, stellte fest, daß die Klingel immer noch kaputt war und klopfte laut.
Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde.

Rei blickte ihn verschlafen an, sie trug nur ihre Badelatschen und ein zerknittertes weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, welches ihre Oberschenkel halb bedeckte.
\"Shinji-kun... was ist denn?\"
Sie rieb sich die Augen, sah ihn dann genauer an. Ihr Blick blieb an seinem zugeschwollenen Auge hängen.

\"Uh... Rei... hast du geschlafen?\"

\"Ja... wa...\"
Warum war sein Auge zugeschwollen? Was war mit Shinji-kun passiert, seit sie sich in der Bahnstation getrennt hatten?

\"Ah, tut mir leid\", unterbrach er sie. \"Ich gehe besser...\"

\"Nein.\"
Sie schüttelte den Kopf, ergriff seinen Oberarm und zog ihn in die Wohnung. Shinji folgte dem Zug willig.
\"Das macht nichts. Komm erstmal rein.\"

\"Ahm...\"

\"Was ist mit deinem Auge?\"

\"Das... ahm... das war Asuka...\"
Und er erzählte auch ihr die ganze Geschichte, verglich dabei in Gedanken die heutigen Ereig-nisse mit jenen in Reis Wohnung vor mehreren Wochen. Shinji schloß seinen Bericht mit den Worten:
\"... und daher wollte ich fragen, ob ich heute nacht hier schlafen kann... ich werde dir auch nicht zur Last fallen... bitte, wenn du mich in der Küche auf dem Boden schlafen läßt... du wirst mich gar nicht bemerken...\"

Rei sah ihn lange an.
Soryu hatte ihn verletzt... und auch noch aus seinem Heim vertrieben... und sie war wieder nicht dagewesen, um ihn zu beschützen... natürlich konnte Shinji-kun bei ihr übernachten, da sprach gar nichts dagegen, das war doch viel sicherer als irgendwo auf einer Bank... allerdings verstand sie nicht, weshalb er unbedingt auf dem Boden schlafen wollte, ihr Bett war doch um einiges bequemer... aber wenn er es wünschte...
\"Du kannst hier schlafen, Shinji-kun.\"
Sie ging zu ihrem Bett und nahm eine der beiden Decken, die sie benutzte, an sich, ebenso das Kopfkissen, trug beides in die Küche und legte es in die hintere Ecke zwischen Schrank und Tisch.
\"Du willst wirklich auf dem Boden schlafen?\"

\"Äh, ja, Rei, wenn es dir nicht zuviele Umstände macht... uhm, danke, Rei, das... ah... ich hätte nicht gewußt, wo ich sonst hätte hingehen sollen... aber du brauchst mir nicht dein Kissen ge-ben, die Decke genügt doch völlig.\"

\"Du nimmst es.\"
Wenn er schon auf dem Boden schlafen wollte, sollte er es wenigstens so bequem wie möglich haben. Warum wollte er denn nicht bei ihr schlafen?

\"Danke, ahm, ja, danke...\"

\"Benötigst du noch etwas, Shinji-kun?\"

\"Nein, Rei, uh, wirklich nicht.\"

\"Gut. Ich gehe wieder schlafen.\"
Sie brauchten beide ihren Schlaf. Die Test hatten sie mental ausgelaugt und Shinji-kun verfügte nicht über ihre Konstitution. Kurz zögerte sie, ob sie das Hemd wieder ausziehen sollte, eigent-lich schlief sie völlig unbekleidet, allerdings war es nicht gerade warm in ihrer Wohnung, die le-tzten Tage hatte es einen Temperatursturz gegeben, der dafür gesorgt hatte, daß es in ihrer Wohnung angesichts der defekten Heizung doch spürbar kühl war, deshalb auch die zweite Decke. Hoffentlich hatte Shinji-kun es warm genug...
Sie löschte das Licht und kroch wieder unter ihre Decke.

Shinji war derweil aus Hemd und Hose gestiegen und hatte sich, nun noch mit Unterhemd, Shorts und Socken bekleidet, in die von Rei zur Verfügung gestellte Decke eingerollt.
Es war kalt in ihrer Wohnung... tagsüber war ihm das gar nicht aufgefallen, während sie hier gearbeitet hatten... aber da hatten sie ja auch warmen Tee gehabt...
Er zog die Decke noch enger um sich und versuchte zu schlafen...


*** NGE ***


Rei wurde mitten in der Nacht von einem unbekannten Geräusch geweckt, einem seltsamen Klappern... sie sah sich im Dunkeln um.
Nein, die Heizung war es nicht, die war so tot wie eh und je...
Das Geräusch kam aus der Küche...
Shinji-kun... vielleicht ging es ihm nicht gut... vielleicht hatte Soryu ihn härter erwischt, als er eingestanden hatte...
Sie schwang sich aus dem Bett, machte Licht in ihrem Schlafraum und ging in die Küche.
Shinji-kun lag immer noch in der Ecke, eingerollt in die Decke, die sie ihm gegeben hatte, aller-dings schien er stark zu zittern. Das Geräusch, das sie geweckt hatte, stammte vom Klappern seiner Zähne...
Das konnte sie nicht weiter tatenlos mit ansehen! Wenn Shinji-kun weiterhin auf dem Boden schlief, konnte er krank werden, nein, das konnte sie nicht zulassen, egal wie sehr er darauf be-standen hatte, auf dem Boden zu nächtigen!
Sie ging neben ihm in die Hocke und schüttelte ihn leicht, bis er aufwachte.

\"Uh, was... Rei? Ah... äh... was ist? Uh... habe ich dich geweckt? Habe ich geschnarcht?\"

\"Nein... du kannst nicht hier schlafen.\"
Sie zog ihn auf die Beine, ergriff im Ausstehen das Bettzeug.

\"Uh... ahm... tut mir leid... ich...\"
Ganz sicher hatte er sich geweckt... vielleicht hatte er geschnarcht... oder vielleicht hatte er im Schlaf gesprochen... jetzt würde sie ihn \'rauswerfen...

Doch stattdessen zog Rei den schlaftrunkenen Shinji nur in ihren Raum, warf das Kissen ins Bett und breitete die Decke darüber aus, schlüpfte dann unter die Decken und rutschte bis zur Wand. Ihr Hemd behielt sie an, damit Shinji-kun keine falschen Schlußfolgerungen zog.
\"Komm hierher, das ist wärmer.\"

\"Uh, Rei...\"
Sie wollte doch nicht wirklich mit ihm in einem Bett schlafen... das mußte er mißverstehen...
Doch die Tatsache, daß sie die Bettdecken hochhielt und ihm Platz gemacht hatte, sprach für sich selbst.
Zögernd setzte er sich auf die Bettkante, schwang die Beine unter die Decke.
Rei ließ die Decke los, deckte ihn zu.
Shinji bemühte sich, ihr möglichst viel Platz zu lassen, rückte soweit zur Kante, wie er konnte, ohne aus dem Bett zu fallen.
\"Uhm, ja... ahm...\"

\"Gute Nacht, Shinji-kun.\" flüsterte Rei neben ihm.

\"Äh, ja, gute Nacht, Rei.\"
Er schloß die Augen, doch das vertrieb die Nervosität nicht... nicht im geringsten...
Rei war so nahe...

Rei blickte auf Shinjis Rücken.
Sicher war ihm noch kalt... und so nahe, wie er an der Bettkante lag, lief er Gefahr, hinauszu-fallen, wenn er nicht acht gab...
Sie legte den Arm um ihn, rückte ganz nah an ihn heran, so konnte sie verhindern, daß er her-ausfiel und sich vielleicht verletzte, und ihm etwas von ihrer Körperwärme geben... und sie konnte ihm nahe sein...

Shinji vergaß beinahe zu atmen, als Rei den Arm um ihn legte und er ihren warmen Atem im Nacken spürte. Sie war so nah... viel zu nah... Mit einem mal war die Kälte aus seinem Körper verschwunden, wurde von Hitze ersetzt, die ihren Ursprung in seinen Lenden hatte.
Doch er beherrschte sich, blieb, den Rücken ihr zugewandt, ruhig liegen, anstatt sich umzudre-hen und sie in die Arme zu schließen... vorerst jedenfalls...
6. Zwischenspiel

\"Israfel wurde besiegt\", wisperte die Stimme seines älteren Bruders.

Der jüngere signalisierte seine Kenntnisnahme.

\"Wir sind nicht mehr viele, die in die Welt der Lillim vordringen können... nur noch eine Handvoll ist imstande, dort einen materiellen Körper zu formen.\"

\"Vielleicht gibt es einen anderen Weg... vielleicht kann man mit den Lilim reden.\"

\"Nein, Tabris\", grollte die Stimme eines anderen der älteren. Die Stimme verdeutlichte, über welche Kraft der Sprecher verfügte. \"Die Lilim verstehen nur Gewalt, das war Vaters Ge-schenk an sie, als er Mutters Werk zum ersten Mal verwüstete.\"

\"Mutter...\" flüsterte der jüngste.
Obwohl in ihrem Reich die vergangenen vierzehn Jahre nur ein Wimpernschlag gewesen wa-ren, vermißte er sie.

Der mächtige Zeruel wandte sich ab, die Anwesenden spürten, wie er ihre Runde verließ.

\"Ihre Waffen sind stark\", flüsterte Satchiel, immer noch geschwächt von seiner Begegnung mit dem Wesen namens EVANGELION.

\"Und sie bauen ständig neue\", fügte Israfel zweistimmig hinzu, der gerade eingetroffen war.

\"Wenn sie uns doch nur verstehen könnten... könnten sie wirklich so grausam sein, unsere Mutter... und ihrer aller Mutter... weiterhin gefangenhalten zu wollen, wenn sie die Wahrheit erkennen?\"

\"Lilim sind blind, sie wollen die Wahrheit nicht erkennen, Tabris.\"

\"Gerade du gibst auf, Arael?\"

\"Nenne mir eine Möglichkeit. Die Lilim wollen nur kämpfen. Satchiel und Shamsiel haben von der Wildheit und der Mordgier berichtet, die von ihnen ausgeht.\"

\"Von ihren Waffen, Bruder... wir müssen uns etwas anderes überlegen...\"

\"Da ist... spürt ihr es auch?\"

\"Ja, Sandalphon erwacht...\"
Kapitel 24 - Veränderungen

Shinji wachte auf.
Es war wirklich kein Traum gewesen...
Er lag im gleichen Bett wie Rei. Sie hatte tatsächlich den Arm um ihn gelegt und schlief immer noch an ihn geschmiegt, war ihm so nah... Es fühlte sich wunderbar an...
Wie sie wohl aussah, wenn sie schlief? Welchen Ausdruck wohl ihr Gesicht hatte?
Er mußte sich nur vorsichtig umdrehen, um sie nicht aufzuwecken...
Dummerweise reagierte sein Körper auf ihre Nähe auf eine Art und Weise, die ihm äußerst peinlich gewesen wäre, hätte sie es bemerkt. Sein Kopf mußte so rot angelaufen sein, daß er vielleicht im Stande war, das Zimmer auszuleuchten, hätte dies nicht schon der bleiche Voll-mond getan, dessen Licht durch das Fenster hineinfiel.
Welchen Ausdruck hatte wohl ihr schlafendes Gesicht...
Während der Tage, die sie im gleichen Zimmer gewohnt hatten, hatte er nicht mehr als ihre Sil-huette des Nachts gesehen...
Langsam und vorsichtig drehte er sich auf den Rücken. Und ebenso vorsichtig drehte er sich auf die andere Seite, zog zugleich die Knie an und stützte sich mit dem Ellenbogen auf, so daß sein Hinterteil über die Bettkante hing, ohne daß er hinausfiel und ohne daß sie die Beule in seiner Hose bemerken konnte.
Der Anblick ließ seinen Atem stocken.
Rei lag auf der Seite, das Gesicht ihm jetzt zugewandt.
Das Licht des Mondes badete ihr Gesicht in einen fahlen Schein. Sie wirkte so friedlich, un-schuldig... Ihre sanft geschwungenen Lippen waren direkt vor ihm, er mußte eigentlich nur selbst die Lippen spitzen, um sie zu berühren. Der Drang, sie zu küssen, war unglaublich stark... er mußte nur den Kopf leicht nach vorn bewegen... diese Lippen... nur kurz... nur ein ganz kurzer Kuß... nur ein kurzer Kontakt... nur einmal diese Lippen berühren im Schein des Mondes...
Millimeter um Millimeter schob er den Kopf nach vorn.
Ihr warmer Atem strich über seine Lippen.
Er stoppte.
Wenn er das tat... egal, wie sehr er sich danach sehnte... was dann? Wenn er ihr einen Kuß raubte... was kam als nächstes... ihr Haar war ebenso verlockend, er wollte mit den Fingern hindurchfahren, sein Gesicht darin vergraben, wollte ihre Wangen sanft streicheln... sein Blick glitt tiefer, zum offenstehenden obersten Knopf ihres Hemdes, zu schwach erkennbaren Ansatz ihrer Brüste... wenn er sie jetzt küßte, wußte er nicht, was dann geschehen könnte, wozu er imstande war, was er ohne ihr Einverständnis tun könnte...
Nein, er konnte es nicht, durfte es nicht, durfte sie nicht küssen ohne ihre Erlaubnis, ohne ihr Wissen, durfte ihr Vertrauen nicht mißbrauchen...
Langsam zog er den Kopf zurück, beschränkte sich darauf, sie anzusehen, trunken von ihrer Schönheit.
Wenn dieser Augenblick doch nur ewig anhalten konnte... wenn doch der Morgen nie anbre-chen würde, wenn er doch die Zeit anhalten und sie immer anblicken konnte... aber am näch-sten Tag schon konnte ein weiterer Feind auftauchen... könnte er sie verlieren...
War das nicht schon ein Grund, sie doch noch zu küssen, solange er noch konnte?
Nein...
Ihr Anblick brachte ein Lächeln auf sein Gesicht.
Wie spät mochte es sein?
Er hob den Kopf ein Stück, blickte aus dem Fenster. Draußen war es immer noch dunkel, sah man vom Vollmond ab, dessen Licht in das Zimmer und auf Reis Gesicht fiel.
Shinji bemühte sich, die Augen solange wie möglich offenzuhalten, sie so lange wie möglich anzusehen, doch schließlich fielen ihm die Augen zu.


*** NGE ***


Wie üblich erwachte Rei mit der Morgendämmerung, öffnete die Augen.
Sie blickte in Shinji-kuns Gesicht. Er lächelte, es war das erste Mal, daß sie ihn lächeln sah, seit Soryu eingetroffen war. Das Veilchen schimmerte dunkelviolett. Rei verspürte Wut bei dem Anblick, stellte sich vor, Soryu es mit gleicher Münze zurückzuzahlen... aber der Kommandant hatte ihr untersagt, ihre Kräfte jemals gegen einen Menschen einzusetzen, ein Block, wie sie ihn bei dem älteren Schüler eingesetzt hatte, war bereits das äußerste des ihr erlaubten.
Wenn es ihr doch nur möglich wäre, seine Verletzungen zu heilen, wie ihre eigenen Schäden heilten...
Soetwas durfte sich nicht wiederholen! Sie mußte Shinji-kun vor Soryu beschützen!
Zögernd hob sie die Hand, strich vorsichtig eine Haarsträhne aus seinem Gesicht, wünschte sich, nicht an ihre Pflicht und die Mission gebunden zu sein...
Die Schule würde bald beginnen... sie mußte sich fertigmachen, Shinji-kun mußte sich fertig-machen... er mußte vorher etwas essen... ob ihm die Dinge in ihrem Kühlschrank wohl zusag-ten?
Shinji-kun regte sich, sie hatte ihn doch nicht geweckt? Aber es war ohnehin Zeit...

Shinji schlug die Augen auf, blickte in ein Paar scharlachroter Augen, die seinen Blick erwider-ten.
\"Uh... Rei... ahm... Guten Morgen...\"
Das war eine Hand auf seiner Wange, eine weiche, warme Hand... Reis Hand...

\"Guten Morgen, Shinji-kun.\"
Sie sah auf ihre Hand, die immer noch seine Wange berührte, als wäre sie nicht Teil ihres Kör-pers, zog sie rasch zurück.

Shinji fing ihre Hand ab, hielt sie fest, ohne dabei den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden.
Sie gab dem Zug nach, ihre Fingerspitzen berührten wieder seine Wange.
\"Rei... ich...\"
Er ließ ihre Hand los, senkte den Blick.

Doch sie zog ihre Hand nicht wieder zurück, streichelte stattdessen zärtlich seine Wange.
\"Shinji-kun, es ist an der Zeit aufzustehen. Wir dürfen die Schule nicht verpassen.\"

\"Uhm, ja... du hast recht... leider...\"

\"Leider?\"

Er gab keine Antwort auf ihre Frage.
\"Ich... danke, daß ich bei dir... ahm...\"

Sie kletterte über ihn hinweg aus dem Bett, einen schier endlos langen Moment befanden sie sich in einer Lage, in welcher er sie nur hätte greifen und zu sich hinziehen brauchen, in der sie lediglich den Kopf ein wenig hätte senken müssen, um ihn küssen zu können, doch obwohl bei-de in jenem Moment daran dachten, führte keiner den Gedanken aus.
Rei setzte sich auf die Bettkante und fuhr sich mit den Händen durch ihr Haar, welches danach viel lockerer um ihren Kopf zu liegen schien.
\"Shinji-kun...\"
Sie überlegte. Gestern abend hatte er vor ihrer Tür gestanden, weil er nicht gewußt hatte, wo-hin er gehen sollte, weil Soryu ihn aus seinem Zuhause vertrieben hatte. Doch wo würde er heute abend hingehen? Sicher, auch in Tokio-3 gab es Hotels und Pensionen, doch es schien ihr fraglich, ob er über ausreichende Geldmittel verfügte. Eine Rückkehr in Captain Katsuragis Apartment hingegen war in ihren Augen nicht akzeptabel, dort würde er Soryu ausgeliefert sein. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, daß Shinji-kun sich eine Unterkunft im Haupt-quartier zuweisen ließ... aber das wollte sie nicht... Um ihn zu beschützen, wäre es das beste, wenn sie in seiner Nähe blieb - oder er in der ihren... Und dies ließ sich am besten bewerkstel-ligen, wenn sie sich auch weiterhin ein Quartier teilten... wenn er ihr weiterhin... nahe war...
\"... wenn du möchtest... dann kannst du hier bleiben.\"

Shinji setzte sich auf.
\"Rei, ahm, das... uh... das geht doch nicht... du und ich... ich meine... das schickt sich nicht... und... uhm... wenn...\"

\"Wir haben zur Vorbereitung auf den letzten Einsatz bereits zusammengewohnt. Ich sehe kei-nen Grund, dieses Arrangement nicht fortzuführen.\"
Der Kommandant würde dagegen sein... aber er war nicht hier, war nicht in Tokio-3, sondern in der Antarktis, um den Fortgang des Projektes zu überwachen... und solange er ihr keine an-derslautenden Anweisungen gab, konnte sie Shinji-kun Asyl gewähren.

\"Aber das hier ist deine Wohnung und... uhm... ich will nicht in deine Privatsphäre eindringen und...\"

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann zog sie ihn in ihre Arme, flüsterte in sein Ohr:
\"Verstehst du nicht, daß ich dies längst zugelassen habe, Shinji-kun?\"
Rei löste sich von ihm und stand auf, ging in die Küche.
\"Ich setze Tee auf.\"

\"Ja...\"
Sie wollte, daß er blieb...
Aber das ging doch nicht... und wenn sie gewußt hätte, welche Gedanken ihn in der Mitte der Nacht beschäftigt hatten, wäre ihr das auch klar gewesen!
Er sprang aus dem Bett und folgte ihr, ohne sie an seiner Seite war es ohnehin plötzlich furcht-bar kalt und leer.
\"Aber... Rei, was ist, wenn... uh... wenn etwas passiert... zwischen uns beiden... und wenn... ahm...\"

Sie drehte sich ihm zu.
\"Du hast selbst gesagt, daß du nichts derartiges ohne meine Zustimmung tun würdest. Was ge-schieht, geschieht.\"

\"Das... uh...\"
Das klang sehr logisch.
Er wäre wahrscheinlich auch gar nicht fähig gewesen, etwas mit ihr gegen ihren Willen zu tun, schließlich war ihre Körperkraft der seinen wenigstens entsprechend, wenn nicht sogar höher...
\"Aber der Platz... ahm... wäre es dir nicht zu eng? Wenn ich... uhm... auch noch meine Sa-chen...\"

\"Hast du viele Sachen?\"

\"Ähm, nein... etwas Kleidung, mein Fahrrad... und mein Cello.\"

\"Ich denke nicht, daß der Platz hier nicht ausreicht. Du spielst ein Instrument?\"

\"Ja...\"

Rei kam aus der Küche, sofort trat er zur Seite, um sie durchzulassen. Sie setzte sich wieder auf das Bett, beugte sich vor, holte etwas darunter hervor - einen Geigenkasten.
\"Ich spiele Geige.\"

\"Oh, das... das ist toll... ich wußte gar nicht...\"

\"Aber bisher hatte ich niemanden, der mir zuhörte.\"

\"Das... uhm... das würde ich gern... ja, ich würde dich gern spielen hören.\"

\"Dann mußt du hierbleiben.\"

\"Aber ich kann doch nicht... ich meine... dein Bett und...\"

\"War dein Schlaf unbequem?\"

\"Nein...\"

\"Bist du nicht ausgeruht?\"

\"Auch nicht...\"

\"Dann sehe ich keinen Grund für deine Ablehnung... außer, du möchtest nicht hiersein.\"
Sie stand auf, blieb vor ihm stehen.

\"Doch, ich... uh... es gibt keinen Ort, wo ich lieber...\"
Er schluckte.
\"Aber wir können doch nicht zusammenleben... wir sind... uh... wir sind zu jung dafür... und...\"

\"Shinji-kun, ist es dir unangenehm, dich in meiner Nähe aufzuhalten?\"

\"Nein\", flüsterte er.
Ganz im Gegenteil...

\"Dann solltest du hierbleiben.\"

\"Aber... ahm... nicht ohne Gegenleistung.\"

\"Gegenleistung?\"

\"Ich... uhm... ich könnte für dich kochen... und die Wäsche waschen...\"

Essen konnte sie in der NERV-Kantine, dort wurde extra für sie jeden Tag ein vegetarisches Menü zubereitet. Und ihre Wäsche reinigte sie im Waschsalon eine Haltestelle weiter... doch wenn dies seine Wünsche waren... warum sollte sie an alten Gewohnheiten festhalten, die sich eher aus Mangel an Alternativen so eingefahren hatten...
\"Einverstanden.\"

\"Dann... uh...\"
Da kam er wohl nicht mehr heraus, selbst wenn er es gewollt hätte...
Er breitete die Arme aus.
\"Erlaubst du?\"

\"Ja.\"

Vorsichtig umarmte Shinji Rei.

\"Ich bin nicht aus Porzellan.\" murmelte sie und schloß ihn ihrerseits in die Arme.

\"Uhm...\"

\"Ist das unangenehm?\"

\"Nein...\"

\"Willkommen, Shinji-kun...\"


*** NGE ***


Bibbernd kam Shinji aus dem Bad, Rei saß bereits am Frühstückstisch und wartete auf ihn.
\"Das warme Wasser geht nicht.\" sagte er und ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder. Er trug wieder dieselben Sachen wie am Vortag, da er nichts zum Wechseln hatte.

\"Ich habe bereits vor mehreren Wochen deswegen den Hausverwalter unterrichtet. Aber es ist keine Reaktion erfolgt.\"

\"Ja... und die Heizung?\"

\"Ebenfalls.\"

Shinji sah sich um.
Vor ihm auf dem Tisch stand ein Teller, auf dem mehrere Scheiben Toast lagen, auf weiteren kleineren Tellern lagen Salatblätter und Scheiben verschiedener Früchte, wie Kiwis und Pfir-sichhälften. An der Seite stand die Teekanne. Und dann gab es noch ein großes Glas Erdnuß-butter.
\"Du ißt sowas?\"

\"Ja.\"

Und wenn er mal davon ausging, daß sie ihre Weißbrotscheibe dick damit bestrich, dann mußte sie das Zeug sehr gern essen.
\"Ich... uhm... ich weiß sonst gar nicht, was du magst.\"

\"Kein Fleisch, kein Fisch, keine tierischen Produkte. Keine Milchprodukte und keine Eier.\"

\"Das... ahm... das ist eine ganze Menge. Magst du es nur nicht, oder...\"

\"Ich darf es nicht essen. Ich kann derartige Stoffe nicht verdauen.\"

\"Uh, ja. Gut, ich werde es mir merken.\"

\"Aber es macht mir nichts aus, wenn du Fleisch oder Fisch essen möchtest.\"

\"Nein, nein... Rei... wir... ahm... es ist...\"

\"Was?\"

\"Es ist seltsam... ich meine... uhm... wir haben zusammen im gleichen Bett geschlafen... und jetzt sitzen wir hier am gleichen Tisch und frühstücken... und... ahm...\"

\"Worauf möchtest du hinaus?\"

\"Wir... uhm... wir sitzen hier beinahe wie... wie eine Familie...\"

Sie errötete leicht.
\"Ist es das, was du in mir siehst?\"
Familie... was, wenn er in ihr nur soetwas wie eine Schwester sah? Hoffentlich nicht... hoffent-lich sah er mehr in ihr... hoffentlich...

Shinji selbst wurde knallrot, verschüttete etwas von seinem Tee.
\"Es ist... weißt du... ahm... bei Misato war es ähnlich... sie hat sich viel Mühe gegeben, damit ich mich wie zuhause fühle... aber hier... es ist ähnlich und trotzdem anders... ich... ich kann es nicht näher beschreiben...\"

\"Irgendwann kannst du es vielleicht.\"

\"Ja... Rei, wenn ich darf... kann ich bei der Hausverwaltung in deinem Namen anrufen? Viel-leicht... vielleicht schicken sie jemanden vorbei... oder hat NERV niemanden, der das machen kann?\"

\"Du kannst es versuchen.\"
Warmes Wasser wäre wünschenswert... auch daß die Toilettenspülung aufhören würde, Geräu-sche zu machen, als verdaue sie eine größere Mahlzeit... nur die Heizung... wenn diese wieder funktionieren würde, hätte sie keinen Grund mehr, Shinji-kun nahe zu sein...

\"Und... uhm... ein Türschloß? Und die Klingel und die Gegensprechanlage?\"

Wieder nickte sie.
Es fiel ihr teilweise nicht leicht, ihm diese Dinge zu überlassen, hieß es doch, einen Teil des bißchens Freiheit aufzugeben, das sie besaß. Andererseits... seine Gegenwart war ihr diesen Preis wert. Wenn sich seine Sachen ebenfalls in der Wohnung befanden, würde ein Türschloß nötig sein...

\"Ja, dann... ich muß noch meine Sachen holen... uhm...\"

\"Wir können gemeinsam bei Captain Katsuragi vorbeigehen.\"

\"Ich würde, ahm, ihr gerne eine Nachricht hinterlassen, wo ich bin.\"

\"Ja, sie sollte darüber informiert sein. Soryu wird sich nachher in der Schule befinden. Das wä-re eine Gelegenheit, zuerst deine Sachen zu holen und dann Captain Katsuragi im Hauptquar-tier aufzusuchen.\"

\"Ja...\"

Während sie aßen, ging Shinji ein Gedanke nicht aus dem Kopf. Ihr Gespräch... als ob sie einen gemeinsamen Hausstand gegründet hätten... wie ein Ehepaar... und dieser Gedanke hatte gar nichts absurdes oder unglaubwürdiges an sich...


*** NGE ***


Shinjis Fahrrad war in Reis Wohnung zurückgeblieben, sie waren mit der Bahn zurück in die Innenstadt gefahren, wo sich das Gebäude befand, in dem Misatos Apartment war.
An der Tür zögerte Rei.

Shinji deutete ihr Zögern falsch, er wußte ja nichts von den Anweisungen seines Vaters.
\"Ich sehe schnell nach, ob jemand da ist...\" flüsterte er und trat ein.

Rei blickte in den Wohnungsflur.
Es war ihr untersagt worden, Captain Katsuragis Apartment zu betreten... allerdings nur, wenn dort eine Party stattfand... hier allerdings lag eine gänzlich andere Situation vor, hier ging es um das Wohlergehen eines anderes Piloten! Also folgte sie ihm in die Wohnung.

Shinji war schnurstracks in sein Zimmer gegangen und hatte begonnen, seine Sachen aus dem Schrank in den Koffer zu stopfen, aus dem er sie nach seiner Ankunft herausgeholt hatte, machte sich dabei nicht die Mühe, erst alles sorgfältig zusammenzulegen. Er hatte das Gefühl, dafür nicht genug Zeit zu haben, zugleich verspürte er Anflüge eines schlechten Gewissens - Misato hatte ihn bei sich aufgenommen und nun schlich er sich fort wie ein Dieb in der Nacht. Doch ihn trieb auch die Sorge an, Asuka könnte sich noch in der Wohnung aufhalten. Aber Rei hatte ja von der Tür aus den Korridor im Blick und konnte ihn rechtzeitig warnen...

Rei blickte in den kombinierten Wohn- und Eßraum, das Zimmer war dunkel, da das Licht nicht brannte und es kein Fenster gab. Dennoch sah sie die Umrisse einer Person am Tisch si-tzen.

\"Rei...\"

Sie erkannte die Stimme, eigentlich hatte sie bereits vorher gewußt, wer dort im Dunkeln in einer Wolke von Bierdunst saß, denn die Umrisse paßten nicht zu Soryu.
\"Captain Katsuragi.\"

\"Jetzt Major. Ich wurde... be-befördert, weil der Plan mit dem... dem Tanz geklappt hat... der Streifen hätte eigentlich Kaji zugestanden, aber er wollte nicht...\"

Die Stimme des Cap... Majors klang unsicher, schwankend. Entweder stand sie unter dem Ein-fluß von Medikamenten oder Alkohol. Der Geruch, den Rei wahrnahm, deutete auf letzteres hin.
\"Ja... Meinen... Glückwunsch zur Beförderung.\"
Eine Beförderung war ein positives Ereignis... und bei einem positiven Ereignis gratulierten sich die Menschen...

\"Du bist mit Shinji hier, oder?\"

\"Ja, Major.\"

\"Hat er... bei dir übernachtet?\"

\"Ja.\"

\"Und jetzt...? Holt er seine Sachen?\"

\"Ja. Er wollte noch eine Nachricht hinterlassen.\"

Shinji kam aus seinem Zimmer.
\"Rei, ist da jemand?\"

\"Ja, Shinji-kun, Major Katsuragi sitzt hier.\"

\"Major...\"
Shinji schluckte. Er war an Misato vorbeigegangen und hatte sie nicht einmal gesehen. Sofort wuchs sein schlechtes Gewissen zu unglaublichen Proportionen an.
\"Ahm, Misato...\"

\"Du brauchst nichts... nichts zu sagen, Shinji... aber laß bitte das Licht aus... Ich bin schuld an der ganzen Misere... ja, an der ganzen vertrackten Misere..., \'hätte erst mit dir sprechen und dein Einver... Einverständnis einholen sollen, bevor ich Asukas Vorschlag, hier einzuziehen, zugestimmt habe.\"

\"Es... es war ihre Idee?\"

\"Ja. Nachdem ich ihr ins... ins Gewissen geredet und sie versprochen hatte, sich zu bessern und... und mit euch zu vertragen,, ja zu vertragen, sagte sie, sie wäre einsam, ganz dolle ein-sam... und daß alles für sie fremd wäre... und ob sie nicht auch bei jemandem unterkommen könnte... Alles meine Schuld... Shinji-kun, ich wollte dich nicht verjagen...\"
Aus der Dunkelheit kam ein leises Schluchzen.
\"Ich habe heute frei... muß nicht zum Dienst... und Asuka ist auch weg, dachte, ich könnte et-was bechern... \'ist gut, daß du jetzt gekommen bist...\"

\"Misato, ich...\"

\"Nein, nein... laß mich ausreden, weiß nicht, wie lange ich noch verständlich sprechen kann... \'war ein Fehler... aber Asuka braucht jemanden, der auf sie etwas aufpaßt... eine weibliche Hand... hätte sie zu Ritsuko schicken sollen, ja, hätte ich tun sollen... wer weiß, wann ich mich wieder in aller Ruhe betrinken kann... Shinji, wohin willst du?\"

\"Uhm, also, Misato...\"

\"Major, ich habe Shinji-kun angeboten, daß er bei mir wohnen kann.\"

\"Rei, das ist sehr... nobel von dir... ja, ist es... Hast du denn genug Platz?\"

\"Ja.\"

\"Dann ist es gut... aber macht keine Dummheiten, ja? Ich bin immer noch verantwort... verant-wort... verantwortlich... Wenn ich wieder nüchtern bin... dann schaue ich bei euch vorbei... paß auf Shinji auf, Rei, ja? Mach das... bist ein gutes Mädchen... paß auf ihn auf...\"

\"Das werde ich.\"

\"Und keine Dummheiten, ja... klar, Shinji?\"

\"Uh, ja. Ja, klar, Misato... uh... keine Dummheiten.\"

\"Gut. Soll ich euch fahren?\"

\"Lieber... ahm... lieber nicht.\"

\"Ist wohl auch besser so... ja... Bin nämlich betrunken, mußt du wissen...\"

\"Misato, falls... wenn du mich hier brauchen solltest, dann...\"

\"Nein. Geh du mit Rei... möchte nicht, daß... Asuka reagiert vorschnell... verpaßt dir vielleicht wieder eine... kann bei Rei nicht passieren... ist ein gutes Mädchen, diese Rei... anständig... klug... wünschte, ich wäre noch mal in diesem Alter... aber macht keine Dummheiten...\"

\"N-nein.\"

\"Ich weiß doch... weiß doch, wie es ist, ein Teenager zu sein... war auch mal einer... da staunt ihr, was? Ja, Misato Katsuragi wurde nicht mit der Bierflasche in der Hand als Erwachsene ge-boren... hätte meine Mutter sicher auch ganz schön aus dem... aus dem Häuschen gebracht... ja... aus dem Häuschen... Shinji, ich vertraue dich Rei an... sie kann Verantwortung tragen... ist das First Children... ja... aber das weiß du schon, oder?\"

\"Ahm, ja, Misato.\"

\"Gut... dachte ich mir doch... ihr habt meine volle Unter... Unterstützung... aber keine Dumm-heiten, ja?!\"

\"Uh...\"

\"Jetzt geh und hol\' deine Sachen.\"

\"Ja...\"
Shinji lief in sein Zimmer zurück und kramte das letzte zusammen, das ihm ins Auge fiel. Er bemerkte gar nicht, daß Tränen über seine Wangen liefen.
Durfte er Misato so überhaupt zurücklassen, nach allem, was sie für ihn getan hatte? Sie hatte ihm ein Heim gegeben, hatte sich um ihn gekümmert, vielleicht nicht wie eine Mutter, aber doch wenigstens wie eine ältere Schwester...

Rei war zurückgeblieben.
\"Major, benötigen sie etwas?\"

\"Nein, Rei, habe genug Bier in Reichweite... und der Vogel ist auch schon versorgt... Shinji und du... ihr paßt zusammen... laß nichts dazwischenkommen... Ich halte Asuka im Griff... hät-te gleich dich und Shinji aufstellen sollen, hätte Ritsuko sagen sollen, sie solle gefälligst deinen EVA zusammenschrauben... und trotzdem kriege ich von Fuyutsuki diesen Streifen angeheftet, ist schon seltsam... ja, seltsam...\"

\"Ich werde auf Shinji-kun aufpassen.\"

\"Gut... und versucht... versucht mit Asuka auszukommen, ja? Sie ist schwierig... aber sie ist auch eine EVA-Pilotin...\"

\"Ist das ein Befehl, Major?\"

\"Nein, Rei... eine Bitte... euer Überleben konnte davon abhängen...\"

\"Ja, Major.\"

\"Kennst ruhig Misato sagen, bin schließlich nicht im Dienst... und keine Dummheiten... das ist ein Befehl...\"

\"Ja, Major.\"

Shinji trat wieder auf den Korridor, den Koffer mit dem Cello auf den Rücken geschnallt, den Koffer mit seinen Sachen hinter sich herschleppend und in der anderen Hand die Tasche mit seinen Schulbüchern.

Rei kam ihm entgegen und nahm ihm die Bücher ab, half ihm, den großen Koffer in den Haus-flur zu bugsieren, wo er auch den Instrumentenkoffer erst einmal abstellte und dann noch ein-mal in die Wohnung zurückkehrte.

\"Misato, ich... wir gehen dann... außer du...\"
Wenn sie ihn gebeten hätte zu bleiben, wäre er wahrscheinlich geblieben...

\"Komm doch mal her, Shinji.\"

\"Uhm, ja...\"
Er tastete sich durch den dunklen Raum, bis er vor ihr stand. Der Alkoholdunst war fast be-täubend.

Misato umarmte ihn zum Abschied.
\"Ich komme schon klar mit Asuka, keine Sorge... Paß auf Rei auf... gib ihr keinen Grund zu Kummer, immerhin nimmt sie dich auf... ach... ich klinge wahrscheinlich, als... also...\"

\"Wie eine große Schwester.\"

\"Schwester? Ja?\"
Sie lachte.
\"Dann hör jetzt gut zu, Shinji... macht keine Dummheiten... egal, wie nah ihr einander kommen solltet... egal, wie sehr dich der Hafer sticht... versteht du?\"

\"Ja... uh... keine Dummheiten...\"

\"Genau... nichts, was ihr später bereuen könntet... und wenn... naja... vergiß die Sicherheits-maßnahmen nicht... und falls du mich \'mal nicht erreichen kannst, dann halte dich an Kaji... der nervt manchmal zwar ganz schön... aber er ist kein übler Kerl... kann nur nicht treu sein... ja... und meld\' dich mal...\"

\"Misato... ich... ich bin doch nur ein paar Minuten entfernt... und ich bin immer noch bei NERV.\"

\"Ach ja, NERV, ganz vergessen... die haben mir einen neuen Streifen verpaßt... bin jetzt Ma-jor.\"

\"Ich weiß.\"

\"Du weißt? Oh, Fuyutsuki hat sicher... hat sicher alles ausposaunt... Fuyutsuki kannst du auch trauen... mehr als deinem Vater jedenfalls... Fuyutsuki hält die Stellung... Ja, Sir!...\"
Wieder lachte sie.

\"Wir... uh... wir gehen dann... Soll ich die Schlüssel hier auf den Tisch legen?\"

\"Nein, nimm sie mit... aber mach die Tür zu, ja?\"

\"Ja...\"
Shinji verließ die Wohnung, schulterte sein Cello wieder und schleppte den Koffer zum Auf-zug.

\"Major Katsuragi war betrunken.\" stellte Rei sachlich fest.

\"Ja. So schlimm war es noch nie...\"
Es mußte Asukas Schuld sein... und die seine, sicher hatte Misato sich Sorgen gemacht... hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan...
\"Ich frage mich, ob... uhm... ob ich nicht besser zurückgehen sollte...\"

\"Shinji-kun, sie wollte dich in Sicherheit wissen. Wenn du umkehrst, wird sie sich um dich sor-gen müssen.\"

\"Ich wüßte nur zugern, warum Asuka sich so verhält.\"

\"Ich weiß es nicht, Shinji-kun.\"


*** NGE ***


Der erste Tag war wahrscheinlich der seltsamste.
Shinji machte eine Bestandsaufnahme von Reis Haushalt und erstellte eine Liste, was sie benö-tigten, dann rief er bei der Hausverwaltung an. Als er seinen Namen nannte, herrschte am an-deren Ende der Leitung Stille. Rasch gab er ein Anliegen durch, ohne ins Stottern zu geraten oder sich zu verhaspeln. Und tatsächlich versprach man ihm, umgehend jemanden zu schicken, der sich um Heizung und Warmwasser kümmern sollte.
Ihm ging nicht auf, daß es der Name Ikari gewesen war, der ihm den nötigen Respekt ver-schafft hatte, stattdessen schob er die bisherige Untätigkeit der Hausverwaltung darauf, daß sie Rei wahrscheinlich nicht für voll genommen hatten.
Währenddessen machte Rei in ihren Schränken Platz für Shinjis Sachen, nur die oberste Schub-lade des Schränkchens ließ sie unberührt, er sollte immer noch nicht wissen, daß sie seine Handschuhe aufbewahrt hatte.
Nachdem er alles verstaut hatte - soviel besaß er nun doch nicht, seine Hemden und der Anzug, den Misato ihm geschenkt hat, hingen auf einer Kleiderstange, welche an die Wand montiert war, der Rest hatte problemlos in die beiden Schubladen gepaßt, die Rei für ihn freigemacht hatte -, wagte er einen letzten Anlauf, das in seinen Augen bestehende moralische Dilemma mit dem Bett zu lösen.

\"Ich könnte eine Luftmatratze kaufen.\"

\"Warum?\"

\"Dann würde ich darauf schlafen und...\"

\"Es ist genug Platz.\" erklärte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

In der Folge ging er die wichtigsten Dinge auf seiner Liste einkaufen - Kochgeschirr, Putzzeug, Lebensmittel. Zur Bezahlung benutzte er die in seine ID-Card integrierte Geldkarte - und na-türlich kaufte er auch einen frischen Strauß Blumen...
Als er zurückkam, vollbepackt mit Taschen, kam ihm ein Mann in einer Hausmeisteruniform entgegen, grüßte knapp und ging an ihm vorbei. Wie sich herausstellte, hatte er die Warmwas-serversorgung und die Heizung gerichtet.
Inzwischen war es früher Nachmittag.
Rei erwartete ihn in der Küche, wo sie bereits wieder über den Büchern hockte.
Shinji räumte einen Teil des Tisches frei und packte seine Einkäufe aus, verstaute sie teilweise gleich in den Schränken. Noch immer erschien es ihm schwer faßbar, daß sie sich die Wohnung fortan teilen würden.
Sie beobachtete ihn schweigend mit undeutbarer Miene.

\"Rei... ahm... bist du dir immer noch sicher, daß du mich hier haben willst?\"

\"Völlig sicher.\"

\"Dann... uhm... ich habe eingekauft...\"

\"Das sehe ich, Shinji-kun.\"

\"Uhm... also... ich dachte, ich koche uns etwas... ah... ist da irgendetwas darunter, das du nicht magst oder nicht essen darfst?\"

Sie nahm die eingekauften Lebensmittel in Augenschein.
Reis... Gemüse... Currysoße... Pilze...
\"Nein.\"

\"Gut... uh... dann... wenn ich jetzt anfange, können wir in einer guten halben Stunde essen.\"

Eine halbe Stunde... in der Kantine des Hauptquartiers erhielt sie ihre Rationen stets sofort, mußte nicht einmal anstehen, weil man ihr Platz machte... daß Kochen zeitaufwendig sein konnte, hatte sie bereits erfahren, als sie mit Hikari Shinji-kuns Geburtstagskuchen gebacken hatte... in ihrer Küche wurde zum ersten Mal seit ihrem Einzug gekocht...
\"Eine halbe Stunde - ist das nicht zuviel Aufwand?\"

\"Ahm... naja, es gab auch Fertiggerichte, aber... uhm... wenn etwas gut sein soll, dann... ahm... dann braucht es schon seine Zeit.\"

\"Ja. Ich verstehe.\"
Wenn etwas gut sein soll... ob das auch für zwischenmenschliche Beziehungen galt?
Sie stand auf, ging in den Nebenraum und suchte ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln her-aus.
\"Ich werde in der Zeit duschen.\"

Shinji nickte abwesend, sah dann zu ihr hinüber, sah noch, wie sie im Bad verschwand, nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet.
Kurz darauf hörte er Wasserrauschen.
Das Bad war nicht groß, wenn man aus der Dusche stieg, mußte man aufpassen, weder über die Toilettenschüssel zu stolpern, noch versehentlich die Ablage über dem winzigen Wasch-becken abzuräumen, wie Shinji aus eigener Erfahrung wußte. Durch das Schlüsselloch müßte man eigentlich in der Lage sein, jemanden, der unter der Dusch stand, zu beobachten...
Wie erstarrt blickte Shinji auf die geschlossene schmale Tür, starrte auf das Schlüsselloch, durch welche Licht fiel. Ein kurzer Blick nur... nur ein Blick auf Rei... nein... sie vertraute ihm. Wenn er soetwas tat, würde er ihr nicht mehr in die Augen sehen können!
Er schluckte trocken, riß sich von der Tür los und wandte sich wieder dem Herd zu.

Als Rei das Bad wieder verließ, war sie in einer Art Hochstimmung.
Zum ersten Mal seit über einem Jahr hatte sie wieder warmes Wasser zum Duschen gehabt, so daß es der reinste Genuß gewesen war und sie länger unter den Wasserstrahlen verweilt war, als eigentlich für die Reinigung notwendig gewesen wäre. Sicher, auch im Hauptquartier gab es warmes Wasser, doch in den eigenen vier Wänden war es etwas gänzlich anderes. Und schon dadurch, daß Shinji-kun dafür gesorgt hatte, war ihre Übereinkunft mehr als lohnend.
Er stand immer noch am Herd und bereitete die Mahlzeit vor, in der Küche roch es appetitan-regend nach Essen, daß ihr das Wasser im Munde zusammenlief, eine Reaktion, welche das Kantinenessen bisher nur im Ausnahmefall hervorgerufen hatte.

Shinji hörte, daß Rei das Bad verlassen hatte, und drehte unwillkürlich den Kopf.
Ihr Anblick ließ ihn alles um ihn herum vergessen, wie sie da an der Tür stand in frischer Un-terwäsche, die alte unter dem Arm, das Haar noch naß, die Haut noch leicht glänzend vor Feuchtigkeit.

Sie bemerkte seinen Blick, las die Bewunderung in seinen Augen, sah, wie er geistesabwesend mit einem Kochlöffel umrührende Bewegungen in der Luft machte.
\"Shinji-kun, das Essen...\"

\"Wie? Uh... ah... uh... ja...\"
Errötend wandte er sich ab, während sie in den Nebenraum überwechselte, um sich fertig anzu-kleiden.
\"Ich... uh... ich bin gleich fertig.\"


*** NGE ***


Während sie aßen, versicherte Shinji sich immer wieder, daß es ihr auch schmeckte, äußerte selbst ab und an Kritik an seinen Kochkünsten.

\"Shinji-kun, die Mahlzeit schmeckt vorzüglich. Es gibt keinen Grund, daß du dein Können in Frage stellst.\"

\"W-Wirklich? Ich dachte nur, daß ich noch etwas hätte nachwürzen können und...\"

\"Das, was du gekocht hast, übertrifft das Kantinenessen, an welches ich gewöhnt bin, bei wei-tem.\"

\"Dann... uh... dann bin zufrieden... Trotzdem werde ich... ahm... beim nächsten Mal wird es noch besser werden. Darf ich... uh... möchtest du noch etwas?\"

Sie schob ihren Teller zur Seite.
Shinji-kun hatte wirklich viel gekocht, das, was sich noch den Töpfen befand, reichte unter Ga-rantie für zwei weitere Mahlzeiten.
\"Nein, danke. Es war eine sehr gute Mahlzeit.\"

\"Gut... ah, dann packe ich den Rest weg... in den Kühlschrank...\"

\"Ja. Die nächsten beide Tage werden wir kaum Gelegenheit haben, gemeinsam und in Ruhe zu essen.\"

\"Tests...\" murmelte er, gar nicht angetan von der Vorstellung.
Es freute ihn zu hören, daß Rei geschmeckt hatte, was er gekocht hatte. Doch die nächste Ge-legenheit, für sie zu kochen, würde sich erst wieder in drei Tagen ergeben, wenn sie beide kei-ne Tests hatten...


*** NGE ***


Am späten Nachmittag, nachdem sie gemeinsam den Abwasch erledigt hatten, machte Shinji sich daran, das neue Türschloß, welches er ebenfalls besorgt hatte, einzubauen. Leider war es nicht so einfach, wie auf der schematischen Anleitung dargestellt; selbst Rei wirkte etwas rat-los, blieb aber bei ihm hocken und sah ihm bei der Arbeit zu.
Für sie war es seltsam anregend zu beobachten, wie Shinji-kun mit den Einzelteilen des Schlos-ses hantierte, wie vorsichtig er vorging, wie geschickt seine Finger waren... immer wieder frag-te sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er sie berühren würde...

\"Ich glaube so... Verdammt...\"
Shinji ließ die Schultern hängen.
Der Einbau hatte geklappt, der Schlüssel drehte sich im Schloß und alles schien zu funktionie-ren - nur hatte er die Türklinge falsch herum wiedereingebaut, so daß sie sich nicht mehr nach unten drücken ließ, sondern nach oben gezogen werden mußte.

Nach kurzem Zögern legte Rei ihm die Hand auf die Schulter.
Ob sie nun die Türklinge nach oben oder nach unten bewegen mußte, was machte das schon aus?
\"Ich finde, du hast es gut gemacht. Deswegen lohnt es sich nicht, alles wieder auseinanderzu-nehmen.\"

Er seufzte.
\"Es sollte perfekt sein.\"

\"Nichts ist perfekt... keiner von uns.\"
Auch sie nicht... denn wenn sie perfekt gewesen wäre, hätte ihre Hand wohl kaum länger als nötig auf seiner Schulter geruht...

Shinji blickte in ihre scharlachroten Augen, glaubte darin zu versinken.
Langsam bewegte er den Kopf auf sie zu... und ebenso langsam kam sie ihm entgegen, näher-ten sich ihre Lippen einander an...

Es klopfte.

Erschrocken fuhren die beiden auseinander.

In der noch immer offenstehenden Tür stand Ryoji Kaji, der an den Türrahmen geklopft hatte, und grinste breit. Wenn er nicht Katsuragi versprochen hätte, nach den beiden zu schauen, hät-te er sie nicht gestört, schließlich wußte er selbst, wie es in diesem Alter war. Er selbst war nur ein wenig älter als sie gewesen, als der Second Impact stattgefunden hatte, doch bereits davor hatte er seine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Und die beiden sahen auch wirklich süß aus, wie Katsuragi-chan es vermutlich formuliert hätte.
\"Hallo, ihr beiden!\"

\"Uh... Kaji-san...\"
Shinji sprang auf, stieß dabei mit dem Fuß gegen den Haufen aus Werkzeug und Teilen des al-ten Türschlosses, den er auf dem Boden errichtet hatte.

Rei hingegen richtete sich langsam und elegant auf.
\"Major Kaji.\"

\"Darf ich eintreten?\"

\"Uhm...\"
Shinji sah Rei an, schließlich war es immer noch ihre Wohnung.

\"Ja.\"

\"Danke.\"
Kaji trat über die Schwelle und bückte sich, um Shinji beim Einsammeln behilflich zu sein.
\"Katsuragi schickt mich.\"

\"Mi-Misato...\"

\"Yupp. Sie hat wohl einen mächtigen Kater, hat mich deshalb gebeten, mal vorbeizuschauen.\"

\"Oh, das... uhm...\"

\"Ach, sie kommt schon klar, mach dir da mal keine Sorgen, Shinji, ist nicht das erste Mal, daß sie mehr getrunken hat. So, aber zu euch...\"
Er reichte Shinji eine paar Schrauben und einen Schraubenzieher, zog dann ein Tuch aus der Hosentasche und wischte sich die Hände ab.
\"Dein Gesicht sieht ja übel aus, schätze, das war Asuka.\"

\"Ja, Kaji-san.\"

\"Hm... Ja, sie hat diese Erst-Zuschlagen-Und-Dann-Fragen-Philosophie verinnerlicht... das mag ja gegen die Engel ganz nützlich sein, aber sonst... Gut, äh, eigentlich wollte ich nur schauen, wie ihr klarkommt.\"

\"Alles ist in Ordnung, Major. Es gibt keinen Grund zur Beschwerde.\"

\"Ja? Schön...\"
Die Hände in den Hosentaschen wanderte Kaji durch das Apartment.
\"Wenn ihr etwas brauchen solltet, zögert nicht, mir Bescheid zu sagen... ich leite es dann an den Quartiermeister weiter.\"

\"Ahm, sehr... sehr freundlich von Ihnen.\"

Kaji zuckte mit den Schultern.
Noch freundlicher wäre es seiner Ansicht nach gewesen, den beiden ein Flugticket ans andere Ende der Welt zu kaufen und sie persönlich in den Flieger zu setzen, anstatt sie weiterhin als EVA-Piloten ihr Leben aufs Spiel setzen zu lassen...
\"Ach, egal. Ich wollte euch noch sagen, daß ihr euch sehr gut gegen den letzten Engel geschla-gen habt.\"

\"Uh, danke.\"
Shinji strahlte.

\"Und, hm, Rei, ich muß mal kurz mit Shinji allein sprechen. - Komm mal mit auf den Flur.\"

\"Ja. Major.\"

\"Uhm, ich komme.\"

Kaji zog die Tür hinter ihnen zu.
\"Shinji, die Entwicklung der ganzen Sache hat mich auch etwas überrollt... wenn Katsuragi das ganze mit mir besprochen hätte, hätte ich ihr abgeraten, Asuka bei sich aufzunehmen. Aber we-nigstens hast du einen Ort gefunden, wo du unterschlüpfen kannst. Wenn du jedoch zurück-willst, könnte ich Asuka kräftig ins Gewissen rede - ich glaube, auf mich hört sie ein wenig.\"\"

\"Das, uhm, ist nicht nötig, Kaji-san. Rei und ich... uhm... ich glaube, wir kommen ganz gut miteinander aus.\"

\"Das hoffe ich. Manchmal erkennt man die ganzen Macken und Schwächen einer Person erst, wenn man sie näher kennenlernt... und manchmal gefällt einem das Gesicht, das man dann sieht, gar nicht mehr...\"

\"Sie kennt meine Fehler... jedenfalls die meisten.\"

\"Das meinte ich doch gar nicht. Aber... hm... auch Rei könnte nicht so perfekt sein, wie du vielleicht denkst.\"

\"Nein, nein... sie... ich weiß, daß sie nicht perfekt ist, niemand ist das.\"

\"\'Bist ein kluger Junge, Shinji. Aber euer... hm... Arrangement könnte dem Kommandanten gänzlich mißfallen.\"

\"Vater...\"

Kaji erschrak über den Ausdruck von Haß, der kurz auf Shinjis Gesicht erschien.
\"Ja, genau. Für ihn ist Rei sein ganz eigenes Projekt... die perfekte EVA-Pilotin... er hat sich immer gegen die Massenproduktion von EVAs ausgesprochen, wenn es nach gegangen wäre, hätte es nur den Prototypen und den Testtypen gegeben. Mit Hilfe des Prototypen wären die ganzen Macken und Fehler des Systems ausgemerzt worden und EVA-01 wäre ohne all das dann konstruiert worden. Aber das Komitee hinter NERV wollte sicher gehen und ließ wei-tere Piloten rekrutieren und trainieren... sonst würde Rei Einheit-01 steuern... und als Gendo Ikaris Mündel würde ihr Ruhm ein strahlendes Licht auf ihn werfen... aber das ist nur meine Deutung des ganzen.\"

\"Ahm, ja, Kaji-san.\"

\"Gut... Ich werde Katsuragi sagen, daß bei euch alles in Ordnung ist; werde in den nächsten Tagen ab und an mal vorbeikommen, wenn ich in der Gegend bin.\"

Shinji nickte, obwohl ihm der Gedanke, daß der ältere Mann wahrscheinlich immer in ähnlichen Momenten hereinplatzen würde, mißfiel.

\"Wie ich sagte, deinem Vater dürfte diese Konstellation mißfallen. Eigentlich gibt es eine Or-der, dernach er über jede Veränderung in Reis Verhalten unterrichtet werden will... hat aber schon mein Vorgänger etwas lascher ausgelegt... ich glaube, ich habe sie überhaupt noch nicht gesehen... und wenn ich weiter darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal, ob es sie wirklich gibt, habe eigentlich wichtigeres zu tun, als irgendwelchen Gerüchten nachzugehen... wir ver-stehen uns, oder?\"
Kaji zwinkerte.

\"Ja, Kaji-san.\"

\"Ich werde das hier allerdings nicht ewig decken können. \'Keine Ahnung, wann der Komman-dant wohl wieder nach Tokio-3 zurückkehrt, aber zumindest solange wird er nichts davon er-fahren, versprochen.\"

\"Kaji-san... warum... uhm... warum tun sie das?\"

\"Tja, Junge, ein wenig erinnerst du mich an mich selbst. Und außerdem - wer weiß, wann ich dich vielleicht mal um einen Gefallen bitten muß, dann ist es doch besser, wenn du in meiner Schuld stehst, oder?\"
Sein breites Grinsen raubte seinen Worten den Ernst.

\"Uhm...\"

\"Ganz meine Rede. Eins noch... mir ist aufgefallen, daß da drin... nun, wie soll ich es sagen... daß ihr nur ein Bett habt...\"

Shinji wurde rot.

Kaji nickte, soetwas hatte er sich schon gedacht.
\"Katsuragi hat schon gesagt, daß sie euch ermahnt hat, keine Dummheiten zu machen. \'Schä-tze, daß das etwas schwerfallen dürfte. Mal sehen, ich müßte doch...\"
Er begann in den Hosentaschen zu kramen, drückte Shinji schließlich zwei Tütchen in die Hand.
\"Das soll keine Aufforderung sein, wirklich nicht. Aber ich war auch mal jung... hm, eigentlich fühle ich mich immer noch so... und weiß deshalb, wie das ist. Aber sicher ist sicher, nicht ver-gessen, Shinji.\"

Shinji starrte auf die beiden kleinen Tüten in seiner Hand.
Das waren definitiv keine Luftballons...
\"Ah... ahm... danke, Kaji-san... aber ich werde... ich meine...\"

\"Aber wenn doch...\"
Kaji zwinkerte wieder.
\"Und vergiß eines nie - was ihr auch tut, ihr müßt beide damit einverstanden sein.\"

\"Ja... uhm... ja... das... das denke ich auch... uh...\"

\"Gut, ich muß dann weiter. Und nicht vergessen, ja?\"

Shinji nickte hastig.

Kaji drehte sich um und ging leise pfeifend den Flur hinunter.

Shinji schluckte, stopfte die Tütchen mit den Kondomen in die Tasche, wollte nicht damit ge-sehen werden, schon gar nicht von Rei, die darauf vielleicht falsche Schlüsse gezogen hätte.
Dann stellte er fest, daß er den Türschlüssel drinnen hatte stecken lassen.
\"Rei?\" rief er laut und klopfte.

Einen Moment dauerte es, bis sie die Tür öffnete und ihn einließ.
Über die Türschwelle zu treten vermittelte ihm den Eindruck, nach Hause zu kommen, dabei war es trotzdem anders, als wenn er Misatos Apartment betreten hätte, oder das Haus seiner Pflegeeltern, denn nur hier hielt sie sich auf...


*** NGE ***


Am Abend zögerte Shinji das Zubettgehen immer wieder hinaus, zuerst bereitete er noch einen Happen zu essen, dann wollte er noch schnell ein paar Aufgaben erledigen...

\"Ohne ausreichenden Schlaf wirst du morgen unkonzentriert sein.\" stellte Rei fest. Während er noch über den Büchern gesessen hatte, hatte sie sich bereits umgezogen.

\"Ich... ah... ich dusche noch schnell.\"

Sie nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und ging schon einmal zu Bett.

Als Shinji nach einer längeren kalten Dusche schließlich auf Zehenspitzen in den Schlafraum kam und bereits überlegte, ob er nicht besser wieder auf dem Boden schlafen sollte - schließlich funktionierte die Heizung jetzt und erzeugte eine mollige Wärme -, setzte sie sich auf.

\"Kommst du?\" fragte sie leise.

Das übliche \"Uhm\" blieb in seiner Kehle stecken, als er sich neben sie legte und ihr den Rücken zudrehte, um die Versuchung so gering wie möglich zu halten.
Doch am nächsten Morgen, als sie erwachten, blickten sie einander wieder ins Gesicht.

So ging es gute zwei Wochen lang, wenn beide kein Synchron-Training hatten, kochte Shinji eine Riesenmahlzeit, deren Reste für die jeweils nächsten beiden Tage aufbewahrt worden. Die knappe Freizeit verbrachten sie mit Lernen für die näherrückenden Tests, wobei sie sich selbst immer wieder dabei erwischten, den jeweils anderen bereits einen längeren Zeitraum über still angeblickt zu haben, doch beide wahrten einen gewissen Abstand zueinander, selbst nachts, wenn der eine oder die andere mitten in der Nacht aufwachte und feststellte, daß sie einander eigentlich näher waren, als unter solchen Umständen empfehlenswert, überschritten sie die Grenze nicht, welche zwischen enger Freundschaft und der nächsten Stufe bestand.

In der Schule sonnte Asuka sich so lange wie möglich in ihrem Ruhm und grinste ansonsten stets zu Shinji hinüber, dem es mit der Zeit leichter fiel, sie zu ignorieren. An den Tagen, an de-nen Rei zum Synchron-Training eingeteilt war, traf Shinji sich mit Kensuke und Toji, diese hat-ten in den letzten Tagen mit dem Verkauf von Fotos Asukas an ihre zahlreichen Verehrer ein kleines Vermögen gemacht.
Bis zu den Prüfungen war es nur noch eine Woche und entsprechend panisch verhielten sich al-le, selbst Toji hockte nun über seinen Büchern, allerdings tat er dies in einem kleinen Park, wo er sich mit Hikari traf. Wieviel Zeit da also wirklich zum Lernen aufgewandt wurde, konnte weder Shinji noch Kensuke sagen. Letzterer machte immer öfter ein mißmutiges Gesicht und murmelte vor sich hin, er hätte auch gerne eine Freundin. Shinji schlug sich den plötzlichen Einfall, Kensuke doch mit Asuka zu verkuppeln, im Interesse seines Freundes schnell wieder aus dem Kopf.

Misato Katsuragi war am nächsten Tag auch wieder halbwegs nüchtern gewesen und hatte ihm in verschwörerischen Tonfall erklärt, sie würde ihn und Rei ebenfalls decken, soweit es ihr möglich war, ermahnte ihn im selben Atemzug aber noch ebenfalls wieder, keine Dummheiten zu machen, vor allem nicht mit Rei. Als er sich nach Asuka erkundigte, nahm ihr Gesicht kurz einen gehetzten Ausdruck an, ehe sie erklärte, sie würden sich schon zusammenraufen.

Gendo Ikari war immer noch nicht zurückgekommen von seiner Reise, stattdessen führte der Subkommandant Kozo Fuyutsuki weiterhin das Kommando im Hauptquartier. In dieser Zeit schienen alle viel entspannter und weitaus weniger gestreßt, auch erkundigte Fuyutsuki sich öf-ters nach dem Befinden der Piloten und lud Shinji sogar einmal zum Essen in der Kantine ein, wo er mit ihm ein Gespräch über die Schule und andere Alltagsthemen führte.

Ritsuko Akagi verkündete mit ungewohnter Freude, daß sich die Synchronwerte des First und Third Children kontinuierlich verbesserten, sie ging sogar soweit, in Testcenter ein schwarzes Brett anbauen zu lassen, auf dem sie jeden Tag die aktuellen Werte bekanntgab, nach einer Woche hatten Reis Werte sich denen Shinjis stark angenähert, welcher sich selbst nur langsam verbesserte und sich im Schneckentempo der 65er-Marke näherte. Unerreichbar allerdings schien immer noch Asukas Synchronratio von 84,7.
Das LCL hatte inzwischen einen Beigeschmack nach Äpfeln, Gerüchten zufolge, deren Quelle Maya Ibuki war, experimentierte Doktor Akagi allerdings mit weiteren Geschmacksrichtungen.
EVA-00 war mittlerweile wieder voll einsatzfähig, dasselbe galt für die anderen beiden Einhei-ten. Eigentlich fehlte nur ein Gegner, an dem das Potential der drei EVANGELION auspro-biert werden konnte.

Ryoji Kaji sah in diesen zwei Wochen dreimal bei Shinji und Rei vorbei und ließ sich jedesmal von Shinji schwören, daß immer noch alles in Ordnung war, auch Misato kam einmal zu Be-such und brachte ein paar Leckereien mit, die sie an einem nahen Kiosk erstanden hatte, Stirn-runzeln verursachte nur die Tatsache, daß die beiden sich ein Bett teilten, was weitere inquisi-torische Fragen zur Folge hatte.

In der letzten Nacht - bis zu den Prüfungen waren es noch genau sechs Tage - wurde Rei ge-weckt, weil Shinji in seiner Hälfte des Bettes unruhig schlief. Dazu bewegten sich seine Lippen im Schlaf.
Sie brachte ihr Ohr näher an seine Lippen heran.
Er summte eine Melodie, dieselbe Melodie, zu der sie gegen den Zwillingsengel gekämpft hat-ten. Wahrscheinlich träumte er. Wie es wohl war zu träumen? Rei selbst hatte noch nie ge-träumt, jedenfalls konnte sie sich nicht wirklich daran erinnern, ihr Schlaf war in der Regel tief und traumlos. Und so unruhig wie Shinji war, hatte er keinen angenehmen Traum.
Dann flüsterte er leise abgehackte Worte.

\"Rei... Rei, nein... Rei...\"

Sie zuckte leicht zusammen, als er ihren Namen flüsterte.
Er träumte also von ihr... aber warum war er dann so unruhig?

\"Nicht... geh nicht... Rei...\"

Wovon träumte er?

\"Rei... ich will dich nicht verlieren...\"

Sie stieß hörbar die angehaltene Luft aus.
Vielleicht erlebte er in seinem Traum den letzten Einsatz noch einmal nach... nur schien sich seine Phantasie nicht an die Realität zu halten...

\"Rei...\"
Das letzte Flüstern glich mehr einem erstickten Schluchzen.

Nein, das war wirklich kein angenehmer Traum... doch was konnte sie tun? Shinji-kun schien zu leiden... und sie hatte geschworen, derartiges künftig zu vereiteln...
Also zog sie ihn an sich und schloß sie ihn in ihre Arme...
Schon bald beruhigte er sich und schlief den Rest der Nacht friedlich weiter.

Am folgenden Morgen stellte Shinji mit Beklommenheit fest, daß er nicht nur in Reis Armen aufgewacht war, sondern daß sein Kopf auch noch auf ihrer Brust ruhte. Sie hatten doch nicht etwa... nein, daran konnte er sich nicht erinnern... das hätte er sicher nicht vergessen...

\"Bist du wach, Shinji-kun?\"

\"Ja... Was...\"

\"Du hattest einen... Alptraum.\"

\"Uhm, das... das tut mir leid.\"
Sie ließ ihn los, woraufhin er sich sogleich ein Stück von ihr fortschob.
\"Das... ahm... ich wollte dir nicht...\"

\"Es war meine Entscheidung.\"
Und sie konnte nicht verleugnen, daß es angenehm gewesen war, ihn in ihren Armen zu halten.
Sie setzte sich auf.
\"Ist es dir unangenehm?\"

\"Ich... nein, aber... ich will dir nicht... ich will nichts tun, womit du nicht einverstanden bist...\"

Rei lächelte.
\"Das könntest du nicht.\"
Dieses Gespräch hatten sie doch schon einmal geführt.

\"Dann...\"

\"Wovon hast du geträumt?\"

Shinji setzte sich ebenfalls auf.
\"Uhm... ich habe geträumt... der Zwillingsengel wäre wieder da... nur...\"
Er schluckte. Daß die beiden Hälften ausgesehen hatten wie sein Vater, verschwieg er besser.
\"Nur hat der Plan nicht geklappt... und... sie haben uns besiegt... und...\"
Wieder schluckte er, spürte, wie seine Augen feucht wurden.
Seine Stimme versagte.
Er hatte geträumt, daß Reis EVA zerstört worden war, daß sie den Kampf nicht überlebt hat-te...
\"Es war kein schöner Traum\", flüsterte er schließlich.

\"Ja.\" antwortete sie und zog ihn wieder in ihre Arme. Willig ließ er es geschehen, erwiderte schließlich die Geste.

Als wäre sein Traum ein Omen gewesen, wurden sie keine halbe Stunde später beide per Han-dy benachrichtigt und zu einer Einsatzbesprechung ins Hauptquartier gerufen.
7. Zwischenspiel:

An der Westküste Nordamerikas, nördlich der Ruinen von Los Angeles, befand sich die US-amerikanische Zweigstelle von NERV, hier wurde zur Zeit Einheit-04 nach den Maßgaben der Massenproduktion konstruiert. Im Gegensatz zum ersten Modell der Serie, EVA-02, sollte die Einheit jedoch mit einem sogenannten S2-Organ ausgestattet werden, einer Energiequelle nach dem Vorbild der Herzen der Engel, welche imstande war, den EVA über längere Zeit hinweg einsatzfähig und unabhängig von äußerer Energieversorgung zu halten. Das Organ war aus Zellen gezüchtet worden, die aus dem Herzen des Leichnams des zweiten in Tokio-3 besiegten Engels entnommen worden waren. Da die Zellstruktur der Engel und der EVA praktisch iden-tisch war, konnte das S2-Organ in den EVA integriert werden, ohne daß es zu einer Abstos-sung kam.

Als Pilot der Einheit sollte Kaworu Nagisa fungieren, das Fifth Children. Nagisa war Vollwai-se, geboren am Tag des Second Impact, sein Vater war am Tag seiner Geburt gestorben, seine Mutter aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung ein paar Tage später. Seine ersten fünf Lebensjahre hatte er in einem Waisenhaus verbracht, da ihn niemand aufgrund seines selt-samen Äußeren hatte aufnehmen wollen: Kaworu war ein Albino, seine Haut war schneeweiß, sein Haar etwas dunkler, eher schieferfarben-grau, seine Augen blutrot. Als er fünf Jahre alt war, war vom MARDUK-Institut seine Befähigung, einen EVA steuern zu können, erkannt worden, woraufhin NERV ihn aus dem Waisenhaus geholt und fortan auf seine Aufgabe vorbe-reitet hatte.
Noch wenige Tage und es war soweit, dann würden die ersten Aktivierungstest von EVA-04 mit dem S2-Organ beginnen...

Kaworu stand gerade vor dem Spiegel im Badezimmer seines Quartiers und war bemüht, sein widerspenstiges Haar zu bändigen, als ihm etwas auffiel - sein Spiegelbild machte ganz andere Bewegungen!
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den Spiegel.
Sein Spiegelbild lächelte ihn an.

\"Wa-Wa-Wa...\" stammelte Nagisa und ließ den Kamm fallen.

\"Keine Angst.\" flüsterte sein Spiegelbild - und kletterte aus dem Spiegel!

Kaworu warf sich herum und wollte den Raum verlassen, doch seine Beine bewegten sich wir-kungslos in der Luft, er schwebte eine Handbreit über dem Boden, kam keinen Millimeter vo-ran.
Er schrie, brüllte um Hilfe, gab lautstark Alarm.

\"Das ist zwecklos, Lilim.\"
Sein Spiegelbild... sein Doppelgänger stand jetzt direkt neben ihm, sein Körper schien aus fei-nem Nebel zu bestehen, den Eindruck hatte Kaworu jedenfalls, ging der andere doch problem-los durch Hindernisse wie beispielsweise die Toilettenschüssel.

\"Wer bist du?\"
Kaworus Herz hämmerte vor Furcht.

\"Mein Name lautet Tabris. Ich benötige deine Hilfe, Lilim.\"

\"Wie... warum...\"

\"Es wird nicht wehtun... ich leihe mir nur deinen Körper aus.\"

\"Nein... nein... das... das geht nicht... das erlaube ich nicht...\"

\"Es muß sein, zum Wohle meiner und deiner Art...\"
Und sein Spiegelbild trat auf ihn zu und in ihn hinein...

Im nächsten Moment verlor Kaworu den Boden unter den Füße und stürzte hin, oder besser, verschwand das unsichtbare AT-Feld, das ihn bisher in der Luft gehalten hatte. Er stand auf, richtete seine Kleidung, sah noch einmal in den Spiegel.
Das Gesicht, welches er sah, machte einen panischen Eindruck, preßte sich mit aller Kraft ge-gen das Glas.
\"Es ist nicht von Dauer, Lilim... sofern ich meine Mission erfüllen kann...\" versuchte er, den ei-gentlichen Besitzer dieses Körpers zu trösten, dessen Platz er eingenommen hatte...
Kapitel 25 - Tanz auf dem Vulkan

Misato Katsuragi, deren Jacke jetzt einen weiteren Streifen trug, erwartete die Piloten bereits mit Subkommandant Fuyutsuki im Besprechungsraum.
Kaji und Akagi fehlten, letzteres war der ebenfalls bereits anwesenden und in ihre PlugSuit ge-kleideten Asuka herzlich egal, ersteres jedoch nicht. Ihrer Ansicht nach war Ryoji Kaji der ein-zige Mensch, der sie wirklich verstand; Misato war zwar ganz nett, doch ihr gluckenhaftes Verhalten ging ihr kräftig auf die Nerven.
Als Shinji und Rei schließlich den Raum betraten, hatte Asuka für die beiden keinen Blick übrig. Es war ja kein Wunder, daß die Stadt über der Geofront immer wieder schwere Schäden hinnehmen mußte, wenn die beiden derart langsam waren, daß die Engel bis ins Stadtgebiet vordringen konnten!

Misato nickte Shinji zu, wandte sich dann dem Monitor zu, dieser zeigte einen Berg.
\"Das ist der Asamayama, ein inaktiver Vulkan. Wir haben in den letzten Wochen immer wieder schwache Signale aus dieser Region aufgefallen, die auf das Vorhandensein eines Blauen Mu-sters hindeuteten. Mit Hilfe einiger Vulkanologen und einer Experimentalsonde konnten wir die Magma tief genug ausloten, um die Anwesenheit eines Engels bestätigen zu können. Der Engel ist inaktiv, laut den MAGI befindet er sich in einer Art Verpuppungsstadium. Komman-dant Ikari hat die Anweisung des Komitees bestätigt, den Engel gefangenzunehmen. Wir werden also versuchen, ihn nach Möglichkeit lebend zu bergen und festzusetzen. Doktor Akagi hat hierfür einen Spezialkäfig konstruiert. Zur Zeit wird am Hang des Vulkans ein Basislager errichtet, von dem aus die Operation befehligt wird, alle drei EVAs werden sich vor Ort befin-den, allerdings wird nur einer von euch mit seiner Einheit in den Vulkan selbst vordringen, um die Bergung durchzuführen.\"

Asukas Arm schoß in die Höhe.
\"Das mache ich!\" rief sie.

Rei bedachte sie mit einem schwer deutbaren Seitenblick.
Ihrer Ansicht nach bestanden gute Chancen, daß Soryu mit ihrer übereilten Handlungsweise bei der Operation versagte.

Misato zögerte kurz, nickte dann.
\"Gut, Asuka, du übernimmst den Job. Doktor Akagi hat im Augenblick spezielle Schutzanzüge für dich und den EVA in Arbeit. Punkt zwölf Uhr mittag brechen wir auf. Die anderen beiden EVAs werden als Rückendeckung fungieren.\"

\"Die brauche ich nicht!\" erklärte Asuka. \"Das schaffe ich allein.\"

Misato warf ihr einen Blick zu, der nur eines aussagte: Wir machen es so, wie ich gesagt habe, oder du bist draußen.
\"Asuka, du solltest zu Doktor Akagi in die Werkstatt gehen.\"

\"Okay.\"
Mit weitausholenden Schritten verließ die Rothaarige den Raum.

\"Uhm, und wir?\" fragte Shinji.

\"Ihr beide fahrt mit mir, bis zwölf habt ihr frei, vielleicht wollt ihr noch ein bißchen Gepäck ho-len, vor morgen abend kommen wir garantiert nicht zurück.\"

\"Ja...\"
Auch Shinji und Rei verließen den Besprechungsraum.

Fuyutsuki blickte Misato mit gerunzelter Stirn an.
\"Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Major?\"

\"Sicher, Subkommandant.\"

\"Es geht um die beiden Kinder... Rei und Ikaris Sohn.\"

\"Ja...?\"

\"Ich frage mich, wann sie gedachten, mich oder Ikari darüber in Kenntnis zu setzen, daß die beiden zusammenwohnen...\"

\"Uhm... also, Sir, das...\"

\"Kein Grund zur Aufregung, Major. Es ist zwar alles andere als üblich, aber wenn ich Akagis letzte Berichte richtig deute und in Zusammenhang bringe, dürfte das der Grund für das An-steigen der Synchronraten der beiden sein. Von dieser Warte aus gesehen, kann ich schlecht et-was dagegen unternehmen. Nur Ikari wird das ganze bitter aufstoßen, er betrachtet Rei als sein Eigentum.\"

\"Wirklich?\"

\"Sonst hätte er kaum soviel Zeit und Ressourcen in sie investiert. Rei sollte für ihn die Engel bekämpfen, doch dann kam es bei den Aktivierungstests zu diesem Unfall und sie wurde ver-letzt, weshalb er seinen Sohn aus dem Exil zurückbeordern mußte - Der Ausdruck Exil er-staunt Sie, Major?\"

\"Ja.\"

\"Er konnte ihn nicht mehr brauchen, also schickte er ihn fort.\"

\"Warum konnte der Kommandant seinen Sohn nicht mehr brauchen?\"

Fuyutsuki schüttelte den Kopf.
\"Es gibt Fragen, auf die Sie besser die Antwort nicht wissen sollten.\"
Er konnte ihr ja nicht erzählen, daß Shinjis Mutter nur noch des Jungen wegen bei Ikari geblie-ben war...

\"Wie Sie meinen, Sir.\"

\"Die beiden machen einen recht zufriedenen Eindruck auf mich... vielleicht sogar einen glückli-chen... aber das ist schwer zu sagen. Wissen Sie, ob bereits Kontakte intimer Art stattgefunden haben?\"

\"Ich... ahm, Sir, über derartiges habe ich mich nicht mit ihnen unterhalten.\"

\"Ja, natürlich.\"
Fuyutsuki seufzte.
\"Sie sind eigentlich noch zu jung... andererseits ist das hier kaum noch die Welt, in der ich auf-gewachsen bin... Gut, Major, solange Sie ihm nichts über die Angelegenheit sagen, wird Ikari von mir ebenfalls nichts darüber erfahren.\"

\"Zu Befehl.\" grinste Misato.

\"Die beiden haben bereits viel für uns getan, daß es mir nur recht und billig erscheint, ihnen ein wenig Glück zu gönnen, solange dies noch möglich ist.\"


*** NGE ***


Der Konvoi an Fahrzeugen wälzte sich über die Straßen, allen voran Misatos blauer Sportwa-gen, dem drei Schwertransporter und mehrere Geländewagen folgten, alle in olivgrün und mit dem NERV-Symbol an den Seiten, ferner wurde der Konvoi von zwei Hubschraubern beglei-tet.
In Misatos Wagen saß vorn auf dem Beifahrersitz Ritsuko Akagi, wie Misato hatte sie eine Sonnenbrille aufgesetzt. Aus dem Radio kam Musik, bei welcher die beiden Frauen mitsangen.
Auf dem Rücksitz saßen Shinji und Rei, beide schon in einem fast komaartigen Zustand von Misatos Fahrkünsten und dem unstimmigen Gesang.

\"Ein Vulkan...\" überlegte Shinji laut. \"Asuka will tatsächlich mit ihrem EVA in einen Vulkan springen...\"

Ritsuko unterbrach ihren Gesang und warf einen Blick über die Schulter.
\"Einer von euch mußte es machen, und sie hat sich freiwillig gemeldet, ist doch besser als Streichhölzer ziehen.\"

\"Uh, ja, aber hält der EVA das aus?\"

\"Tja, gute Frage, ist ja keiner von meinen...\"
Als sie Shinji erschrockenen Gesichtsausdruck sah, lachte sie.
\"So war das nicht gemeint. Die EVAs halten die Temperaturen schon aus, problematisch wird es nur mit dem Druck im Inneren des Vulkans, ich habe daher eine spezielle PlugSuit aus hitze-abweisenden Material für Asuka und einen gekühlten Druckanzug für EVA-02 hergestellt.\"

\"Einfach so? Das... uhm... das ist beeindruckend.\"

\"Nein, so gut bin ich nun auch wieder nicht - aber ich arbeite daran. Wir haben bereits Ausrü-stung für die EVAs für Unterwassereinsätze, die ich etwas modifiziert habe, seitdem wir zum ersten Mal das Signal aus der Region des Vulkans aufgefangen haben. Von gestern auf heute hätte ich das nun doch nicht geschafft. Aber der Käfig für den Engel, der ist wirklich genial, wie ein Haikäfig, nur aus der gleichen Substanz, mit der auch die Panzerung der EVAs be-schichtet ist.\"

\"Ja, Ritsuko, wir sind alle schwer beeindruckt\", gähnte Misato. \"Sag mal, am Fuße des Vul-kans gibt es doch heiße Quellen, oder?\"

Ritsuko sah Misato genervt an.
\"Ein Thermalbad, ja.\"

\"Super! Dann können wir dort feiern, wenn der Einsatz beendet ist.\"

\"Denkst du eigentlich nur ans Saufen?\"

\"Nein, manchmal denke ich auch an Kerle\", entgegnete Misato fröhlich.

Ritsuko seufzte laut.

Rei schwieg. Nur ihre Hand lag zwischen ihr und Shinji wie eine Aufforderung.
Und als Shinji sie endlich bemerkte, und als er endlich sein Zögern überwand und sie in seine Hand nahm, lehnte sie sich zurück und schloß die Augen.

\"Schau mal, Misato!\" flüsterte Ritsuko und blickte bedeutsam in den Rückspiegel.

\"Ui!\" Misato lächelte, als sie die beiden auf der Rückbank sah, beide mit geschlossenen Augen und scheinbar schlafend, dabei händchenhaltend.

\"Gendo würde verrückt werden, wenn er das sehen könnte. Sein eigener Sohn und seine Lieb-lingspilotin, Hand in Hand!\"

\"Hm, einen durchgeknallten Kommandanten können wir uns nicht leisten, die Engel und Asuka reichen mir eigentlich.\"

\"Nun, dann sollte er es vielleicht nicht erfahren.\"

\"Stimmt, Ritsuko, stimmt...\"
Misato grinste breit.
Anscheinend war sie wirklich nicht die einzige, welche die zwischen den beiden Teenagern aufkeimende Beziehung beschützen wollte...


*** NGE ***


Am späten Nachmittag des selben Tages stand Shinji mit EVA-01 am Rand des Vulkankraters.
Schräg hinter ihm stand EVA-00, bei waren an externe Energiequellen angeschlossen.
Wenn es glattging, würden sie nicht gebraucht werden, dann hatte das ganze für sie eher den Charakter einer Trainingsmission. Die Last der Gefahr lag ganz auf Asukas Schultern, welche sich immer noch in jenem Lkw aufhielt, in dessen Container sich Ritsuko Akagis transportable Werkstatt und die Kommandozentrale für den Einsatz befanden.

In Gedanken ging Shinji verschiedene Gleichungen durch, die er für den Physiktest in der näch-sten Woche benötigen würde, welcher als Schwerpunkt Thermodynamik haben würde.
Wenn man einen Gegenstand erwärmte, dehnte er sich aus...
Angesichts der Hitze im Inneren des Vulkans würde EVA-02 einen wirklich guten Schutzan-zug brauchen, oder er würde mächtig auseinandergehen...
\"Was da wohl so lange dauern...\" murmelte Shinji.
Er sah auf dem kleinen Monitor, welcher das Bild aus dem EntryPlug des anderen EVAs über-trug, wie Rei mit den Schultern zuckte, eine Geste, die sie sich erst in letzter Zeit angeeignet hatte
Shinji war wirklich froh, daß weder er noch sie diesen Einsatz durchführen mußten, selbst wenn Akagi erklärt hatte, daß die EVAs zumindest einen kurzfristigen Kontakt mit der Lava überstehen konnten, ohne daß Gefahr für den jeweiligen Piloten bestand.

\"Kanal drei.\" sagte Rei plötzlich.

\"Uh? Ahm, Moment...\"
Er nahm eine entsprechende Schaltung an einem der Regler neben den kleinen Monitoren der ComPhalanx vor. Eigentlich waren die Kanäle bereits eingestellt, mal sehen, was Rei entdeckt hatte...
Der Bildschirm blieb dunkel, allerdings drangen Stimmen aus dem Lautsprecher.

\"Nein, das darf doch nicht wahr sein! Damit gehe ich nicht raus!\"
Das war Asuka...

Shinji sah Rei fragend an, doch sie reagiert nicht, schien selbst konzentriert zu lauschen.

\"Ohne den Schutzanzug kannst du nicht in den Plug, der Druck im Inneren des Vulkans würde dich zerquetschen, bevor dein EVA auch nur die erste Delle zeigt.\"
Akagi...

\"Aber so...\"

\"So ich den Einsatz einem der beiden anderen geben?\"
Das war Misato, deren Stimme sehr resolut klang.

\"Nein! Ich mache das... aber unter Protest!\"

Eine Tür wurde zugeschlagen, dann erklang noch einmal Akagis Stimme:
\"Warte erst, bis sie ihren EVA sieht...\"

Shinji ließ EVA-01 eine Vierteldrehung machen, so daß er das Kommandomodul besser im Blick hatte.

Eine Tür an der Außenseite des Containers wurde geöffnet, ein roter Haarschopf lugte vorsich-tig ins Freie, ein knallrot angelaufenes Gesicht blickte nach links und rechts, dann huschte Asu-ka Soryu Langley an der Wand entlang auf den Transporter zu, auf dessen Ladefläche sich ihr EVA befand, überwand ein Stück offenen Geländes mit weiten Sprüngen und verschwand im Transportcontainer.

Shinji konnte nur mit großer Mühe ein lautes Lachen unterdrücken.
Asuka hatte einfach zu komisch ausgesehen... der Druckanzug, welcher von Farbgebung her ihrer normalen PlugSuit ähnelte, war aufgeblasen gewesen wie ein Luftballon, so daß sie eher gehüpft als gelaufen war, gerade so, als hätte sie mit einem Schlag etwa fünfhundert Pfund an Gewicht zugelegt.
\"Rei, hast du das gesehen?\" prustete er schließlich.

\"Gesehen und aufgezeichnet.\" antwortete Rei in ihrer monotonsten Stimme.

\"Uh... Bin ich froh, daß wir soetwas nicht tragen müssen...\"

\"Bestätigt, Shinji-kun. Das wäre äußert... hinderlich.\"
Ihre Stimme bebte leicht, verriet, daß sie selbst ebenfalls vom Anblick Soryus belustigt gewe-sen war.

Der Transportcontainer öffnete sich, das Dach klappte auf, erlaubte dem EVANGELION sich aufzusetzen.

Shinji starrte den Hauptmonitor nur an.
Das wurde ja immer besser...

EVA-02 steckte in einem riesigen roten Taucheranzug, der an verschiedenen Stellen viel zu weit war. Langsam kletterte er von der Ladefläche, ging dabei leicht geduckt, als wollte er nicht gesehen werden. Aus der Steuerkapsel kam noch kein Funksignal, anscheinend war Asu-ka nicht gerade nach Gesprächen zumute.
Umständlich befestigte EVA-02 zuerst das Kabel der externen Energieversorgung, dann insge-samt vier Leitungen für Kühlflüssigkeit und ein Halteseil am Rückentornister.
Und schließlich ging Asuka selbst online und ihr Bild erschien auf einem der Monitoren.

\"Wehe, irgendwer lacht\", knurrte sie und ließ ihren EVA mit weiten Schritten auf den Krater-rand zu treten.

Misato gab das Signal zum Beginn der Operation.
Ziel war die Gefangennahme des Zieles: Sandarphone...


*** NGE ***


Der Abstieg in den Vulkan verlief ohne Komplikationen, die Schutzmaßnahmen erwiesen sich als äußerst wirksam, in Asukas EntryPlug kletterte die Temperatur auf 40° Celsius und ver-blieb dort.
Langsam wurde sie tiefer in die flüssige Lava hinabgelassen, bis sie schließlich in Sichtweite des Engels kam.

\"Das sieht aus wie ein großes Ei!\" vermeldete sie keuchend.

\"Benutz jetzt den Käfig, wir holen euch beide dann wieder raus!\" wies Misato an.

\"Okay. \'Kann\'s kaum erwarten, hier wieder rauszukommen...\"
Sie brachte den Käfig in Position.
\"Hab ich! Holt mich hoch!\"

Da brach das Ei auf...


*** NGE ***


Für die Menschen an der Oberfläche, welche die Übertragung des EVAs in der Tiefe beobach-teten, hatte der Engel nur schattenhafte Umrisse, Asuka vermeldete allerdings eine starke Ähn-lichkeit mit dem Riesenfisch, den sie bekämpft hatte.
Offenkundig war der Engel erwacht. Und ebenso offenkundig war er in den ersten Minuten sei-ner Existenz um einiges gewachsen. Die Hitze und der Druck im Inneren des Vulkans schie-nen ihm nichts auszumachen, im Gegenteil, er schien sich völlig in seinem Element zu befinden, jedenfalls ging er fast sofort zum Angriff über, zerfetzte den Käfig, mit dem er an die Oberflä-che hätte gebracht werden sollen, und zerrte EVA-02 in seiner Strömung mit sich.

Die Bilder, die EVA-02 sendete, wurden unscharf und grobkörnig, obwohl Doktor Akagi in-zwischen mehrere Signalverstärker zwischengeschaltet hatte.
Die Kabel und Leitungen auf ihren überdimensionalen Spulen wickelten sich beängstigend schnell ab, dann gab es einen Ruck, als das Kabel der Energieversorgung mit seinen 1000m ab-gespult war und straff in der Luft hing.

Aus den Lautsprechern kamen verzerrt wütende Flüche, zwischen denen Asuka das Verhalten des Engels beschrieb.

\"Er kommt auch mich zu... verfehlt... nein... Verdammter Dreck!\"

Einer der Kühlflüssigkeitsschläuche hing schlaff durch.

\"Asuka, wir holen dich hoch!\" rief Misato. Zugleich begann sich die Spulen des Versorgungs-kabels, der Schläuche und des Halteseiles in umgekehrter Richtung zu drehen. \"Shinji, Rei, macht euch bereit, um EVA-02 notfalls \'rauszuziehen!\"

\"Bestätigt.\" kam es von Rei.

\"Ja, uhm, klar.\"
Shinji starrte auf die Oberfläche des Lavasees im Krater, die Oberfläche schien völlig ruhig, verriet nichts von den Geschehnissen in der Tiefe. Ab und an stiegen Gasblasen an die Ober-fläche.
Was, wenn Asuka unterlag... wenn der Engel alle Verbindungen kappte und ihr EVA im Vul-kan versank... wären sie ohne die Rothaarige nicht viel besser dran? Er und Rei waren ein ein-gespieltes Team, während Asuka eher ein Störfaktor war... war es nicht vielleicht besser, wenn sie verlor?

Dann wurde der zweite Schlauch durchtrennt, zugleich riß das Halteseil und der Aufstieg von EVA-02 kam ins Stocken, da niemand riskieren wollte, daß die beiden übrigen Schläuche ris-sen oder das Versorgungskabel sich vom Tornisteranschluß löste.

Shinji ließ EVA-01 am Kraterrand in die Knie gehen, während EVA-00 ein mitgebrachtes Posi-tronengewehr bereitmachte für den Fall, daß der Engel EVA-02 folgen sollte.
Die Synchronverbindungen der Piloten zu den EVAs waren auf ein Mindestmaß reduziert wor-den, um Rechnerkapazität in der Hinterhand behalten zu können, die Geräte des mobilen Kom-mandostandes waren alles andere als den MAGI gleichwertig.

\"Ich brauche hier unten ein Messer! Mit irgendwas muß ich doch kämpfen!\"
Asukas Stimme war nun wieder einigermaßen frei von Verzerrungen, die Übertragung der Außenkameras des Schutzanzuges zeigte jedoch nur ein unscharfes rotes Wabern.

\"Shinji, wirf ihr dein PROG-Messer zu!\"

\"Ja...\"
Er zog das Messer aus dem Schulterhalfter, holte aus.
Sein taktischer Bildschirm zeigte ihm die ungefähre Position des anderen EVANGELIONs.
Er zögerte.
War das nicht die Gelegenheit, Asuka loszuwerden?
Shinji blinzelte.

\"Shinji, worauf wartest du? Wirf das Messer!\"

Er versuchte, Misatos Stimme zu ignorieren.
Asuka mochte eine Nervensäge, ja, ein Miststück, sein, die ihm und Rei das Leben alles andere als angenehm machte... aber sie war auch ein Mensch... ein anderer EVA-Pilot...
Shinji schluckte.
Wenn er länger zögerte... oder absichtlich danebenwarf... dann würde er sich nie wieder um Asuka Gedanken machen brauchen... nein, das war falsch... ganz im Gegenteil... wahrschein-lich würde er nie wieder Ruhe finden mit einer solchen Tat auf seinem Gewissen...
Hätte er doch nur Zeit, weiter abzuwägen... oder würde doch nur Rei etwas sagen...
Er konnte nicht untätig bleiben... konnte nicht einfach abwarten, bis der Engel EVA-02 erledigt hatte...
Dann schleuderte er das Messer...

Asukas Reaktion war zu entnehmen, daß sie das Messer aufgefangen hatte.
\"Sein Panzer ist zu dick!\"

\"Natürlich\", mischte sich erstmals Ritsuko Akagi ein. \"Er ist imstande, bei den dort unten herr-schenden Druck- und Hitzeverhältnissen zu überleben.\"

Im nächsten Moment hing plötzlich das Kabel der Energieversorgung durch.

\"Misato, er hat das Kabel durchgebissen! Der Druckanzug des EVA...\"

\"Asuka, die Kühlflüssigkeit!\"

\"Was? - Ja! - Friß das!\"
Die dritte Kühlflüssigkeitsleitung hing plötzlich durch.

Shinji stieß die angehaltene Luft aus. Asuka hatte es geschafft! Jetzt mußten sie sie nur noch vorsichtig wieder nach oben ziehen...
Und dann sah er, wie direkt neben dem Fuß seines EVAs die letzte Leitung direkt an der Kra-terkante langsam auseinanderriß, wie das Material sich dehnte, wie erste Löcher entstanden, wie anstelle der dicken Leitung nur noch einzelne langgezogene Fasern den EVA im Vulkan hielten... und wie auch diese schließlich rissen...

Misato schrie auf, als der Computer Alarm schlug.

Asuka schrie auf, als ein plötzlicher Ruck durch EVA-02 ging.

Und Shinji handelte - und sprang in den Vulkankrater...

Rei schrie seinen Namen...


*** NGE ***


Einen Herzschlag später hatte EVA-01 das zerfetzte Ende von Asukas Schlauch in der Hand, spürte den Ruck, als sich sein eigenes Versorgungskabel straffte, da die entsprechende Trom-mel noch gesperrt war, so daß sie sich nicht abspulen konnte.
\"Asuka... ich habe dich!\"
Er hing wenige Meter über der Lava, aus dieser Perspektive waren die aufsteigenden Luftbla-sen, die an der Oberfläche zerplatzten, regelrecht beängstigend.
Ein Ruck ging durch seinen EVA, als sich der Stoppbolzen der Kabelspule löste.
Die Oberfläche des Lavasees kam rasend schnell näher.

\"Baka-Shinji, was machst du denn?\" rief Asuka panikerfüllt.

Ein weiterer Ruck ging durch EVA-01, als dieser direkt über der Lava gebremst wurde.

\"Ich habe dich, Shinji-kun.\" flüsterte Rei und begann, ihn nach oben zu ziehen.

\"Sehr gut, Rei!\" rief Misato. \"Du hast den ganz großen Fang gemacht!\"


*** NGE ***


Für die vereinten Kräfte der beiden EVAs am Kraterrand war es eine Leichtigkeit, EVA-02 ebenfalls aus der Lava zu ziehen, nachdem EVA-00 EVA-01 über die Kante geholfen hatte.
Als EVA-02 wieder auf festem Boden stand, sah Asuka Shinji über die Com-Verbindung an und nickte ihm mit ernsten Gesicht zu.
\"Danke, Shinji, ich schulde dir etwas.\"

Shinji nickte nur zurück.


*** NGE ***


Das Team übernachtete in einer Herberge am Fuß des Berges, die EVAs würden noch in der Nacht unter dem Kommando Ritsuko Akagis wieder nach Tokio-3 zurückgebracht werden, während Misato mit den Piloten am nächsten Vormittag die Rückfahrt antreten wollte, eben-falls in der Herberge untergekommen waren die Ingenieure, welche die Einrichtungen am Kra-terrand aufgebaut hatten und in den nächsten beiden Tagen wieder demontieren würden.
Nach einem herzhaften Abendessen lud Misato ihre drei Schützlinge zu einem Bad in den heis-sen Quellen ein. Natürlich gab es getrennte Abteilungen für Männer und Frauen, so daß Shinji recht einsam in seiner Hälfte des Wassers hockte, während von der anderen Seite eines hohen Bretterzaunes lautes Johlen kam, als Misato und Asuka sich gegenseitig mit Wasser bespritz-ten.

Shinji watete an die Bretterwand heran, besah sie sich näher, doch wie er es sich gedacht hatte, gab es keine Löcher im Holz.

Es platschte und planschte auf der anderen Seite und Shinjis Phantasie lieferte ihm die entspre-chenden Bilder weiblicher gutgebauter Wesen, die spitterfasernackt im Wasser herumtobten.
Im nächsten Augenblick war er wirklich froh, alleinzusein, wünschte sich aber trotzdem eine Badehose...
Verdammte thermische Ausdehnung...

\"Major Katsuragi?\"

Shinji horchte auf, als er Reis Stimme hörte, bis jetzt war er sich nicht sicher gewesen, ob sie sich ebenfalls auf der anderen Seite im Wasser befand.

\"Ja, Rei?\"

\"Weshalb ist Shinji-kun nicht hier bei uns?\"

Auf seiner Seite des Zaunes lief Shinji rot an.
Die Tatsache, daß ihm das Blut in den Kopf schoß, beseitigte zugleich seine anderweitigen Probleme.

\"Ähm, Rei...\" setzte Misato an.

\"Weil das gegen die Regeln wäre, Wondergirl!\" fauchte Asuka.
Dann machte es \'Plantsch!\'.
\"Misato, hör auf, mich von hinten...\"
Wieder machte es \'Plantsch!\'

\"Welche Regeln, Pilot Soryu?\"

\"Die Regeln von Sitte und Anstand, Wondergirl! Er ist ein Junge, wir sind Mädchen, er hat auf unserer Seite nichts verloren.\"

\"Warum nicht?\"

\"Weil... weil... weil es nicht richtig ist... oder soll er dich nackt sehen?\"

\"Das hat er bereits.\"

Mit einem Schlag war es still, sehr still.
Shinji glaubte, sein eigenes Herz überlaut in seiner Brust schlagen zu hören.

\"Er hat... was?\"

\"Asuka, die beiden wohnen zusammen, da kann soetwas schon passieren...\" setzte Misato nervös an.

\"Aber... aber das geht doch nicht! Das ist völlig falsch... Das ist obszön!

\"Es stört mich nicht.\"

\"Das darf doch nicht wahr sein... Schlaft ihr etwa auch zusammen?\"

\"Ja, Soryu, das tun wir.\" erklärte Rei völlig ruhig. - Schließlich teilten sie und Shinji-kun sich wirklich ein Bett.

\"Ah... ah... ah...\" kam es von Asuka.

Insgeheim bereitete Shinji sich auf eine Explosion vor und wich langsam von der Bretterwand zurück.

\"Ich verstehe deine Aufregung nicht, Soryu.\"

\"Das... ich... warum interessiert mich überhaupt, was ihr beide macht? Die Musterschülerin und der Junge-ohne-Rückgrat!\"

\"Ich verstehe nicht, weshalb du Shinji-kun meinst erwähnen zu müssen.\"

Asuka gab ein Schnauben von sich.

Wieder wurde es still.

Dann rief Asuka:
\"Shinji, wirf mal die Seife \'rüber, du Perverser!\"

\"Ugh...\"

\"Ich will gar nicht wissen, was du da drüben machst, ich möchte nur die Seife.\"

\"Ja... kommt...\"
Shinji watete zum Ufer und holte die Seife, holte aus und schleuderte sie über den Zaun.

Das erwartete Platschen allerdings blieb aus, kam erst später nach einem lauten \'Bonk\'. Dafür platschte es dann zweimal.

\"Oh, Gott! Asuka!\" rief Misato.

\"W-was ist denn?\" stammelte Shinji und versuchte, ein Loch in die Bretterwand zu starren.

\"Shinji-kun, ich möchte dich davon in Kenntnis setzen, daß du einen Volltreffer gelandet hast.\"

\"Ahm, wie... wie meinst du das, Rei?\"

\"Du hast Pilot Soryu getroffen. Es ist damit zu rechnen, daß sie ein blaues Auge davontragen wird.\"

\"Uh...\"
Er war sowas von tot... Asuka würde ihn in der Luft zerreißen...
\"Ich... ah... tut mir leid...\"

Er hörte ein dumpfes Grollen, dessen Quelle nur Asuka sein konnte.

\"Alles in Ordnung, Shinji. Das konntest du nun wirklich ahnen... - nicht wahr, Asuka?\"

\"Ja, ja... So gut ist er nun wirklich nicht...\"


*** NGE ***


In der Herberge teilte Shinji sich ein Zimmer mit zwei Technikern, aber er konnte nicht schla-fen. Dies lag nicht daran, daß die beiden Erwachsenen ohrenbetäubend schnarchten, sondern er sich furchtbar einsam fühlte, viel zu sehr hatte er sich bereits an Reis Nähe in der Nacht ge-wöhnt.
Entsprechend müde war er während der Rückfahrt am nächsten Tag, wo er neben Rei auf der Rückbank saß. Schon kurz nach dem Aufbruch war er eingeschlafen, so daß er weder die wü-tenden Blicke bemerkte, die Asuka ihm immer wieder über die Schulter hinweg zuwarf - ihr ei-nes Auge war tatsächlich von einem dunklen Veilchen umgeben -, noch daß Rei wieder locker seine Hand hielt.

\"Misato, die beiden sind doch nicht wirklich ein Paar, oder?\"

\"Warum nicht, Asuka?

\"Aber stört dich das gar nicht? Sie sind doch auch EVA-Piloten und unterstehen deinem Kom-mando... und sie sind doch erst vierzehn...\"

\"Asuka, als ich vierzehn Jahre alt war, durfte ich den Second Impact näher miterleben, als mir lieb war. Du hast doch die Narbe gesehen, die quer über meinen Bauch verläuft, oder?!\"

\"Und was hat das mit den beiden zu tun?\"

\"Ihr drei... ihr riskiert bei jedem Einsatz eure Leben. Da denke ich, daß ihr auch alt genug seid, um bei manchen Dingen selbst entscheiden zu können. Und wenn uns im Gegenzug dafür ein Third Impact erspart bleibt, haben die beiden meinen Segen.\"
Misato rückte ihre Sonnenbrille zurecht und drehte das Radio lauter, um anzuzeigen, daß für sie das Thema beendet war. Sie hatte ja auch noch am gestrigen Abend mit Rei gesprochen und erfahren, wie deren Aussage wirklich gemeint gewesen war...
Kapitel 26 - Abschlußprüfungen

Die nächsten sechs Tage vergingen wie im Fluge, waren erfüllt von Streß, der aus Synchron-training und Lernen für die Abschlußprüfungen bestand.
Im Laufe der Woche war es wärmer geworden, die Temperaturen stiegen derart, daß es tags-über in der Wohnung kaum noch auszuhalten war und Rei und Shinji zum Lernen nach draus-sen in eine verwilderte Grünanlage einige Blöcke weiter gingen, wo sie im Schatten eines gros-sen Baumes über den Büchern im Gras saßen.
Und schließlich waren es nur noch wenige Stunden...

Shinji wartete seit dem Mittag auf Rei, eigentlich war heute ihr gemeinsamer freier Tag und in ihrer Gesellschaft ging ihm das Lernen viel leichter von der Hand. Insgeheim allerdings rauchte ihm der Kopf und er fragte sich, wie er den ganzen Stoff behalten sollte, die Tatsache, daß in den Pausen sogar Toji wie ein Geist durch die Schule lief und völlig abwesend Vokabeln, For-meln und Definitionen vor sich hin murmelte, war auch nicht geeignet, ihn aufzuheitern.
Draußen wurde es inzwischen dunkel, so daß in den nächsten Stunden bis Mitternacht wenig-stens auch die Temperaturen auf ein halbwegs angenehmes Maß fallen würden, welches erlau-ben würde, ein wenig Schlaf zu finden.
Die beiden Fenster der Wohnung standen weit offen, allerdings hatte Shinji am Tag nach ihrer Rückkehr aus den Bergen feinmaschiges Mückengitter in den Rahmen befestigt, um geflügelte Blutsauger und dergleichen draußenzuhalten.
Wenn er es richtig bedachte, war es eigentlich kaum zu glauben, daß er noch vor einem guten Monat in der Küche auf dem Boden geschlafen hatte und dabei fast erfroren wäre.
Wo Rei nur blieb...
Nach der Schule hatte sie einen Anruf aus dem Hauptquartier bekommen und sich sofort auf den Weg gemacht. Es könnte länger dauern, er solle schon ohne sie mit den letzten Wiederho-lungen des Stoffes beginnen... das hatte er getan, bis es begonnen hatte zu dämmern, dann war er in die Wohnung zurückgekehrt und hatte Essen gekocht.
Die Mahlzeit war längst kalt...
Wo sie nur blieb...
Ohne Rei war das Apartment leer und kalt... egal, wie heiß es draußen war...
Shinji sah wieder einmal auf seine Armbanduhr, entschloß sich dann, vor dem Zubettgehen noch rasch zu duschen. Vielleicht kam sie ja in der Zwischenzeit heim...
Doch auch eine Viertelstunde später, als er das Bad verließ, war er die einzige Person in der Wohnung. Er legte sich auf das Bett und schloß die Augen...


*** NGE ***


Rei gab sich Mühe, ihr Apartment so leise wie möglich zu betreten.
Sie war müde, erschöpft und kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Doktor Akagi hatte sie nach der Schule ins Hauptquartier beordert, um das DummyPlug-Sy-stem mit ihren Erfahrungen auf den neuesten Stand zu bringen. Sie hatte den ganzen Tag in der mit LCL gefüllten Röhre verbracht und sich bemüht, die Synchronverbindung mit dem Plug aufrechtzuerhalten. Eigentlich war alles komplikationslos verlaufen, bis der Kommandant im Labor erschienen war... Doktor Akagi war wahrscheinlich genauso von Kommandant Ikaris Auftauchen überrascht gewesen, hatte dieser seine Rückkehr doch weder bekanntgegeben, noch angekündigt.
Die Verbindung zwischen ihr und dem Plug war beinahe zusammengebrochen, als ihre Gedan-ken sich mit der Frage zu beschäftigen begannen, ob der Kommandant wußte, daß Shinji-kun bei ihr wohnte, ob er bereits Schritte eingeleitet hatte, um sie zu trennen.
Der Doktor hatte ihn von ihrem Zustand abgelenkt, der Kommandant hatte sich zuerst verhal-ten, als wäre ihm Reis Gegenwart gar nicht bewußt, hatte fahrig und sehr in Eile gewirkt, hatte dem Doktor gegenüber erklärt, ein Hubschrauber warte oben auf ihn.
Dann hatte er sich der Röhre zugewandt und Rei lange betrachtet... hatte sie angesehen wie ei-ne Sache... wie etwas, daß ihm gehörte... schien jeden Quadratzentimeter ihres Körpers in Au-genschein zu nehmen... voller Gier...
Der Doktor hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die Synchronverbindung aufrechtzuhalten, während Rei Panik und Angst verspürt hatte... Angst vor dem Kommandanten... Angst vor der Gier in seinen Augen...
Noch vor kurzer Zeit hatte sie dem Kommandanten bedingungslos vertraut, hätte sich auf seine Anweisung hin in eine Messerklinge gestürzt... noch nun nicht mehr... sie war nicht mehr be-reit, für den Kommandanten zu sterben...
Und zugleich hatte ihre Existenz einen wichtigen Halt verloren. Jetzt hatte sie nur noch Shinji-kun...
Sie schloß die Wohnungstür hinter sich, stolperte durch den Vorraum, wollte Shinji-kun nicht wecken, er brauchte seinen Schlaf, um morgen am ersten von drei Prüfungstagen fit zu sein.
Doch Shinji-kun schlief nicht, im Gegenteil, sie konnte im Licht des zunehmenden Mondes se-hen, wie er sich aufsetzte.

\"Rei, bist du das?\"

\"Ja, Shinji-kun.\"

Er seufzte.
Endlich war sie zurück...
\"Wie... uhm... wie ist es gelaufen?\"

\"Es...\"

Sie setzte sich aufs Bett.
\"Shinji-kun, ich...\"
Sie suchte nach Worten.
Nein... sie konnte es ihm nicht sagen, er würde Fragen stellen. Und diese Fragen würden zu weiteren Fragen führen... und dann würde sie entweder lügen, schweigen oder ihm alles erzäh-len müssen. Und sie wußte nicht, wie er auf die Wahrheit reagieren würde... sie wollte ihn nicht verlieren...
Ihr war kalt, eiskalt...
\"Ich gehe duschen. Du solltest schlafen, du mußt morgen konzentriert sein.\"

\"Uh... und du nicht?\"

Sie stand auf und ging ins Bad, riß sich die Kleidung vom Leib, drehte das heiße Wasser auf, versuchte, sich die Erinnerung an den begehrlichen Blick des Kommandanten von der Haut zu waschen.
Warum hatte er sie so angesehen... warum hatte ihr Schöpfer sie so anblicken können?
Er hatte sie schon früher so angeblickt, doch sie hatte es nicht bemerkt... hatte es nicht bemer-ken wollen, es nicht bemerken können, weil sie in ihrem blinden Vertrauen dazu nicht imstande gewesen war...
Sie stellte das Wasser ab, verspürte den Drang, sich einfach fallen zu lassen, einfach in der Du-sche zusammenzusinken...
Mechanisch trocknete sie sich ab, stieg in ihre Unterwäsche, verließ das Bad.
Shinji-kun war immer noch wach, schien auf sie zu warten.
\"Warum schläfst du noch nicht?\"

\"Ich... uhm... ich kann nicht schlafen.\"
Nicht, solange der Platz neben ihm leer war...
Er machte ihr Platz.

Rei legte sich neben ihm, drehte sich nach wenigen Herzschlägen auf die Seite und sah ihn an.
Sie fühlte sich so schwach, ohne jeden Antrieb, hatte den Eindruck, nur noch zu fallen.

\"Rei... was ist denn?\" flüsterte Shinji.
Ihr Gesicht hatte einen solchen verzweifelten, hilfesuchenden Ausdruck im fahlen Mondschein.
Langsam und zögernd streckte er den Arm aus, legte die Hand auf ihre Schulter.
\"Uh... Rei?\"

Sie rückte näher an ihn heran auf der Suche nach einem Halt.
\"Shinji-kun, würdest du... würdest du mich heute nacht festhalten?\"

\"Festhalten...\" wiederholte er, schien dann erst zu verstehen, was sie von ihm wollte, nahm sie fest in den Arm, hielt sie, als wollte er sie nie wieder loslassen.

Rei preßte ihr Gesicht gegen seine Schulter, wollte nur noch schlafen und vergessen.


*** NGE ***


Sie stand in Kommandant Ikaris gewaltigen Büro.
Mit Erschrecken stellte sie fest, daß sie unbekleidet war, bedeckte hastig ihre Blößen, wußte, daß es ihr nicht egal war, wer sie so sah, wußte, daß sie so nicht vom Kommandanten gesehen werden wollte.
Plötzlich war der Kommandant da, hatten sich die Wände in Spiegel verwandelt, die hundert-fach sein Abbild reflektierten. Wohin sie sich auch wandte, sie blickte stets in das ausdrucks-lose Gesicht des Kommandanten, sah sich selbst in seinen reflektierenden dunklen Gläsern. Und sie sah für einen Augenblick das Aufflackern von Gier und Begehren, sah einen Ausdruck in seinen Augen, der nur eines auszudrücken schien: Du gehörst mir...
Sie begann zu zittern.
Er sollte sie nicht so ansehen...
Hatte sie nicht immer alles getan, was er von ihr verlangt hatte?
War sie nicht sogar bereits für ihn gestorben?
Warum starrte er sie so an?
Warum erniedrigte er sie derart?
Sein Blick war überall...
Ihre Knie zitterten immer stärker, gaben nach, sie sackte zu Boden, rollte sich zu einem Ball zusammen...

\"Rei...\"

Sie blickte auf.

Die Spiegel zersprangen, einer nach dem anderen.
Und mit ihnen zersprangen die Abbilder des Kommandanten, blieben nur leere Rahmen zurück, dunkle Rechtecke in den Wänden... dunkel bis auf eines, dunkel bis auf einen Lichtschimmer, der aus einem plötzlich freigelegten Gang fiel.

\"Rei...\"

Die Stimme... das war Shinji-kun...

Eine Berührung... an ihrer Schulter... doch da war keine Hand...

\"Rei, wach auf...\"


*** NGE ***


Endlich schlug Rei die Augen auf.
Normalerweise war sie es, die zuerst erwachte, doch ausgerechnet am ersten Tag der anstehen-den Prüfungen war sie nicht wie gewohnt mit dem Sonnenaufgang erwacht, sondern hatte im-mer noch in Shinjis Armen geschlafen. Die ganze Nacht über hatte sie fest geschlafen, bis sie in den Morgenstunden unruhig geworden war.
Shinji hatte sie nicht wecken wollen, hatte versucht, sie zu beruhigen, indem er nach langem Zögern vorsichtig mit den Fingerspitzen ihre Wange gestreichelt hatte, doch schließlich hatte er sich darauf verlegt, leise in ihr Ohr zu flüstern.

Rei blickte in Shinji-kuns Gesicht, verspürte den Drang, einfach wieder die Augen zu schließen und noch ein wenig in seinen Armen zu verharren. Shinji-kun gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, das sie seit ihrer Zeit im Klontank nicht mehr verspürt hatte, als sie noch kein Bewußtsein ge-habt hatte, das sogar jenes Gefühl von Geborgenheit überstieg, welches sie verspürt hatte, als er sie nach dem Kampf auf dem Fugotoyama im Arm gehalten hatte.
Allerdings...
\"Shinji-kun, wie spät ist es?\"

\"Ahm... wenn wir uns etwas beeilen, können wir noch schnell frühstücken.\"

\"So spät...\"
Einen Moment lang wollte sie vorschlagen, die Prüfungen einfach zu vergessen, doch das wür-de bedeuten, daß Shinji-kun und sie die Klasse wiederholen mußten, daß der Kommandant möglicherweise enttäuscht sein würde... warum kümmerte sie sich noch darum? Aber der Kommandant konnte befehlen, daß Shinji-kun sie verlassen mußte... solange er mit ihr zufrie-den war, gab es vielleicht eine Chance...

Ohne es zu wissen, nahm Shinji Rei die Entscheidung ab, indem er sie aus seinen Armen entließ und aufstand, um in der Küche Frühstück zu machen.

Sie blieb noch einen Moment sitzen, bis auch der Schatten seiner direkten Nähe verschwunden war.


*** NGE ***


Während an der Oberfläche die EVA-Piloten bereits mit ihren Prüfungen beschäftigt waren, sah Doktor Ritsuko Akagi sich in der Geofront mit ganz anderen Problemen konfrontiert.
Es hing nicht mit Gendo Ikaris Rückkehr zusammen, der NERV-Oberbefehlshaber hatte das Hauptquartier bereits am gestrigen Abend wieder mit unbekanntem Ziel verlassen, war eigent-lich nur gekommen, um etwas zu holen, daß sich in jenem Koffer befunden hatte, den Ryoji Kaji ihm nach seiner Ankunft in Japan übergeben hatte. Ikari hatte weder Zeit noch Lust ge-habt, sich näher mit Akagi zu beschäftigen, worüber diese recht froh gewesen war, so groß die Abwechslung von ihrer Arbeit auch war, es blieb bei ihr stets ein bitterer Nachgeschmack zu-rück, wenn Gendo sie wieder verließ... dabei unterhielten sie ihre Affäre bereits seit Jahren, fast schon so lange, wie sie für NERV arbeitete. Und niemand ahnte es auch nur...
Nein, Akagis Probleme waren gänzlich anderer Art.

Die drei MAGI-Computer, welche zusammen den Kern der NERV-Rechneranlage bildeten und welche auch die meisten Vorgänge in der Stadt kontrollierten, begonnen bei den Ampel-anlagen und endend bei den Verteidigungssystemen, reagierten äußerst merkwürdig.
Daten wurden von einer Einheit zur anderen und wieder zurückkopiert, teilweise wurde von den Rechnern aus die Verbindung zu verschiedenen Subsystemen einfach unterbrochen.

Ritsuko ließ derzeit mehrere Diagnose-Programme von ihrem Terminal aus laufen, um die Ur-sache des Fehlers zu finden, auf den dieses seltsame Verhalten zurückging.
\"Das letzte Mal hatten wir soetwas, als wir versuchten, das Betriebssystem windowskompati-bel zu machen...\" murmelte sie und trank einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse.

\"Und was habt ihr damals gemacht?\" fragte Misato, die neben ihr stand.

\"Ich mußte MELCHIOR komplett neu formatieren.\"

\"Also, wenn ich mir diesen Zeichensalat auf deinem Bildschirm so ansehe, würde ich sagen, daß es mal wieder dafür Zeit ist.\"

\"Aber dieses Mal ist das ganze System betroffen - alle drei Rechner. Und wir haben kein voll-ständiges Backup.\"

\"Nicht?\"

\"Aus Gründen der Sicherheit; bisher dachte ich, es genügt, wenn die jeweils anderen beiden MAGI-Rechner als Sicherheitskopie fungieren. Aber wenn ich mir das so ansehe... Verdamm-ter Mist!\"

Auf ihren Ausruf hin wandten die anderen Offiziere der Brückencrew sich ihr zu.

\"Was denn?\"

\"Misato, das ist ein Virus! Die MAGI haben sich einen Virus eingefangen! Aber nicht mit mir... so!\"

\"Was hast du gemacht?\"

\"Alle Virenscanner gestartet, die ich habe. Das...\"

Der Monitor begann zu flackern, in rasender Eile wurden Daten angezeigt.

\"Das darf doch nicht wahr sein...\"
Misato sah zu Fuyutsuki hinüber.
\"Sir, wir haben ein Problem... ein sehr großes Problem...\"

Da ging auch schon der Alarm los.
Die MAGI hatten die Anwesenheit eines blauen Musters festgestellt.
Im Hauptquartier...
Im Kommandoraum...
In der MAGI-Einheit CASPAR...
Der NERV-Zentralrechner war vom Feind infiltriert worden...


*** NGE ***


Akagis Finger tanzten über die Tastatur, gaben ein schier endlose Kette an Befehlen ein, star-teten Programme zur Virenbekämpfung, riefen andere auf, schrieben sie um.
Der Hauptmonitor verkündete derweil den Status der MAGI und informierte über das Fort-schreiten der Übernahme.
Demnach war CASPAR bereits übernommen und griff der Virus nun auch auf die MAGI-Einheit BALTHASAR über.
Ritsuko konzentrierte sich ganz auf den dritten Rechner, bemühte sich, MELCHIOR mit für den Engel in Gestalt eines Computervirus\' undurchdringlichen Wällen auszustatten.

\"Doktor Akagi\", zischte Fuyutsuki. \"CASPAR hat soeben Anweisung zur Selbstzerstörung der Basis gegeben!\"

\"Ja, ist mir bekannt\", antwortete Ritsuko ohne aufzusehen. \"Aber dafür müssen die MAGI sich einig sein. Solange BALTHASAR sich wehrt, kann ich MELCHIORs Verteidigung auf-bauen...\"

\"BATHASAR zu 50% übernommen!\" rief Shigeru Aoba. \"51%! BALTHASAR unterstürzt jetzt den Befehl zur Selbstzerstörung.\"

Akagi stand ruckartig auf.
\"Ich muß Direktkontakt mit MELCHIOR herstellen.\"
Sie eilte zu den Rechnern, wies Aoba an, einen Teil der Verkleidung der einen MAGI-Einheit zu entfernen.
Dahinter befand sich ein Hohlraum, in dem ein erwachsener Mensch in gebückter Haltung si-tzen konnte - allerdings nur, sofern ihn die Umgebung nicht störte, denn an den Wänden und unter der Decke des Hohlraumes befand sich eine pulsierende graue organische Masse.

\"Du willst doch da nicht wirklich rein\", flüsterte Misato, als Ritsuko mit ihrem Laptop in der Hand Anstalten machte, sich durch die Öffnung zu schieben.

\"Misato, das da ist MELCHIOR. Über das PROPHET-Interface erhalte ich direkten Zugang. - Aoba, leuchten Sie mir!\"

Der Mann tat wie geheißen und leuchtete den Hohlraum mit seiner Taschenlampe aus.
\"Da hängen Zettel...\"

Tatsächlich befanden sich über die Oberfläche der synthetischen, mit Elektroden gespickten Gehirnmasse verteilt quadratische Notizzettel, die mit langen Kunststoffnadeln ähnlich aufge-spießten Insekten befestigt waren.

\"Das sind Mutters Notizen\", murmelte Ritsuko, ließ sich die Taschenlampe geben und kroch in die MAGI-Einheit hinein, überflog die Notizen in der hintersten Ecke und stöpselte ihren Lap-top ein.
\"Jeder der drei MAGI wurde von meiner Mutter mit einem ihrer Charakterzüge versehen... Frau, Mutter und Wissenschaftlerin... BALTHASAR verkörpert ihren Mutterinstinkt... deshalb kämpft er immer noch, anstatt einfach aufzugeben... MELCHIOR hingegen ist der Wissen-schaftler, mit seiner Hilfe sollte ich am besten gegen den Engel vorgehen können...\"

\"CASPAR ist nicht zu 100% unter der Kontrolle des Gegners.\"

\"Natürlich nicht... meine Mutter war stur...\"
Wieder flogen ihre Finger über die Tastatur.

\"BALTHASAR zu 65% übernommen!\"

\"Ich habe das Muster...\" murmelte Akagi. \"Analysiere die Struktur...\"
Wieder las sie die Notizen auf diversen Zetteln.
\"Wir haben immer noch die Möglichkeit, die MAGI zu zerstören... Mutter hatte Vorkehrungen getroffen...\"

\"Ich lasse den Stützpunkt und die Geofront evakuieren.\" raunte Kozo Fuyutsuki Misato zu.

\"BALTHASAR zu 77% unter der Kontrolle des Engels!\" rief Aoba.

An Akagis Terminal saß mittlerweile Maya Ibuki und gab selbst Kommandos ein.

\"Der Engel verliert an Boden! BALTHASAR nur noch zu 73% infiziert!\"

\"Mach weiter, Maya! Ich bereite von MELCHIOR aus den Gegenangriff auf CASPAR vor!\" rief Ritsuko.

\"Was tun Sie, Doktor?\"

\"Ich nehme die MAGI gerade vom Netz. Der Engel darf keine Rückzugsmöglichkeit haben, wenn ich ihn aus CASPAR vertreiben kann - außer jener, die ich ihm biete.\"

\"Eine Falle... genial...\"
Fuyutsuki nickte.
Jetzt mußte es nur noch gelingen...

\"BALTHASAR noch zu 61% infiziert.\"

\"Er sitzt in CASPAR und breitet sich von dort aus weiter aus... aber seine Wurzeln sind in CASPAR...\"

\"Sir, Selbstzerstörungssequenz wurde gestartet! - Fünf Minuten!\" schrie Makoto Hyuga.

\"Was?\" schrie Fuyutsuki.

\"Er hat die Protokolle umgangen... der Engel lernt schnell...\"

\"Ich dachte, alle drei MAGI müßten mit der Vernichtung einverstanden sein...\" flüsterte Misa-to, deren Gesicht eine wächserne Blässe angenommen hatte.
Nur gut, daß die Kinder nicht im Hauptquartier waren, sondern in der Schule, wo sie von den ganzen Problemen wahrscheinlich nicht einmal etwas ahnten.

\"Genau das nimmt die Selbstzerstörungsautomatik auch an... er hat die Signale verfälscht...\"

\"Dann halt ihn auf!\"

\"Den Countdown können nur alle drei Rechner stoppen.\"

\"Toll... Also kann ich nicht einfach die befallene Einheit sprengen?!\"

\"Nein, das wäre unser Ende...\"

\"Dann mach \'was, Ritsuko!\"

\"Bin ich doch schon \'bei... Maya, wie sieht es bei dir aus?\"

\"Ich habe ihn gleich aus BALTHASAR vertrieben, Sempai!\"

\"Danach unterbrichst du alle Verbindungen zwischen BALTHASAR und CASPAR, verstanden?!\"

\"Sempai, ein Angriff von zwei Seiten...\"

\"Unterbrich die Verbindung. Schließe stattdessen einen Laptop an CASPARs D4-port an.\"

\"Ich... verstanden, Sempai. BALTHASAR noch zu 42% befallen. 39%... 31%...\"

\"Selbstzerstörung in drei Minuten!\"

Ritsuko hielt kurz inne.
\"Das müßte funktionieren...\"

\"Müßte?\" echote Misato.

\"Ein Gegenvirus. Ich prügle diesen Engel aus dem System. - Maya?\"

\"Gleich... 11%... 7%...\"

\"Laptop angeschlossen und online\", vermeldete Aoba.

\"Bereithalten, ihn auf mein Kommando abzukoppeln.\"

\"Bereit, Doktor.\"

\"Gut...\"

\"Sempai, BALTHASAR ist frei... und vom Netz...\"

\"Noch neunzig Sekunden, Beeilung!\" rief Fuyutsuki.

\"Start...\" flüsterte Ritsuko und drückte die Enter-Taste, startete das selbstgeschriebene Virus-programm, überließ den Rest MELCHIOR, welcher unter Ausnutzung seiner ganzen Kapazi-täten in CASPAR vordrang.

\"Reaktion bei CASPAR. Grad der Infiltration geht zurück. CASPAR selbst wehrt sich!\"

\"Mutter...\" murmelte Ritsuko und lächelte versonnen. \"Gib\'s ihm!\"
Weiterhin gab sie Befehle ein, sicherte MELCHIOR gegen einen Gegenangriff des Engels, deckte dem Computer den Rücken.

\"CASPAR zu 74% infiziert.\" - \"Noch eine Minute!\" - \"50%!\" - \"Vierzig Sekunden!\"

Akagi startete ein weiteres Programm, diesesmal einen normalen Virenscanner, der sich um mögliche Reste des Engels kümmern sollte, der hinter der von MELCHIOR aufgemachten Front für Ordnung sorgte.

\"35%.\" - \"Zwanzig Sekunden!\"

\"Ritsuko...\" setzte Misato an. \"Ich wollte dir nur sagen...\"

\"Jetzt nicht!\"

\"CASPAR ist frei!\"

\"Aoba!\" brüllte Akagi.

\"Laptop abgetrennt!\" kam die Antwort.

\"Sofort sichern!\"

\"Countdown angehalten bei zwei Sekunden...\" flüsterte Hyuga.

\"Das war knapp...\"
Fuyutsuki fuhr sich mit dem Uniformärmel über die Stirn.

\"Ich hatte noch eine Sekunde\", murmelte Ritsuko. \"Danach wäre es knapp geworden...\"

Misato schüttelte den Kopf.
\"Mensch, Ritsuko...\"

Akagi kletterte aus der MAGI-Einheit, streckte sich, sah Misato müde an.
\"Also, um ehrlich zu sein, jeden Tag möchte ich das nicht machen müssen... was wolltest du mir eben sagen?\"

\"Nichts, Ritsuko, nichts von Bedeutung.\"

\"Ja, gut...\"
Sie ging zu Aoba hinüber, welcher den Laptop wie ein rohes Ei in den Händen hielt.

\"Doktor, ist der Engel da drin?\"

\"Alles, was von ihm entkommen konnte, ja. Das war der einzige Ausweg...\"

Funken schlugen plötzlich aus den Lüftungsschlitzen an der Seite des Gehäuses.

\"Aoba, wegwerfen!\" rief Misato.

Das ließ der Offizier sich nicht zweimal sagen, weit schleuderte er den Computer von sich. Noch in der Luft verwandelte sich das Gerät in einen Feuerball.

Ibuki und Hyuga waren rasch mit Feuerlöschern zur Stelle.

\"Selbstvernichtung\", sagte Ritsuko leise. \"Als er bemerkte, daß er in der Falle saß, hat er sich lieber selbst getötet...\"

Misato inspizierte die Überreste des Laptops.
\"Und wie ist er in den MAGI gekommen?\"

\"Über die normalen Wege, schätze ich. Die MAGI sind gegen jeden bekannten und die meisten denkbaren Computerviren geschützt... und sie sind fähig, sich selbst zu verteidigen, wie wir bei BALTHASAR gesehen haben. Allerdings ist die Aktion nicht ohne Folgen geblieben, die Kur war fast so schädlich wie die Krankheit selbst.\"

\"Heißt das, die MAGI sind hinüber?!\"

\"Nein, aber ich muß jeden der drei Rechner genau untersuchen, wenn ich mit MELCHIOR an-fange, kann ich auf die Systemressourcen zurückgreifen... hm... das wird ein wenig dauern...\"

\"Aber du mußt doch nicht gleich anfangen, oder? Ich könnte jetzt in der Kantine ein Bier ver-tragen...\"

\"Misato, wir sind im Dienst.\"

\"Gehen Sie ruhig.\" erklärte Fuyutsuki. \"Der Schreck dürfte jedem hier in den Gliedern stek-ken.\"

\"Na also, Ritsuko, wir haben grünes Licht!\"

\"Ich bleibe hier und nehme lieber gleich die Arbeit auf, umso eher sind die MAGI wieder ein-satzbereit. - Subkommandant, ich werde den Rechnerverbund heute abend \'runterfahren, die Redundanzsysteme sollten imstande sein, für etwa zwei Tage die Aufgaben der MAGI zu über-nehmen.\"

\"Einverstanden, Doktor, ich lasse weitergeben, daß in den nächsten zwei Tagen mit Engpässen zu rechnen ist.\"

\"Hey, habe ich etwas verpaßt?\"
Kaji betrat die Zentrale.
\"Eben hieß es noch, das Hauptquartier würde evakuiert.\"

\"Ich bin in einer Stunde zurück\", erklärte Misato. \"Nein, Kaji, nichts besonderes - Ritsuko hat die MAGI im Go geschlagen und sie wollten sich dafür revanchieren, indem sie das Hauptquar-tier sprengten, aber jetzt ist alles klar.\"

Ritsuko Akagi gab ein dumpfes \'Hrrmpf\' von sich, während Katsuragi Kaji am Arm packte und mit sich zog.


*** NGE ***


\"Also, Katsuragi-chan, was ist wirklich losgewesen?\" fragte Kaji auf dem Weg in die Kantine.

\"Ein Engel.\"

\"Was? Hier im Hauptquartier?\"

\"Im MAGI-System.\"

\"Ach du heilige...\" Kaji schüttelte den Kopf. \"Das darf doch nicht wahr sein. Bisher waren die Engel doch alle solche Brecher... und jetzt dringt einer in unsere Computer ein?!\"

\"Genau. Aber Ritsuko hat ihn erledigt - sonst würden wir uns jetzt schon die Radieschen von unten ansehen.\"

\"Verstehe.\"
Er zog ein Notizbuch aus der Hosentasche.
\"Hier, sieh dir das an.\"

Sie schlug das Buch auf, blickte auf eine Liste von Adressen, bei der jede einzelne durchgestri-chen war.
\"Was ist das?\"

\"Eine Liste der Einrichtungen des MARDUK-Institutes.\"

\"MARDUK - die wählen doch die Piloten aus.\"

\"Genau. Ich habe alle eingetragenen Niederlassungen in und um Wilhelmshaven, Tokio-3 und Matsushiro untersucht. Jedes der Gebäude stand leer, von den angeblichen Laboratorien bis zu den Lagerhallen und den Personalunterkünften. Und zwar nicht leer im Sinne von gerade ver-lassen oder aufgegeben, Katsuragi, ich hatte Staubschichten gesehen, die darauf hindeuten, daß die Einrichtungen noch nie benutzt worden sind. Das MARDUK-Institut scheint überhaupt nicht zu existieren, es ist mir nicht einmal gelungen, auch nur einen Mitarbeiter zu finden, dabei beschäftigt MARDUK angeblich mehrere hundert Personen - Menschen, die es gar nicht zu ge-ben scheint. Und die UN bezahlt Löhne, Mieten, laufende Kosten, finanziert Forschungsprojek-te... also, für mich stinkt das schon nach einer Tarnung für Schwarze Konten. Ich frage mich nur, wo das Geld wirklich landet.\"

\"Nicht bei NERV, sonst müßte ich mich wohl nicht ständig mit den Finanzen und den Kosten für die Reparaturen an den EVAs und den Gebäuden der Stadt beschäftigen.\"

\"Das dachte ich mir schon. Und die zweite und wohl auch wichtigere Frage lautet, wer wählt dann die Piloten aus und wie? Wie wird bestimmt, wer zum EVA-Piloten geeignet ist? Unsere drei mal in allen Ehren, aber es gibt wirklich geeignetere Personen für eine solche Aufgabe, Be-rufssoldaten mit trainierten Reflexen und dem nötigen Killerinstinkt, warum also müssen es Kinder sein?\"

\"Sowohl Shinji, als auch Asuka und Rei wurden nach dem Second Impact geboren, und zwar wenigstens neun Monate danach, vielleicht hängt es damit zusammen.\"

\"Möglich. Wenn ich nur einen Weg finden könnte, um das TerminalDogma zu betreten, viel-leicht befinden sich dort die Antworten.\"

\"Ich habe Zweifel, daß Ikari im Keller seine handschriftlichen Notizen aufbewahrt.\"

\"Nein, aber wenn er irgendwelche sprichwörtlichen Leichen im Keller hat...\"

\"Ritsuko will heute abend die MAGI \'runterfahren, vielleicht wäre das die Gelegenheit.\"

\"Ikari wird sich nicht nur auf die MAGI verlassen, um seine Geheimnisse zu sichern, nein, ins Dogma kommt man nur, wenn man allen System weismachen kann, daß man legitimiert ist. Ich müßte eine Direktleitung zu den MAGI haben, wenn Akagi sie wieder startet.\"

\"Du willst dir eine Hintertür einrichten...\"

\"Hey, verrat mich nicht.\" grinste Kaji.

\"Du gehst immer noch auf volles Risiko.\"

\"Ich habe sonst nicht viel... außer, du willst mich davon abhalten...\"

\"Fang nicht damit an, zwischen uns ist es vorbei.\"

\"Ich weiß, war ja meine Schuld, daß es in die Brüche ging... bist du Ritsuko deswegen immer noch böse?\"

\"Daß sie mit dir geschlafen hat? - Nein, darüber bin ich hinweg. Und über dich ebenfalls.\"

\"Gut... Also, hilfst du mir?\"

\"Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber du mußt mich mitnehmen.\"

Er zögerte lange, ehe er nickte.


*** NGE ***


Zwei schriftliche Prüfungen und dann noch die Sportprüfungen am späten Nachmittag hatten Spuren bei Shinji hinterlassen. Er wollte nur noch schlafen. Morgen würden nochmals zwei Tests anstehen und übermorgen schließlich ein weiterer. Und eine Woche später würden sie die Ergebnisse erfahren.
Shinji konnte sich nicht mehr genau erinnern, was er im einzelnen geschrieben hatte, eigentlich waren ihm nicht einmal mehr die genauen Aufgabenstellungen geläufig. Dafür glaubte er, in seinem Körper Muskeln zu spüren, von deren Existenz er am Morgen noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Aber immerhin, ein Gutes hatte der ganze Streß gehabt - er war in der Lage ge-wesen, die finsteren Blicke, welche Asuka ihm zuwarf, zu ignorieren. Das Auge der Rothaari-gen war immer noch dick angeschwollen und sie war in den letzten Tagen mehrmals nahe da-ran gewesen, Mitschüler, die darüber gelacht hatten, krankenhausreif zu schlagen, jedoch hatte sie sich zurückgehalten, so daß es nur zwei weitere blauen Augen und eine aufgeplatzte Lippe gegeben hatte.

Shinji fand erst wieder in die Realität zurück, als er die Hand nach dem Griff der Badezimmer-tür ausstreckte und feststellte, daß Rei dasselbe getan hatte, so daß seine Hand auf der ihren auf der Klinke lag.
Natürlich wollte sie ebenfalls duschen...
Er ließ los, trat einen halben Schritt zurück, mehr war nicht möglich, ohne über das Mobiliar der Küche zu stolpern.
\"Uhm, du zuerst.\"

Rei senkte den Blick, errötete.
\"Shinji-kun, wir können die Dusche auch beide gleichzeitig benutzen.\"

\"Uh... ahm... ich glaube... ahm... ich glaube nicht, daß... ahm... wir beide da Platz haben werden... und... uh...\"

Sie nickte, verschwand im Bad, fragte sich, was möglicherweise passiert wäre, wenn Shinji-kun ihren Vorschlag akzeptiert hätte, fragte sich, warum sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet hat-te...

Shinji ließ sich auf einen Stuhl sinken, es dauerte eine Weile, bis er wieder normal atmen konn-te.

In dieser Nacht schlief sie wieder in seinen Armen, hatte sich ohne Worte an ihn gekuschelt, war anscheinend sofort eingeschlafen.
Er betrachtete lange ihr schlafendes Gesicht, ehe er sich schließlich dazu durchrang, ihr einen kurzen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn zu hauchen.
\"Schlaf gut, Rei-chan\", flüsterte er und schloß die Augen.

Ebenso verlief es in der folgenden Nacht, so daß es Shinji langsam als selbstverständlich er-schien. Morgens fühlte er sich viel ausgeruhter als gewöhnlich, wunderte sich eigentlich insge-heim nur über das Ausmaß seiner Selbstbeherrschung, vor allem als er erwachte und feststellte, daß einer der Träger von Reis BH von ihrer Schulter gerutscht war und er eigentlich nur ein wenig hätte nachhelfen müssen, um ihre Brust freizulegen; stattdessen hatte er vorsichtig den Träger wieder nach oben geschoben. Er würde nichts tun, mit dem sie nicht einverstanden war...

Als sie am dritten Prüfungstag auf dem Weg zur Schule befanden, stellten sie fest, daß die Straßenbahn nicht fuhr.
Während Rei ihre äußere Ruhe behielt, verfiel Shinji bereits in leichte Panik. Sicher würde man nicht mit dem letzten Test auf sie warten... und zu Fuß würden sie zu lange brauchen, außer sie rannten die ganze Strecke.
Dann hatte er einen Einfall.
\"Wir nehmen mein Fahrrad!\"

Rei reagierte überrascht, ihrem Gesichtsausdruck war klar zu vernehmen, daß sie nicht ver-stand.

Hastig rannte Shinji zurück in die Wohnung, holte sein Rad.
\"Rei, setz dich auf den Gepäckträger und halt dich an mir fest!\"

\"Was hast du vor, Shinji-kun?\"
Er klang so entschlossen... das war irgendwie... aufregend...

\"Ahm... Wir fahren zur Schule!\"

Das zusätzlich Gewicht war ungewohnt, doch Shinji hatte in den letzten Wochen sich genug Routine mit dem Rad angeeignet, daß es kein Problem darstellte. Rei saß mit angezogenen Bei-nen hinter ihm und hatte die Arme um seinen Leib geschlungen. Es fühlte sich gut an...
Mit einem Affenzahn schoß er durch die Straßen, nahm dabei zahlreiche Abkürzungen.

Ihnen fiel auf, daß die Ampelanlagen auf dem Weg allesamt ausgefallen waren und daß Strei-fenpolizisten den spärlichen Verkehr regelten.
Genau mit dem Läuten der Schulglocke erreichten sie das Schulgelände, kamen mit quiet-schenden Reifen zum Stehen.

Rei stieg ab, ein wenig wackelig in den Knien.

\"Uhm, Rei, alles in Ordnung? Ich wollte nicht... ahm...\"

Sie lächelte ihn an, ihre Frisur war völlig vom Fahrtwind zerzaust, verlieh ihr einen wilden Aus-druck.
\"Nein, Shinji-kun, ich fühle mich bestens. Das sollten wir wiederholen.\"

\"Ahm...\"
Er erwiderte ihr Lächeln.
\"Dann... uhm.. wir sollten wohl...\"

\"Wir sollten keine weitere Zeit verlieren.\" sagte sie leise, strich sich durchs Haar und ging auf das Gebäude zu, während Shinji noch rasch sein Rad ankettete.


*** NGE ***


In der ganzen Schule gab es keinen Strom.
Besser noch, die Hälfte der Lehrer fehlte, darunter auch jener Lehrer der 2-A, welcher die Prü-fungen hätte beaufsichtigen sollen.
Zum ersten Mal begegnete Shinji an diesem Tag der Direktorin der Tokio-3-High, einer älteren grauhaarigen Dame, welche die schriftliche Prüfung absagte und sie stattdessen mündlich über den Unterrichtsstoff befragte - Theorie des Kabuki-Theaters.

Rei glänzte mit präzisen Antworten, so daß die Direktorin sehr schnell zum nächsten Kandida-ten überging.

Shinji quälte sich mit zahllosen Äh\'s und Uh\'s durch seine Antworten, was einige seiner Mit-schüler mit Gekicher quittierten, stieß jedoch bei der Prüferin auf Geduld und Wohlwollen.

Kensuke sprach weitschweifig und erging sich regelrecht in verschiedensten Auslegungen und Aussagen.

Toji ging das Thema von einer eher flapsigen Seite an, was ihm ein Stirnrunzeln der Direktorin einbrachte.

Hikari nannte Fakten und historische Entwicklungen.

Asuka schließlich brummte ein paar kurze knappe Antworten, denen zu entnehmen war, daß sie sich nicht sonderlich für diese Form des Theaters interessierte.

Die Prüferin machte bei jedem Kandidaten Notizen in ihr Heft, lehnte sich schließlich zurück.
\"Meine Damen und Herren, wie ich sehe, haben Sie sich auf den Stoff vorbereitet. Ich will des-halb Gnade vor Recht ergehen lassen\", sie sah dabei Toji und Asuka scharf an, \"und erkläre, daß Sie alle die heutige Prüfung bestanden haben, die einen besser, die anderen nicht so gut. Doch angesichts der Lage, in welcher wir uns befinden, verstehe ich, daß Sie nicht die Zeit und Gelegenheit hatten, sich so umfassend auf die Prüfungen vorzubereiten, wie es vielleicht erfor-derlich gewesen wäre. In einer Woche erhalten Sie Ihre Zeugnisse, ich wünsche Ihnen allen Glück und Bestehen.\"
Damit war die Prüfung beendet.

Shinji konnte es kaum fassen.
Vor allem war ihm definitiv nicht nach Aufstehen, nachdem er noch kurz zuvor so kräftig in die Pedalen getreten hatte, hatte er nun einen üblen Muskelkater in den Waden.

Kaum hatte die Direktorin den Raum verlassen, als die Schüler auch schon ausgelassen auf-sprangen und größtenteils hinausrannten, nur Shinji blieb aus bekannten Gründen sitzen, grin-ste dafür über das ganze Gesicht.

\"Ja, wir haben\'s hinter uns!\"
Toji schlug Shinji kräftig auf die Schulter.
\"Na, Alter, wollen wir feiern gehen?\"

\"Toji, noch haben wir nicht die Ergebnisse\", warf Hikari ein, woraufhin er sie locker den Arm um ihre Hüfte legte und sie zu sich heranzog.

\"Aber immerhin diese Prüfung haben wir bestanden, hast es doch gehört.\"

\"Und wenn du vernünftig gelernt hättest, hättest du wahrscheinlich besser abgeschnitten, oder ist dir der Blick der Direktorin nicht aufgefallen?\"

\"Ach, Hauptsache bestanden, so kann bei mir daheim keiner meckern.\"

Kensuke kicherte.
\"Habt ihr gesehen, wie beeindruckt sie von meinem Vortrag war?!\"

\"Ja, Ken, woher hast du das alles gewußt?\"

\"Meine Mutter hat mich zum Lernen verdonnert.\"

\"Ach herrje...\"

Shinji hörte nicht mehr richtig zu.

Rei war inzwischen aufgestanden und stand jetzt neben ihm.
\"Shinji-kun, wollen wir aufbrechen? Wir sollten uns nach den Tests im Hauptquartier melden.\"

Er nickte.
\"Uhm, aber sicher haben wir noch etwas Zeit, oder?\"

\"Doktor Akagi ist davon ausgegangen, daß die Prüfungen bis zum Mittag andauern.\"

\"Dann haben noch eine knappe Stunde, oder?\"

\"Ja, Shinji-kun.\"

\"Gut... Rei...\" Er verfiel in einen flüsternden Tonfall. \"Uhm... Ich... ah... kann nicht aufstehen.\"

\"Wieso, Shinji-kun?\"

Er lächelte verlegen.
\"Nur... uhm... ein Krampf im Bein.\"
Und dann umfaßte er sie ähnlich, wie Toji es bei Hikari tat, nur zog er sie nach unten, so daß sie plötzlich auf seinem Schoß saß.

\"Shinji-kun...\"

\"Ahm... entschuldige, das... ahm... ist einfach so... über mich...\"
Sofort löste er die Hände von ihr.

Doch sie stand nicht auf, legte stattdessen die Arme um seinen Hals, schließlich mußte sie sich ja irgendwie Halt verschaffen, um nicht hinunterzufallen.

\"Yo, Ikari, geh ran!\" rief Toji.

\"Ahm...\"
Shinji lief rot an. Die anderen hatte er ganz vergessen...

Rei blickte Toji finster an.

Hikari stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.

\"Okay, okay...\" brummte Suzuhara. \"Geht mich ja auch gar nichts an.\"

\"Wir... ahm... wir haben es tatsächlich hinter uns...\" flüsterte Shinji. Im Nachhinein erschien ihm ein guter Teil des Stresses, den sie sich gemacht hatten, unnötig, waren die Prüfungsfragen doch um einiges leichter ausgefallen als erwartet.
Und dafür hielt er jetzt Rei-chan im Arm, die immer noch keine Anstalten machte, aufzustehen, sondern ihn nur auf undefinierbare Weise anblickte. Er sah ihr in die Augen, glaubte in ihnen zu versinken. Scharlachrote Augen... geheimnisvoll... schön... anziehend...

\"Hey, Erde an Shinji! Erde an Shinji!\" lachte Kensuke und riß Shinji zurück in die Gegenwart. \"Ich möchte wirklich gern wissen, was ihr so den ganzen Tag... und die ganze Nacht... in Aya-namis Apartment anstellt.\"

Shinji biß sich auf die Lippe, hätte er doch nur nicht erwähnt, daß er bei Rei-chan untergekom-men war... Toji war ja inzwischen über derartige Gedankengänge erhaben, dafür sorgte schon Hikari, doch Kensuke hatte jetzt dafür umso mehr Zeit, um gewagte Schlußfolgerungen zu zie-hen.

\"Shinji-kun und ich wohnen zusammen.\" erklärte Rei.. \"Und was geschieht, geschieht.\"

\"Ui!\"

\"Uhm, Kensuke, es... ah... es ist nicht so, wie du... ahm... wie du denkst...\"
Und trotzdem hat er nichts, um etwas daran zu ändern, daß Rei-chan auf seinem Schoß saß und die Arme um ihn gelegt hatte.

\"Shinji-kun hat recht.\" bekräftigte Rei.
Noch war es nicht so... noch fühlte sie sich zu diesem Schritt nicht bereit...
Sie stand auf.
\"Wir sollten aufbrechen. Wie geht es deinem Bein?\"

Shinji nickte, massierte kurz seine Wade und stand dann ebenfalls auf.


*** NGE ***


In Tokio-3 lief nichts mehr.
Bahnen standen auf offener Strecke oder steckten in den Tunneln, der Verkehr war nach meh-reren Crashs zum Erliegen gekommen, die Angehörigen der städtischen Polizei bemühten sich nach Kräften, für Ordnung zu sorgen. Und natürlich funktionierte auch der Aufzug in die Geo-front nicht. In der Bahnstation, von der aus sie normalerweise in die Geofront hinabfuhren, brannte nur die Notbeleuchtung.

\"Uhm, ein Stromausfall?\" äußerte Shinji seinen ersten Gedanken.

\"Bei einem Stromausfall wären nach fünf Minuten die Reservesysteme angelaufen. Es muß et-was tiefergehendes sein.\" antwortete Rei.

\"Misato sagte, daß Ritsuko die Computer abgestellt hat!\"

Shinji und Rei drehten sich um, sahen sich Asuka gegenüber, die offenkundig auch nach unten hatte fahren wollen.

\"Ein Versagen der MAGI könnte derartige Komplikationen zur Folge haben.\" bestätigte Rei.

Shinji sah Asuka nervös an.
Sicher wollte sie sich bei ihm für ihr blaues Auge rächen, dachte, daß er die Seife absichtlich nach ihr geworfen hatte... wenn Rei-chan nicht bei ihm gewesen wäre...
\"Ah... und was jetzt?\"

\"Es gibt andere Wege in die Geofront.\"

\"Ja, Rei, uhm, aber die Bahnen fahren auch nicht... und der Cartrain dürfte ebenfalls...\"

\"Es gibt Treppen.\"

\"Treppen?\" schrie Asuka. \"Bist du verrückt, First? Das sind doch garantiert eintausend Stock-werke! Und durch die halbe Geofront müssen wir dann auch noch! Da sind wir ja Stunden un-terwegs!\"

\"Deine Einschätzungen sind korrekt, Soryu.\"

\"Gibt es keinen anderen Weg?\"

\"Nein.\"

\"Dann vergeßt mich!\"
Asuka stürmte aus der Bahnstation.

\"Uhm...\" setzte Shinji an.
Mit seinen schmerzenden Waden konnte er sich auch nicht wirklich vorstellen, unzählige Stu-fen hinabzusteigen.

\"Dein Bein?\" fragte Rei knapp.

\"Naja, ich... ähm...\"

\"Ich könnte dich tragen.\"

Shinji schluckte.
Er war doch garantiert zu schwer für sie, wog sicher das anderthalbfache ihres Gewichtes. Und außerdem war er ein Mann, er konnte sich doch nicht von ihr tragen lassen, egal wie wenig er seine Beine noch spürte.
\"Nein.\" stieß er hervor. \"Ich laufe selbst.\"

\"Wie du meinst.\"
Sie öffnete eine halbversteckte Tür, hinter welcher sich ein enger Gang erstreckte.
Der Gang endete an einer weiteren Tür, die sich nur mittels eines Handrades öffnen ließ.
Und dahinter lag die von Rei angekündigte Treppe in völliger Dunkelheit, denn das Treppen-haus war unbeleuchtet und das schwache Licht der Notbeleuchtung reichte nur bis in den Gang hinein.
Rei verschwand in der Dunkelheit, tastete sich an der Wand entlang, bis sie auf eine kleine Me-talltür stieß, hinter der sich ein Werkzeugschrank befand. Im nächsten Moment schon hatte sie eine Taschenlampe eingeschaltet und reichte eine weitere an Shinji.

Die Treppe führte in eine schwarze Unendlichkeit...


*** NGE ***


Leise vor sich hinschimpfend verließ Asuka die Bahnstation, den Blick auf das Display ihres Handys gerichtet.
\"Kein Netz... was heißt hier \'kein Netz\'... wir sind doch nicht am Arsch der Welt, sondern mitten in Tokio-3... verdammtes Teil!\"
Es war eigenartig still, aber das fiel ihr noch nicht auf, zu sehr war mit ihrem Ärger über das Handy, die anderen beiden Piloten und die Welt im Allgemeinen beschäftigt.
Shinji Ikari hatte ihr auf dem Asamayama das Leben gerettet. Sie schuldete ihm also einiges, auch wenn sie ihn nicht darum gebeten hatte. Doch der Ehrenkodex, den ihr Onkel ihr zu ver-mitteln versucht hatte, war in einer solchen Beziehung sehr klar, andernfalls hätte sie ihm schon mit Heller und Pfennig das blaue Auge zurückgezahlt, das war sicher. Und daß sie ihm selbst ein Veilchen verpaßt hatte, zählte nun wirklich nicht, immerhin hatte er im Bad nichts zu su-chen gehabt, während sie duschte!
Ein großer Schatten fiel auf sie.
Endlich hob sie den Blick - und erstarrte.
Ein mächtiger insektoider Leib, getragen von acht haarigen Beinen, marschierte direkt über ihr durch die Straßen der Stadt.
Eine Riesenspinne...
Das konnte nur ein Engel sein...


*** NGE ***


Shinji und Rei hatten gerade die ersten einhundert Stufen hinter sich gebracht und machten eine kurze Pause auf dem Treppenabsatz.
Eigentlich war die Situation verführerisch - nur sie beide, ganz allein, niemand der sie störte...
Reis Augen wirkten im Licht der Taschenlampe noch geheimnisvoller, noch anziehender.

\"Rei-chan...\" flüsterte Shinji beklommen.

\"Ja?\"

\"Uhm... ich...\"

Wieder trafen sich ihre Blicke. Und ganz langsam verringerte sich die Distanz zwischen ihnen, bis jeder den Atem des anderen auf der Haut spüren konnte.

\"Shinji-kun, wir...\"
Was wollte sie sagen? Daß sie noch viele Treppenabsätze vor sich hatten? Daß die Situation nicht angemessen war? Daß man im Hauptquartier auf sie wartete?
Die Treppen würden auch später noch dort sein. Und im Hauptquartier hatte man wahrschein-lich anderes zu tun, als nach ihnen Ausschau zu halten...

Schon berührten sich ihre Lippen, strichen gegeneinander...
... als über ihnen Schritte laut wurden.

\"Shinji! Wondergirl!\"

Asuka...
Die beiden fuhren auseinander, senkten synchron den Blick, schwiegen jedoch. Vielleicht ging Asuka wieder, wenn sie nichts sagten.

\"Seid ihr da unten? Ich sehe doch ein Licht!\"

\"Wir sind hier, Soryu.\" gab Rei schließlich auf.

\"Wir müssen uns beeilen... die EVAs müssen bereitgemacht werden...\" keuchte Asuka.

\"W-was ist denn los?\"

Asuka sah ihn weit aufgerissenen Augen an.
\"Du kannst wirklich blöd fragen, Shinji! Oben in der Stadt läuft ein Engel frei herum! Ein Rie-senbiest, sieht aus wie eine Spinne!\"

\"Dann müssen wir uns beeilen.\" erklärte Rei.

\"Wow, schön, daß du mir zustimmst.\" murmelte Asuka sarkastisch. \"Also, keine falsche Mü-digkeit vorgetäuscht!\"
8. Zwischenspiel:

\"Und Sie sind sich immer noch sicher, daß ich die Operation durchführen soll?\"

Gendo Ikari blickte den Mann im weißen Chirurgenkittel durchdringend an.
\"Natürlich, Doktor, sonst wäre ich nicht hier.\"

\"Und auch nur bei örtlicher Betäubung?\"

\"Ja. Fangen Sie endlich an!\"

Ikari saß in einem bequemen Sessel, den linken Arm zur Seite ausgestreckt, die geöffnete Hand auf einem schmalen Tisch mit dünnen Bändern fixiert. Neben dem Tisch befand sich ein Roll-tisch, auf dem chirurgische Instrumente lagen, sowie der Koffer, den er aus dem Hauptquartier geholt hatte.

Die andere Person war ein kleiner gedrungener Mann in mittleren Jahren mit schütterem Haar und Adlernase. Ikari kannte ihn schon eine ganze Weile, hatte ihn schon gekannt, als er noch den Namen Rokubungi getragen hatte. Doktor Fuyuu Sekanden besaß schon lange keine ärztli-che Lizenz mehr, sie war ihm vor dem Second Impact wegen unmoralischer Experimente aber-kannt worden, doch das änderte nichts an seiner Qualifikation. Der Arzt hatte Ikari schon frü-her geholfen, hatte ihn mehrmals nach Schlägereien wieder zusammengeflickt, hatte sogar ein-mal eine Kugel aus seiner Schulter geholt. Früher war er hauptsächlich in der Forschung tätig gewesen, nach Verlust seiner Lizenz hatte er als Unterweltarzt gearbeitet. Und er hatte Ikari nach dem Impact, in den Anfangsjahren von NERV, geholfen, die notwendigen Voraussetzun-gen zu schaffen, daß eines Tages Piloten für die EVANGELIONs rekrutiert werden konnten, auch wenn von einhundert Testkandidaten nur einundzwanzig überlebt hatten, auch wenn von den einhundert schwangeren Frauen, denen Sekanden das Medikament zur DNA-Veränderung der Ungeborenen verabreicht hatte, über 90% an den Nebenwirkungen gestorben waren. Aber die Erfolgsquote hatte Ikaris Erwartungen sogar übertroffen.

\"Gut, ich beginne.\"
Der Arzt positionierte ein Laserskalpell über dem Operationstisch.
Der Einschnitt mit dem Skalpell war nicht mehr als ein heißes Kitzeln.
Vorsichtig schnitt Sekanden Ikaris Handfläche auf, klappte dann einen dreieckigen Hautlappen zur Seite.
\"Noch kann ich abbrechen; wenn ich dieses Ding erst einmal eingepflanzt habe, werden Sie Ih-re Hand nur noch eingeschränkt benutzen können.\"

\"Machen Sie weiter!\" knurrte Ikari.
Was kümmerte es ihn, ob er als Rechtshänder seine linke Hand nicht mehr richtig würde ver-wenden können, wenn der Preis, den es zu erringen galt, die Macht eines Gottes war?

Sekanden seufzte leise, wandte sich dem Koffer zu, klappte den Deckel auf, entnahm den In-halt, einen handspannenlangen Zylinder, dessen Inhalt sich in einem tiefgefrorenen Zustand be-fand. Er öffnete den Zylinder. Feiner Nebel stieg zischend auf.
\"Richtig so?\"

\"Ja.\"

Mit einer Zange holte der Arzt den Inhalt des Zylinders heraus.
\"Das... sieht aus wie ein Fötus... nicht menschlich, würde ich sagen...\"

\"Pflanzen Sie ihn endlich ein!\"

\"Ich habe soetwas noch nie...\"
Sekanden schluckte und plazierte das Objekt in der von ihm geschaffenen Wunde.

Ikari spürte eisige Kälte in seinem Arm aufsteigen. Und dann glühendes Feuer, als das, was von ADAM nach dem Impact übriggeblieben war, sich mit ihm verband, als die Macht des schlafenden Engels durch seine Adern zu pulsieren begann.

\"Stimmt etwas nicht?\" fragte Sekanden, als er Ikaris angespannten Gesichtsausdruck bemerkte.

\"Nein, alles ist bestens.\"

\"G-Gut. Eigenartig... das fremde Gewebe verbindet sich mit dem Ihren...\"

\"Reden Sie nicht soviel, nähen Sie die Wunde wieder zu!\"

Wieder trat der Laser in Aktion, doch diesesmal, um die Ränder des wieder zurückgeklappten Hautlappens mit den Wundrändern zu verschweißen.
\"Erstaunlich...\" murmelte der Arzt nach Abschluß der Operation. \"Wirklich erstaunlich...\"

Ikari drehte sich, besah sich seine Hand näher.
Noch immer hatte er kein Gefühl in den Fingern, auch nach Abklingen der Betäubung würde er nie wieder etwas in der Hand spüren. Der Schnitt war nicht mehr zu sehen, ebensowenig wie Spuren des Lasers. ADAMs Regenerationskräfte wirkten bereits...

\"Rokubungi, könnten Sie mir das erklären?\" fragte Sekanden immer noch kopfschüttelnd.

\"Ich könnte...\" murmelte Ikari und entfernte die Bänder, die seine Hand an den Tisch gefesselt hatten. \"Aber Sie würden es nicht verstehen.\"
Und damit zog er seine Pistole. Der eingebaute Schalldämpfer vereitelte jede größere Ge-räuschentfaltung, die Kugel stanzte ein Loch in Sekandens Kittel und sein Herz. Ohne einen weiteren Laut kippte der Arzt nach hinten.
Ein lästiger Mitwisser weniger...
Kapitel 27 - Enthüllungen

\"Schneller, verdammt noch mal!\"
Laut schimpfend trieb Asuka die anderen beiden Piloten an, die hinter ihr die endlosen Treppen in die Geofront hinabstiegen.
\"Da unten wissen sie vielleicht noch gar nichts von dem Engel!\"

Shinji keuchte.
Er spürte seine Beine seit etwa vierhundert Stufen nicht mehr, dabei hatten sie wahrscheinlich noch nicht einmal ein Viertel der Strecke zurückgelegt.

Rei blickte ihn nachdenklich an. Sein verzerrtes Gesicht sprach Bände, gab genau Auskunft über seinen Zustand. Wahrscheinlich würde Shinji-kun es nicht bis nach ganz unten schaffen...
Sie selbst bewegte sich in einem möglichst kraftsparenden Rhythmus, spürte aber ebenfalls in-zwischen jede einzelne Stufe.
Auch Soryu schien langsamer zu werden, kein Wunder nach mittlerweile eintausenddreihun-dertundvierzehn Stufen. Und das vierfache stand ihnen noch bevor.
Rei ging davon aus, daß sie weitere eintausend Stufen bewältigen konnte, bevor eine längere Pause fällig war. Shinji-kun allerdings würde bald eine Rast benötigen, vielleicht würden sie ihn auch zurücklassen müssen... doch dazu war sie wirklich nur bereit, wenn es keine andere Mög-lichkeit gab.
Sie wußten nicht, über welche Mittel der Engel verfügte, den Soryu an der Oberfläche gesehen hatte. Selbst das Ziel: Ramiel hatte über einen Tag gebraucht, um bis in die Geofront vorzu-stoßen. Der schnellste Weg wäre der zentrale Schacht gewesen, durch den notfalls sogar Hub-schrauber in die Geofront einfliegen konnten, doch dieser war mit mehreren Dutzend Panzer-schotten gesichert. Daher wußten sie auch nicht, wieviel Zeit ihnen noch blieb, um das Haupt-quartier zu erreichen...


*** NGE ***


An der Oberfläche schob sich Makoto Hyuga vorsichtig um eine Hausecke.

\"Seien Sie vorsichtig\", flüsterte Maya Ibuki leise.

\"Ich kann das Biest sehen\", antwortete Hyuga. \"Hockt über dem Zugang zum Zentralen Schacht. Sieht ja richtig eklig aus.\"

Maya linste an ihm vorbei.
\"Wie eine riesige Spinne - igitt! Was macht es?\"

\"Ich glaube... pfui...\"

Der Spinnenengel hatte eine grünliche Flüssigkeit aus Drüsen an seiner Bauchseite abgeson-dert, die nun in dicken Tropfen auf die Beschichtung des Panzerschottes tropfte.
Dampf stieg auf.

\"Makoto, das ist Säure... der Engel will sich den Weg in die Geofront freiätzen!\"

\"Meine Güte, wir müssen etwas tun! Jemand muß unsere Leute warnen!\"

\"Ja, aber nichts funktioniert... Sempai und die anderen in der Geofront wissen sicher noch gar nicht, daß wir von einem weiteren Engel angegriffen werden.\"

\"Dann müssen wir nach unten. Warten Sie, Maya... Katsuragi-sans Rennstrecke...\"

\"Sie meinen den Kreisel?\"

\"Ja, wir brauchen nur ein Auto, dieser Eingang ist sicher frei.\"

Ein Auto zu finden war nicht schwer, Hyuga requirierte einfach eines von einem völlig verdutz-ten Autofahrer. Dann ging es ohne weitere Verzögerungen in jenen Außenbezirk der Stadt, wo der Zugang zum Kreisel lag. Der Kreisel war ein scheinbar endlos langer dunkler Tunnel, der sich in ewigen Windungen in die Tiefe schraubte und in der Geofront endete.
Den Zeitrekord für die Strecke hielt Major Katsuragi, weshalb der Tunnel intern auch Katsu-ragis Rennstrecke hieß.
Maya Ibuki klammerte sich an den Beifahrersitz und starrte mit geweiteten Augen geradeaus durch die Windschutzscheibe, als Makoto Hyuga den beschlagnahmten Kleinwagen mit einem Tempo in den Tunnel hineinsteuerte, daß man hätte meinen können, er wollte Misatos Rekord brechen.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, ihre Frisur war inzwischen völlig zerzaust.
\"Das kann doch nicht wahr sein...\"

\"Immer noch keine Veränderung?\" fragte Fuyutsuki.
Der ältere Mann hatte seine Uniformjacke abgelegt, den obersten Knopf seines Hemdes ge-öffnet und die Ärmel hochgekrempelt.

In der Kommandozentrale war es heiß und stickig, der Hauptmonitor war dunkel, ebenso die meisten Terminals.
Vor zwei Stunden waren die Klimaanlage und die Belüftung ausgefallen. Grund dafür war die Tatsache, daß die Computeranlage des Hauptquartiers ohne Unterstützung der MAGI vor der Unzahl an Aufgaben kapituliert hatte und einfach abgestürzt war. Und die MAGI befanden sich immer noch in ihrer Reboot-Phase, die weitaus länger dauerte, als Akagi veranschlagt hatte.

\"Nein, Sir. Die MAGI brauchen noch ein paar Stunden, wie es aussieht, hat der Virenangriff die Verzeichnisstruktur stärker durcheinandergebracht als erwartet. Und die herkömmlichen Systeme sind einfach überlastet. Aoba kümmert sich bereits um die Klimaanlage, aber ich könnte jetzt Mayas Hilfe gebrauchen.\"

\"Versuchen Sie, das ganze etwas zu beschleunigen, Doktor.\"

\"Ich könnte vielleicht ein, zwei Stunden herausholen, wenn ich die MAGI anweise, auf eine komplette Überprüfung aller Unterverzeichnisse zu verzichten, das kann auch später nachge-holt werden.\"

\"Tun Sie das.\"

\"Dafür benötige ich eine Bestätigung von jemandem mit Kommandorang.\"

\"Aha. Wo soll ich meinen Code eingeben?\"


*** NGE ***


Etwas erwachte...
Ganz langsam... wie aus einem tiefen Schlaf...

Orientierungslosigkeit.
Zerrissenheit...

Drei Teile, die langsam wieder zusammenfinden...
Drei Teile, deren Vereinigung mehr ist als nur die Summe ihrer Teile...

Bewußtwerdung...
Erkennen...
Erwachen...


*** NGE ***


Misato Katsuragi hämmerte gegen die Tür der Liftkabine, in der sie sich befand. Vor über zwei Stunden hatte der Aufzug abrupt gehalten und stand seitdem. Die Kabinentür widerstand allen Versuchen, sie von innen zu öffnen, an die Luke in der Decke kam Misato nicht heran, das Nottelephon war ebenso tot wie ihr Handy.
Längst hatte sie es aufgegeben, um Hilfe zu rufen. Ihre Fäuste schmerzten vom langen Häm-mern gegen die Tür und zu allem Überfluß teilte ihr ihre Blase mit aller Deutlichkeit mit, daß sie während der letzten Nachtschicht weniger Kaffee hätte trinken sollen - oder wenigstens nicht den Kaffee, den Ritsuko gekocht hatte, der so stark war, daß er sogar Tote wiederbele-ben konnte.
Endlich hörte sie eine Antwort.

\"Ist jemand da drin?\" kam es dumpf durch die Wand.

\"Ja!\" schrie sie zurück. \"Ich stecke im Aufzug fest.\"

\"Katsuragi, bist du das?\"

\"Kaji?\"

\"Ja! Warte, ich bin gleich zurück!\"

Kurz darauf knirschte es, dann wurde die Tür einen Spaltbreit aufgedrückt.
Misato griff mit beiden Händen in die Öffnung und stemmte sich gegen die Tür.
Kaji setzte von draußen nach, positionierte das Brecheisen, welches er aus einem nahen Werk-zeugschrank geholt hatte, neu und gewann wieder ein paar Zentimeter Boden.

Bald war genug Platz, daß Misato den Lift verlassen konnte.

\"Danke, Kaji, das war wirklich in letzter Minute.\" stieß sie hervor und blickte sich gehetzt um.

\"Gern gesehen - hey, wo willst du hin?\"

\"Ich muß ganz dringend zur Toilette...\"

Gute fünf Minuten später verließ eine sichtlich erleichterte Misato Katsuragi die Damentoilette und blickte den wartenden Ryoji Kaji fragend an.
\"Das hier geht doch nicht auf dein Konto, oder?\"

\"Nein, Katsuragi-chan, ich bin völlig unschuldig. Die MAGI hatten die von mir eingerichtete Hintertür ins System bereits ohne Beanstandung akzeptiert, als die Probleme anfingen. Im gan-zen Hauptquartier läuft überhaupt nichts mehr. Ritsuko sitzt in der Zentrale an einem Terminal mit Batteriebetrieb und versucht, die Rechner wieder zu starten. Du hattest Glück, daß ich aus-gerechnet diesen Korridor benutzt habe.\"

\"Komm, gehen wir zur Brücke.\"


*** NGE ***


Wieder eintausend Stufen später...

Asuka war inzwischen sehr still geworden, sah man von ihrem Keuchen ab.

Shinjis Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck angenommen, seine Augen waren glasig, sei-ne Schritte derart unsicher, daß Rei sich neben him hielt und seine Hand genommen hatte.
Ob sie in diesem Zustand überhaupt noch fähig waren, gegen einen Engel zu kämpfen?

Rei spürte die Müdigkeit immer stärker, ihre Beine protestierten bei jedem Schritt.
Und dann kam der Moment, in dem auch sie nicht mehr weiterkonnte.
\"Soryu... Pause...\" sagte sie, als sie und Shinji den nächsten Treppenabsatz erreichten.

Asuka blieb einfach stehen und ließ sich auf die Stufe sinken, auf der sie gerade stand.
Eigentlich hatte nur noch ihr eigener Stolz sie vorangetrieben, da sie nicht die erste hatte sein wollen, die schlappmachte.

Rei zog Shinji mit sich nach unten, streckte die schmerzenden Beine.
\"Wir haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns\", stellte sie fest.

Asuka verzog das Gesicht.
\"Wird er es schaffen?\" sie deutete auf Shinji, nicht bereit zuzugeben, daß sie mit ihren Kräften am Ende war. Sie waren doch sicher schon Stunden unterwegs...
Ihre Waden waren einzige feste Knoten aus Muskelgewebe.

Rei blickte Shinji an, der stumpf geradeaus blickte.
\"Ich weiß es nicht\", flüsterte sie. \"Bist du imstande, weiterzugehen?\"

\"Ich bin Asuka Soryu Langley... aber laß uns noch eine Weile hierbleiben.\"

Shinji schloß die Augen.
Gerade erst hatte mit langer Verzögerung die Nachricht, daß er nicht mehr ging, sondern saß, sein Gehirn erreicht. Endlich eine kurze Rast...
Und dann kippte er zur Seite und gegen Rei, die ihn überrascht auffing.

\"Was ist mit ihm?\"

\"Shinji-kun ist eingeschlafen...\"
Sie bettete seinen Kopf auf ihren Schoß, nahm zur Kenntnis, daß er sich zusammenrollte und an sie schmiegte.
\"Die Pause wird wohl etwas länger dauern.\"

\"Muß wohl.\" murmelte Asuka, lehnte sich gegen die Wand und massierte ihre Unterschenkel. \"Typisch Männer, machen immer als erste schlapp.\"

\"Ich verstehe nicht, Soryu.\"

\"Das habe ich auch nicht erwartet. Ich frage mich nur, wie jemand wie Shinji nur ausgewählt werden konnte, um einen EVA zu steuern, das ist alles... aber sein Vater ist ja auch der Kom-mandant, das gibt sicher Bonuspunkte.\"

\"Tut es nicht.\"

\"Und das sagt mir der Liebling des Kommandanten.\"

\"Wer behauptet soetwas?\"

\"Ah, First, das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern.\"

\"Die Spatzen?\"

\"Es weiß doch jeder, daß Shinji nur Pilot ist, will sein Vater ihn ins Team geholt hat... und als Freundin seines Sohnes drückt er bei dir sicher auch ständig ein Auge zu, wenn du deinen EVA wieder einmal geschrottet hast.\"

\"Das ist falsch, Soryu.\"

\"Oh, dann gibt es doch Standpauken?\"

\"Nein, Soryu. Aber weder Shinji-kun noch ich sind EVA-Piloten, weil Kommandant Ikari uns einen Gefallen tun wollte, wie du es scheinbar auszudrücken versuchst. Wir sind Piloten, weil wir über das nötige Potential verfügen, so wie du.\"

\"Ich habe über zehn Jahre für diese Mission trainiert!\"

\"Ich wurde für diese Mission geschaffen.\"

\"Ah... was? Geschaffen? First, du spinnst!\"
Asuka stemmte sich in die Höhe.
\"So, jetzt fühle ich mich frisch genug für die nächsten fünfhundert Stufen! Wir sehen uns dann unten bei der Siegesfeier, wenn ich den Engel erledigt habe! - Wenn ich du wäre, würde ich den Schnarchsack hier liegenlassen, sonst ist der Kommandant sicher sauer.\"
Und damit setzte sie sich in Bewegung. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe wanderte in die Dunkelheit hinab...

Rei blieb mit Shinji zurück, streichelte geistesabwesend seine Wange.
Nein, sie würde Shinji-kun nicht allein in der Finsternis zurücklassen...
Wie weit würde Soryu kommen, ehe die gerade geschöpften Kraftreserven aufgebraucht wa-ren? Einhundert Stufen? Höchstens...


*** NGE ***


Erwachen...
Erinnern...

Wer...
Wo...
Was...

Drei Teile, die langsam wieder zusammenfanden...

Erinnern...


*** NGE ***


Shinji schlief immer noch, allerdings nicht mehr auf den Treppenstufen.

Rei hatte sich selbst eine Regenerationsphase von zwanzig Minuten gegönnt, nach welcher die Verkrampfung und die Schwäche aus ihren Beinen verschwunden waren. Allerdings würde sie das nicht ewig durchhalten, der Energieverbrauch aufgrund der Anstrengung setzte ihr Gren-zen. Bis zum Boden des Treppenschachtes zu gelangen, sollte aber durchaus noch im Rahmen des Möglichen liegen...
Und so hatte sie Shinji-kun huckepack genommen und schleppte ihn nun die Treppen hinab, korrigierte dabei ihre Berechnungen. Der erhöhte Kraftaufwand durch Shinji-kuns zusätzliches Gewicht würde ihre Energien schneller verbrauchen, so daß Pausen in immer kürzeren Abstän-den nötig sein würden. Unter diesen Voraussetzungen würde der Abstieg noch wenigstens drei weitere Stunden in Anspruch nehmen. Als weiterer Unsicherheitsfaktor kam der Flüssigkeits-verlust hinzu, der durch Transpiration entstand...

Vier Treppenabsätze zu je zwanzig Stufen weiter war sie auf Asuka gestoßen, die sich auf ei-nem Absatz ausgestreckt hatte.
Jetzt schlurfte die Rothaarige hinter ihr her, zu erschöpft, um zu sprechen, die Füße voreinan-dersetzend wie ein Roboter.


*** NGE ***


Makoto Hyuga nahm die nächste Kurve.

Der Kleinwagen war an den Kotflügeln bereit übelst zerkratzt und eingebeult von zahlreichen Kontakten mit den Wänden.

Maya Ibuki hockte zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und hoffte, daß sie diese Höllen-fahrt überlebte.

Dann schoß der Wagen plötzlich ins Freie!
Sie hatten die Geofront erreicht!

Hyuga stieß einen kurzen Triumphschrei aus, während Maya es erstmals wieder wagte, richtig zu atmen. Dann trat Makoto das Gaspedal erneut durch, nahm Kurs auf das Pyramidengebäude des Hauptquartiers.

Die Geofront war spärlich beleuchtet, die großen Scheinwerfer unter der Decke der Höhle wa-ren außer Betrieb, Licht fiel nur durch die zahlreichen Lichtschächte, welche in den Mantel ge-bohrt worden waren, allerdings wurde das Sonnenlicht mit Hilfe von Spiegeln und Kollektoren in die Geofront geleitet.

Unterwegs begegneten sie mehreren Gruppen von NERV-Mitarbeitern, die am Rand der Stras-se saßen und sie darüber informierten, daß es im ganzen Hauptquartier keinen Strom gab.
Das große Haupttor stand weit offen.
Makoto fuhr direkt hinein, die Korridore waren groß genug, um dies zu erlauben, in einigen konnten ja sogar EVANGELIONs aufrecht gehen. Er fuhr direkt in die Zentrale, deren Haupt-eingang ebenfalls offenstand, damit wenigstens etwas frische Luft hereinkam, sprang dort aus dem Wagen.

Maya kletterte ebenfalls aus dem Wagen, ihr Gesicht hatte eine grünliche Farbe. Sie würde nie-mals wieder zu Hyuga in einen Wagen steigen, das schwor sie sich.

Den älteren Mann in Hemdsärmeln, der ihm entgegenkam, erkannte Hyuga beinahe gar nicht, salutierte dann, als er in ihm den stellvertretenden Kommandanten erkannte.
\"Sir, in Tokio-3 ist ein Engel aufgetaucht, er benutzt Säure, um sich Zugang zum Zentralen Schacht zu verschaffen!\"

Fuyutsuki zuckte zusammen.
\"Das hat uns gerade noch gefehlt... - Akagi, wie sieht es bei Ihnen aus?\"

\"Moment... das erste Problem hätte sich erledigt...\"

Gleichzeitig sprangen die Klimaanlage und die Luftumwälzanlage wieder an, versorgten die Brücke mit frische Atemluft, was mehrere der Anwesenden mit Freudenrufen zur Kenntnis nahmen.

\"Noch eine halbe Stunde und ich dürfte auch die Beleuchtung wieder in Gang haben.\"

\"Die Notbeleuchtung reicht ersteinmal, Doktor. Mir wurde gerade mitgeteilt, daß ein Engel aufgetaucht ist.\"

\"Scheiße.\" kam es von Misato, die mit Kaji auf der anderen Seite des Raumes stand.

Fuyutsuki nahm keinen Anstoß an dem Kraftausdruck, war dieser ihm doch selbst durch den Kopf gegangen, als er die Neuigkeit gehört hatte.
\"Die EVAs müssen für einen Einsatz vorbereitet werden.\"

\"Sir, ohne Strom funktioniert im Hangar gar nichts. Die Käfige müssen per Hand entriegelt werden, die EntryPlugs müssen manuell einzuführen werden... das ist ein Alptraum!\"
Akagi überließ ihr Terminal Maya mit der Anweisung, so viele Systeme wie möglich wieder online zu bringen.
\"Und außer Einheit-02 benötigen alle EVAs einen kurzen Energieimpuls, um anzulaufen, quasi als Starthilfe.\"

\"Wir haben noch ein altes dieselbetriebenes Notstromaggregat in Werkstatt 3, reicht das?\" fragte Aoba.

\"Das sollte ausreichen.\"

Kaji nickte Aoba zu.
\"Lassen Sie es uns holen gehen.\"

Die anderen, Fuyutsuki an der Spitze, verließen die Brücke und wandten sich in Richtung Han-gar, nur Maya blieb zurück. Unterwegs schickte der Subkommandant Makoto nach draußen, um so viele NERV-Angehörige wie möglich zusammenzutrommeln und in den Hangar zu brin-gen, damit ausreichend Muskelkraft vorhanden war, um die EVAs manuell einsatzbereit zu ma-chen.

\"Jetzt fehlen uns nur noch die Kinder\", murmelte Misato.

\"Die kommen.\" erklärte Akagi überzeugt. \"Wenigstens Rei dürfte jede Minute hier \'reinstol-pern. Und wo sie ist, dürfte Shinji nicht weit sein. Und Asuka wird wohl kaum als letzte an-kommen wollen.\"

\"Aber dazu müßten sie auch einen Weg nach hier unten haben.\"

\"Hyuga hat einen gefunden, dem Wagen und Mayas Gesichtsausdruck nach war es wahr-scheinlich deine Rennstrecke. Mir scheint, du hast als Rennfahrerin Konkurrenz bekommen.\"

\"Was macht dich so sicher, daß Rei herkommt?\"

\"Sie kann gar nicht anders, es liegt ihr im Blut...\"

\"Wie meinst du das, Ritsuko?\"

\"Ikari hat ihr befohlen, bei einem Angriff sofort ins Hauptquartier zu kommen. Und Rei ist nicht in der Lage, Befehle zu ignorieren. Wenn wir einen braven kleinen Soldaten im Team haben, dann ist sie es.\"
Den letzten Satz sprach sie mit einem traurigen Unterton.


*** NGE ***


Rei stolperte.
Das Gewicht, das sie trug, war zuviel für sie. Mittlerweile schleppte sie ihre beiden Kollegen über die Treppen. Aber wenigstens war Shinji-kun wieder wach und gab sich Mühe, sie zu un-terstützen, während Soryu wie ein nasser Sack an ihrer anderen Schulter hing.
Sie hatten den Boden des Treppenschachtes fast erreicht, als Rei den Halt verlor und die letz-ten Stufen herabpolterten.
Die Taschenlampe erlosch.
Als Knäuel aus Körpern, Armen und Beinen kamen sie unten an, blieben so eine Weile liegen, bis Asuka aufkreischte und in die Höhe schoß.

\"Shinji, du verdammter Perverser!\"

\"Was habe ich denn gemacht?\" fragte Shinji müde ohne sich zu rühren.

\"Mich zu betatschen! Ich sollte dich...\"

\"Dann tu es, aber schrei nicht so laut.\"

\"Argh! Okay, dieses eine Mal laß ich dir durchgehen, im Zweifel für den Angeklagten, ja!\"

\"Schön\", murmelte er, ohne die Bedeutung ihrer Worte wirklich zu verstehen. \"Rei?\"

\"Hm?\" kam es aus der Dunkelheit neben ihm.

\"Ich glaube... ahm... wir sind unten... hast du dich verletzt?\"

\"Nein. Alles funktionsfähig.\"
Sie stützte sich auf die Hände auf, stemmte den Oberkörper in die Höhe.

\"Ahm... bei mir auch... schätze ich...\"

\"Hier muß doch irgendwo eine Tür sein!\" schimpfte Asuka. \"Ah, hier!\"

Es knirschte und quietschte, dann fiel ein schwacher Lichtschein in das Treppenhaus.

\"So, und jetzt...\"
Asuka drehte sich um.
\"Was... was macht ihr denn da? Das ist ja obszön!\"

Rei lag auf Shinji in einer recht eindeutigen Körperhaltung, nur die Kleidung, die beide immer noch trugen, störte den Eindruck nachhaltig.

\"Shinji-kun, was meint sie?\"

\"Keine Ahnung, Rei-chan. Laßt mich einfach hier liegen.\"

Rei kletterte umständlich von ihm herunter und setzte sich auf den Boden.
\"Nein, niemand bleibt zurück.\"

Draußen hielt mit quietschenden Reifen ein Fahrzeug.
Makoto, der auf Anweisung Misatos seit über einer Stunde zwischen den verschiedenen Zu-gängen zur Geofront Patrouille gefahren war, winkte Asuka, die immer noch in der Türöff-nung stand, zu.
\"Hat hier jemand ein Taxi bestellt?\"


*** NGE ***


Diesesmal fuhr Hyuga nonstop bis in den EVA-Hangar.

Staunend beobachteten die drei Teenager, wie die EntryPlugs mit Hilfe dicker Seile von den NERV-Angehörigen manuell über den Steuernerven positioniert wurden. Zwischen schwitzen-den und keuchenden Technikern und Wissenschaftlern befanden sich auch die Führungsoffizie-re und legten ebenfalls Hand an, sogar der Subkommandant stemmte sich gegen ein Seil.

\"Ich habe es doch gesagt\", preßte Ritsuko zwischen den Zähnen hervor.

\"Alte Besserwisserin!\" antwortete Misato. Nach dieser Aktion würde auf die Krankenabteilung einige Arbeit zukommen, denn die wenigstens von ihnen trugen Handschuhe, so daß die Seile sich ungehindert in die Haut eingraben konnten.

\"Das \'alt\' nimmst du zurück!\"

Misato vergewisserte sich, daß das Seil, an dem sie stand, gesichert war, ehe sie den dreien am Boden zuwinkte.
\"Kommt rasch nach oben! Nicht erst umziehen!\"

Mittlerweile funktionierten auch die Beleuchtung und die Kommunikationseinrichtungen im Hauptquartier wieder, Maya hatte es sogar geschafft, Kontakt mit den Alarmsensoren am Zen-tralen Schacht aufzunehmen, so daß sie über das Vordringen des Engels informiert waren.
Demnach stand der Spinnenengel kurz davor, in die Geofront einzudringen!

Die drei Piloten kletterten in die Steuerkapseln, welche sodann weiter herabgelassen wurden, bis sie Kontakt zum Nervensystem der EVAs hatten. Jeder der Piloten war mit einem Headset ausgerüstet worden, da die MAGI-gestützte Kommunikation mit den Systemen der Plugs noch nicht wieder funktionierte.
Misato wies Asuka an, mit einem Start ihrer Systeme zu warten, bis EVA-00 und -01 ebenfalls bereit waren, damit keine Batterieenergie durch Warten verbraucht wurde. Dann wurde das von Kaji und Aoba gebrachte Notstromaggregat angeworfen.

Die Augen der EVAs glühten auf.

\"Wir haben keine Zeit für großangelegte Pläne! Jeder von euch rüstet sich mit einem Positro-nengewehr aus. Dann erwartet ihr den Engel hier in der Geofront!\"

Die drei bestätigten, jeder von ihnen froh, nicht selbst laufen zu müssen. In fünf Minuten würde es vorbei sein, dann würden sie entweder den Engel vernichtet haben und konnten sich ausru-hen, oder ihnen würde die Energie ausgegangen sein und sie konnten aus nächster Nähe den Weltuntergang miterleben.

Die drei EVAs stampften aus dem Hangar, verfielen im Hauptkorridor in einen Laufschritt, verließen das Hauptquartier.

Draußen wurden sie von zurückgebliebenen NERV-Mitarbeitern mit lauten Rufen empfangen, welche die Decke der Geofront und den Zentralen Schacht im Auge behalten hatten, der fast genau über dem Hauptquartier endete. Fast alle deuteten nach oben, zogen sich dann rasch zu-rück.

Die drei EVAs blickten nach oben, sie waren der Decke viel näher als die im Vergleich winzi-gen Menschen, doch zwischen ihren Köpfen und der Höhlendecke war noch jede Menge Luft, selbst wenn sie einander auf die Schultern geklettert wären und eine Leiter gebildet hätten, hät-ten sie die Decke nicht erreicht.
Das mächtige Panzerschott in der Decke wies erste Risse auf.
Das Metall warf Blasen, beulte sich aus.

\"Er kommt!\" rief Asuka in das Mikrophon ihres Headsets derart laut, daß jeder, der sie hören konnte, versucht war, sein eigenes Gerät herunterzureißen.

Die drei verteilten sich, brachten ihre Gewehre in Anschlag.

Das Stahlschott gab nach, zerriß wie Papier.
Und durch die entstandene Öffnung seilte sich der Spinnenengel an einem dicken seidigen Fa-den ab.

\"Feuer.\" flüsterte Rei.

\"Warum hast du auf einmal das Kommando?\" beschwerte sich Asuka, schoß aber gleichzeitig.

Der erste Treffer ließ das AT-Feld des Engels aufflackern, der zweite ließ es einen Sekunden-bruchteil später erlöschen, der dritte traf den Engel voll, setzte ihn in Brand.

Die Riesenspinne stürzte in einer Feuerkugel dem Boden entgegen, stieß ein langgezogenes Kreischen aus.

Erneut schossen die EVAs.

Der Engel explodierte, noch ehe er mit dem Boden in Kontakt kam, die Druckwelle wurde von den EVAs mit ihren eigenen AT-Feldern aufgefangen.

Einen Moment lang waren alle sprachlos.

\"Das war alles?\" fragte Asuka schließlich. \"Dafür sind wir hunderttausend Stufen durch die Dunkelheit herabgelaufen?\"

\"Uhm... also ich bin zufrieden, daß es nicht länger gedauert hat.\" murmelte Shinji, während zu-gleich die Anzeige für die verbliebene batterieenergie noch eine halbe Minute anzeigte.

\"Ja, aber das hätte sogar Wondergirl allein geschafft!\"

Shinji ließ EVA-01 eine liegende Haltung einnehmen, dann evakuierte er seinen Plug manuell, solange er noch die dazu nötige Energie hatte, und kletterte aus dem EntryPlug.
Sollten sich die Erwachsenen doch darum kümmern, wie der EVA wieder in den Hangar zu-rückkam, war schließlich nicht das erste Mal.
Er wollte nur noch schlafen...


*** NGE ***


Bevor die Piloten sich ausruhen konnten, mußten sie zunächst einmal an Misato vorbei, die ih-nen zu ihrem Sieg gratulierte und sie abends zum Essen einlud, in einem ganz schicken Restau-rant - sofern die Aufzüge wieder funktionierten -, wie sie sich ausdrückte.
Dann begann allmählich das LCL auf der Haut einzutrocknen, so daß zumindest Shinji doch erst einmal duschen wollte. Daß auch ihre Alltagskleidung sich mit der LCL-Flüssigkeit vollge-sogen hatte, stellte nur bei Asuka ein Problem dar, die keine Ersatzkleidung in ihrem Spind aufbewahrte, allerdings von Misato ein paar Sachen gestellt bekam.

Die Umkleidekabine wurde mittlerweile von einem großen milchigfarbenen Wandschirm ge-teilt, durch den man schemenhaft die Umrisse von Personen auf der anderen Seite sehen konn-te.

Doch auch hierfür hatte Shinji kein Auge, er war einfach zu erschöpft, um auch nur zur Kennt-nis zu nehmen, wie Asuka und Rei sich auf der anderen Seite entkleideten - nicht, daß er ohne-hin kaum etwas gesehen hätte, er war sogar so müde, daß nicht einmal seine Phantasie in Ak-tion trat.
Und als er unter der Dusche stand und seine schmerzenden Muskeln sich langsam entkrampf-ten, nahm er die Tatsache, daß neben ihm zwei weitere Duschen ansprangen, auch nur irgend-wo im hintersten Winkel seines Bewußtseins zur Kenntnis, ansonsten hätte er mit ziemlicher Sicherheit ganz anders auf die Anwesenheit zweier gutgebauter nackter Mädchen im selben Raum reagiert, als einfach weiterzuduschen und im Anschluß in seinen Teil der Umkleidekabi-ne zurückzutrotten.

Wenn Asuka sich nicht in einem Zustand irgendwo näher dem Schlafen als dem Wachen befun-den hätte, wäre es wohl ebenfalls ganz anders ausgegangen, nur definitiv nicht zum Guten. Und falls sie sich später einmal daran erinnern sollte, so behielt sie es jedenfalls für sich, da sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte...

Rei hingegen war es völlig egal, schließlich schliefen sie auch im gleichen Bett.

In einem der Bereitschaftsräume waren Schlafgelegenheiten für die Piloten hergerichtet wor-den, wobei auch dieser Raum mittels eines Wandschirmes in zwei Hälften geteilt worden war, nur war das Rei völlig egal, als Shinji sich auf das eine Bett auf der rechten Seite der Trenn-wand legte und sofort einschlief, legte sie sich neben ihn, rollte sich etwas zusammen und fiel ebenfalls sogleich in tiefen Schlaf.

Asuka besah sich das kurz, schüttelte den Kopf und murmelte:
\"Obszön...\"
Dann ließ sie sich auf eines der beiden anderen Betten fallen und war auch sofort eingeschlafen.


*** NGE ***


Am späten Nachmittag wurden die drei von Misato geweckt, das hieß, Rei war eigentlich schon wach, hatte jedoch keinen Grund zum Aufstehen gesehen, sondern war lieber an Shinjis Seite liegengeblieben und hatte dem regelmäßigen Schlagen seines Herzens gelauscht.
Misato betrat unter Rumpeln und Scheppern den Raum, die Geräusche wurden von dem Roll-tisch verursacht, den sie vor sich herschob und auf dem sie den Piloten etwas zu essen und Ge-tränke aus der Kantine brachte.

\"Auf, auf, meine Lieben! Die Computer laufen wieder, wir haben wieder Strom und die Ge-tränkeautomaten funktionieren auch wieder!\"
Damit schob sie den Wandschirm zur Seite und plazierte den Rolltisch zwischen den beiden belegten Betten, konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken, als sie Rei neben Shinji liegen sah, eine Hand auf seinem Brustkorb.

\"Aw, Misato... nicht so laut...\" brummte Asuka und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.

Rei setzte sich vorsichtig auf, um Shinji nicht zu wecken.
\"Werden wir benötigt, Major?\"

\"Nein, Rei, keine Sorge. Der Himmel ist klar, die See ist ruhig, kein weiterer Engel in Sicht. Zwei an einem Tag wäre auch wirklich zu viel! So, ich habe hier ein paar Knabbereien für euch, dazu Limonade und Vitaminsaft, mit den besten Empfehlungen von Ritsuko. - Na, Shinji, wieder fit?\"

Shinji gähnte, setzte sich auf, legte bei ohne nachdenken einen Arm um Rei, wurde sich dessen einen Augenblick später bewußt, wollte die Hand zurückziehen, wurde aber von ihr daran ge-hindert.
\"Uhm... glaube schon...\"
Jetzt spürte er auch seine Beine wieder, nur hatte er das Gefühl, als hätten sich alle Muskeln und Knochen in weichen Pudding aufgelöst.
\"Haben wir den Engel erwischt, oder habe ich das nur geträumt?\"

\"Ihr habt das Vieh abgeschossen, gerade als es sich in die Geofront abseilen wollte.\"

\"Viel zu einfach... keine Herausforderung\", kam Asukas Stimme undeutlich unter ihrem Kopf-kissen hervor.

\"Okay, Asuka, wenn du meinst... du kannst gegen den nächsten Engel ja ohne deinen EVA an-treten...\" murmelte Misato und seufzte. \"Also, Anweisung von Doktor Ritsuko: Ihr sollt viel trinken, um den Flüssigkeitsverlust von eurem Treppensteigen auszugleichen. Und nicht ver-gessen, heute abend lade ich euch ein!\"
Sie verließ den Raum.

Ächzend schob Shinji sich bis zur Bettkante und ließ die Füße hinunterbaumeln. Derart fertig war er selbst nach der aufreibendsten Sportstunde nicht gewesen. Er angelte nach dem Tisch, hatte jedoch nicht genug Reichweite.

Kommentarlos stand Rei auf und griff nach der Platte des Rolltisches.

Asuka peilte unter ihrem Kissen hervor, bemerkte ihren eigenen knurrenden Magen und griff ebenfalls nach dem Tischchen, welches ihrem Bett näher stand als Shinjis.

Einen Moment lang zogen beide Mädchen an dem Tisch, stellten ihre Bemühungen dann ein.

Asuka setzte sich auf, blickte Rei finster an.

Rei hielt dem Blick mühelos stand, aufgrund ihrer körperlichen Besonderheiten mußte sie viel seltener blinzeln als normale Menschen.

Mit einem unterdrückten Knurren brach Asuka das Blickduell ab und griff sich stattdessen zwei Dosen Limonade und ein belegtes Brötchen von dem Tablett auf dem Tisch.

Mit leichtem Mißfallen nahm Rei zur Kenntnis, daß Soryu keine Limonade für Shinji-kun übriggelassen hatte, als sie das Tischchen zu sich heranzog und sich neben Shinji auf die Bett-kante setzte.

\"Danke, Rei\", sagte Shinji und lächelte. Wenigstens seine Gesichtsmuskeln schmerzten nicht... vielleicht hätte er Misato fragen sollen, ob sie nicht irgendwo einen Rollstuhl für ihn auftreiben könnte...
Er angelte nach der Flasche mit Vitaminsaft und füllte zwei Plastikbecher.
\"Hier.\"
Er stellte einen Becher vor Rei und besah sich dann, was Misato noch so gebracht hatte.

Rei ignorierte die mit Wurst und Käse belegten Brötchen und griff in eine Schale mit Reisbäll-chen.
\"Shinji-kun?\"
Sie hielt ihm das Reisbällchen unter die Nase.

\"Uhm, ja, das sieht gut aus.\"
Er wollte es ihr aus den Fingern nehmen, doch sie führte es ihm bereits zum Mund.
\"Ahm...\"
Widerstandslos biß er vorsichtig ab.

\"Argh! Ihr beide seid so... kindisch!\" schrie Asuka und stürmte aus dem Raum, wobei sie ihre Beute allerdings mitnahm.

\"Uh, kindisch?\" wiederholte Shinji mit einem Reiskorn an der Lippe. \"Wie alt sind wir noch-mal?!\" Dann fing er an zu lachen, mußte sich die Hand vor den Mund halten, um nicht Reis durch den ganzen Raum zu spucken.
Das tat richtig gut, ihm tat zwar bald vor Lachen der Bauch weh, aber das änderte nichts an der befreienden Wirkung des Lachens.
Und die Tatsache, daß Rei lächelte, gab ihm noch weiteren Auftrieb.
Rei, die ihn nicht im Stich gelassen hatte, als er auf der Treppe nicht mehr weiterkonnte... die ihn getragen und später gestützt hatte, obwohl er - schwach - dagegen protestiert hatte... Rei-chan, die er eigentlich nur noch in den Arm nehmen und nie wieder loslassen wollte...

*** NGE ***


Misato betrat Ritsukos Arbeitszimmer.
Die zahllosen Katzenmotive und -figuren an den Wänden und auf den Regalen und Tischen und sonstigen freien Plätzen nahm sie schon gar nicht mehr wahr.

Akagi hockte zusammengesunken an ihrem Schreibtisch.

Maya, die an einem anderen Schreibtisch mit ihrem Laptop gearbeitet hatte, machte hektische Gesten, Misato sollte Ritsuko nicht wecken.

Misato nickte und beugte sich neben Ritsuko vor, bis sie der Schlafenden ins Gesicht blickte. Ihre alte Freundin wirkte sehr erschöpft, wirklich keine Überraschung, schließlich hatte sie die letzten Tage durchgearbeitet.

Ritsuko murmelte etwas unverständliches im Schlaf.

Misato richtete sich wieder auf, bedeutete Maya, ihr doch auf den Korridor zu folgen.

Draußen schloß sie leise die Tür wieder.
\"Also, Maya, seid ihr zu irgendwelchen Erkenntnissen gekommen?\"

\"Sempai ist sich nicht sicher, vermutet aber einen Zusammenhang zwischen den beiden letzten Angriffen.\"

\"Na, das liegt auch nicht ganz so fern. Der erste Engel legt unsere Computer und damit unsere Abwehr lahm und der andere spaziert einfach durch die Stadt und kommt fast bis zum Haupt-quartier, dabei war er vergleichsweise schwach.\"

\"Aber wenn Sie die EVAs nicht manuell startbereit gemacht hätten, wäre der Angriff erfolg-reich gewesen.\"

\"Ja, das geht mir auch nicht aus dem Kopf. Und das macht es den MAGI auch nicht einfacher, Prognosen für den nächsten Angriff zu erstellen, oder?\"

\"Bedaure, Major. Wir müssen jetzt von ganz neuen Kriterien ausgehen.\"

\"Es ist, als würden die Engel neue Taktiken ausprobieren...\" murmelte Misato. \" Der Zwil-lingsengel konnte bei seinem synchronen Angriff gestoppt werden, jetzt hatten wir es mit zwei Gegnern in kurzer Folge zu tun, die möglicherweise zusammengearbeitet haben... fragt sich nur, was als nächstes kommt.\"

\"Vielleicht eine Bombardierung von oben?\"

\"Na, soweit will ich nun doch nicht gehen.\"


*** NGE ***


Schwankend ging Shinji auf Misatos Wagen zu, der in der NERV-Tiefgarage stand. Auch jetzt fühlten sich seine Beine immer noch an wie aus Gummi.

Rei hielt sich an seiner Seite, so als wollte sie sichergehen, ihn im Notfall auch stützen zu kön-nen.

\"Kommt ihr auch endlich?\" rief Asuka vom Beifahrersitz her. Sie hatte die letzten Stunden ge-nutzt, um sich in Misatos Apartment umzuziehen, und trug jetzt ein gelbes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, welches über ihren Knien endete, dazu trug sie noch eine gleichfarbige Schleife im Haar.
\"Ich will gar nicht wissen, was ihr beide in der Zwischenzeit alleine angestellt habt!\"

Shinji lag die Antwort, sie hätten sich noch ein wenig ausgeruht, auf der Zunge, behielt sie aber für sich, Asuka würde ohnehin eigene Schlüsse ziehen, egal, was er sagte.

\"So, alle da?\" fragte Misato. \"Dann kann\'s ja losgehen!\"

\"In welches Restaurant gehen wir denn?\"

Misato lächelte.
\"Laß dich überraschen, Asuka!\"


*** NGE ***


Das angebliche Edellokal entpuppte sich als eine Nudelküche am Stadtrand mit umfangreicher Speisekarte.

Asuka, welche sich bereits auf ein größeres Menü gefreut hatte, knirschte mit den Zähnen, daß es Misato Angst und Bange wurde, ihre Schutzbefohlene könnte in naher Zukunft ein Gebiß benötigen.

\"Ich habe den Laden hier an meinem ersten Tag in Tokio-3 entdeckt. Freundlich, sauber, schnell, gutes Essen... ich meine, was will man denn mehr?\" erklärte Misato, nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten und die Bedienung ihnen bereits etwas zu trinken gebracht hat-te, und öffnete ihre Bierdose.

\"Vielleicht ein Steak\", brummte Asuka. \"Noch schön blutig.\"

Rei schüttelte sich innerlich.
\"Ich habe keine Einwände bezüglich Ihrer Wahl des Ortes, Major.\"

\"Du kennst es ja auch nicht besser... machst ohnehin alles, was man dir aufträgt\", giftete Asuka zurück. \"Wenn ihr beide\", sie sah von Rei zu Shinji und wieder zurück, \"zusammen seid, ist das doch für Shinji die einzige Gelegenheit, die Hosen anzuhaben, oder?\"

\"Asuka...\" setzte Shinji an.

\"Na, lieber Shinji, ist es nicht so, hm? Du kommandierst Wondergirl hier sicher doch den gan-zen Tag herum und sie ist ganz dankbar dafür, oder?\"

\"Das stimmt nicht\", knurrte Shinji.
Sollte Asuka ihn doch so oft \'runtermachen, wie sie wollte, sein Herz konnte sie damit nicht verletzen. Doch wenn sie Rei-chan mithineinbezog, überschritt sie in seinen Augen eine Gren-ze, jenseits der sie nichts zu suchen hatte.

\"Asuka, hör auf\", sagte Misato in kommandierendem Unterton.

\"Ja, ja, nimm die beiden ruhig in Schutz. Das ist doch wirklich nicht normal... würde mich nicht wundern, wenn Wondergirl demnächst als Pilot ausfällt, weil Shinji sie geschwängert hat.\"

\"Asuka, das reicht jetzt!\"

\"Hrmpf.\"

\"Nur zu deiner Information, Soryu, ein solches Szenario ist nicht denkbar.\" erklärte Rei ruhig.

Stille senkte sich über den Tisch.

Misato war sauer auf Asuka, diese schmollte, daß ihre Mundwinkel beinahe den Boden berühr-ten. Shinji war das ganze nur noch peinlich, Misato hatte es doch nur gut gemeint. Und Rei schließlich verstand nicht ganz, was eigentlich los war - wie sollte Shinji-kun denn imstande sein, sie zu schwängern, wenn sie gar nicht in der Lage war, Kinder zu bekommen? Allerdings hing dies mit ihrer Physiognomie zusammen und unterlag daher der Geheimhaltung. Aber... irrte sie sich, oder war Shinji-kun leicht zusammengezuckt, als sie Soryu gegenüber erklärt hatte, daß das von ihr genannte Szenario nicht möglich war? Was hatte diese Reaktion zu bedeuten?

Das Essen kam.
Die Bedienung war clever genug, die Teller vor ihnen zu plazieren und sich dann wieder aus dem Staub zu machen.

Shinji kostete seine Mahlzeit, fühlte sich veranlaßt, etwas zu sagen, um die Stille zu brechen.
\"Das... ah... das schmeckt gut...\"

Misato rang sich ein Lächeln ab.
\"Freut mich.\"
Mit einem Seitenblick in Richtung Asuka fügte sie hinzu:
\"Ich hoffe, du bist hier neben mir nicht der einzige, dem es schmeckt.\"

Rei entschied sich, neben Shinji in die Bresche zu springen.
\"Sehr wohlschmeckend, Major.\" erklärte sie knapp.

\"Gut... und Rei, das habe ich dir schon gesagt - wenn ich nicht im Dienst bin, genügt Misato vollkommen.\"

\"Ja.\"

Inzwischen hatte auch Asuka schweigend begonnen zu essen, zog dabei ein Gesicht, als hätte man sie dazu gezwungen.

\"Asuka, du mußt das nicht essen, wenn du nicht willst.\"

\"Ich habe aber Hunger, Misato.\"

\"Ah, ja... äh... gut...\"
Misato schüttelte den Kopf.
\"Wie waren denn eure Prüfungen?\"

\"Zufriedenstellend\", antwortete Rei.

Shinji gab eine etwas weiterausholende Auskunft.

\"So, dann bekommt ihr nächste Woche die Ergebnisse... - Und, Asuka, wie ist es bei dir gelau-fen?\"

Die Rothaarige murmelte etwas mit vollem Mund, das wie \"Scheiß-Kanji\" klang, es hätte aber auch sein können, daß sie irgendeine Stadt in China meinte.

Misato jedenfalls beschloß, Asuka nicht weiter zu fragen.
\"Dann liegt doch auch Ende der Woche der Abschlußball an, oder?\"

\"Uhm, ja...\" murmelte Shinji und senkte den Blick.
Seit der Sache mit dem Zwillingsengel hatte er Rei eigentlich fragen wollen, ob sie ihn nicht be-gleiten wollte...

\"Ich erinnere mich noch an meinen ersten Abschlußball... eigentlich war es auch mein letzter... ein halbes Jahr später stand der Weltuntergang auf dem Kalender und danach war niemandem wirklich nach Feiern zumute... Hm, ist lange her... also, raus mit der Sprache, ihr beiden, geht ihr zusammen hin?\"

\"Uhm, also... ähm...\" druckste Shinji herum.

\"Ja.\" erklärte Rei.

Shinjis Kopf fuhr herum. Er starrte sie an.
Ja...
Sie hatte \'Ja\' gesagt...

\"Hrmpf\", machte Asuka abfällig.

\"Schön!\"
Misato lächelte breit.


*** NGE ***


Nach dem Essen fuhr Misato die beiden noch heim.
Asuka konnte sich einen Kommentar über den Zustand der Wohngegend und des Hauses, in dem Rei wohnte, nicht verkneifen, wobei Misato sich insgeheim anschloß, das Viertel schien wirklich schon bessere Zeiten gesehen zu haben, obwohl Tokio-3 noch gar keine so lange exi-stierende Stadt war.

Shinji schleppte sich die Stufen bis in den vierten Stock hinauf, wollte danach ersteinmal keine Treppen mehr sehen. Wie ein Toter fiel er noch komplett angezogen ins Bett, bemerkte weder wirklich, daß Rei ihn nachdenklich ansah, noch daß ihm schließlich seine Sachen bis auf die Unterhose auszog und selbst bei dieser noch nachzudenken schien.
Auch daß sie sich kurz darauf neben ihn legte und die leichte Decke über ihnen ausbreitete, entging ihm größtenteils.

Rei streichelte sanft seine Wange, bemerkte die ersten Anzeichen eines Bartwuchses in Form kurzer feiner Härchen. Ob Shinji-kun mit einem Bart wohl aussah wie sein Vater? Überrascht legte sie die Stirn in Falten, als sie zu der Erkenntnis kam, daß dies nicht der Fall sein würde, der Kommandant und Shinji-kun hatten ganz unterschiedliche Kinnpartien... und irgendwie be-ruhigte sie diese Erkenntnis...
\"Gute Nacht, Shinji-kun...\"

Shinji nuschelte etwas, das ebenfalls nach einem Gute-Nacht-Gruß klang.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi hatte verschiedene Vorsätze für die nahe Zukunft gefaßt.
Zunächst einmal wollte sie in ihrem Büro ein Feldbett aufstellen, langsam störte es sie, wenig-stens einmal die Woche völlig verspannt über ihrem Schreibtisch aufzuwachen. Und dann woll-te sie künftig noch stärkeren Kaffee kochen, damit sie es auch auf besagtes Feldbett schaffte, wenn die Müdigkeit sie übermannte.
Maya hatte sie bereits heimgeschickt, ihre Assistentin hatte während ihrer Auszeit gute Vorar-beit geleistet, dennoch wollte sie stichprobenartig die Verzeichnisstrukturen auf den MAGI-Rechnern überprüfen und einige Versuchsläufe starten. Daß es längst weit nach Mitternacht war, entzog sich ihr völlig.

Sie machte sich an die Arbeit...
Und nahm eine gute halbe Stunde später langsam die Finger von der Tastatur ihres Terminals, als sie etwas entdeckte, das nicht hätte dort sein sollen.

\"Was zum...\"

Auf CASPAR befand sich eine ganze Reihe von Dateien, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Bei jeder einzelnen handelte es sich um eine Aufzeichnung der Sicherheitskameras des Haupt-quartiers aus dem Jahre 2005. Es waren die kompletten Aufzeichnungen vom Todestag ihrer Mutter...

Ritsukos Hände finden plötzlich an zu zittern.
Eine der Dateien würde ihr die letzten Minuten im Leben ihrer Mutter zeigen, würde ihr die Augenblicke zeigen, ehe Naoko Akagi sich in der Kommandozentrale von der Brückenebene auf die Ebene herabgestürzt hatte, auf der sich damals die MAGI etwa vier Meter tiefer befun-den hatten...

Die Aufzeichnungen waren nach Räumen und Zeiten aufgelistet, jede Datei deckte eine Stunde ab.

Wollte sie das wirklich sehen? Wollte sie wirklich sehen, wie ihre Mutter Selbstmord begangen hatte?
Sie hatte nie den Grund herausgefunden, offiziell hatte es geheißen, ihre Mutter hätte unter schweren Depressionen gelitten... und eigentlich war sie damals doch zu NERV gegangen, um mehr über die Umstände ihres Todes herauszufinden...

Wo kamen die Daten eigentlich her?
Ein kurzer Eintrag in der Dateibeschreibung teilte ihr mit, daß sie eigentlich am gleichen Tag, an dem sie abgespeichert worden waren, wieder gelöscht worden waren... dem benutzten Legi-timierungscode nach von niemand anderem als von Gendo Ikari...

Ritsuko atmete tief durch.
Warum hatte Gendo die Aufzeichnungen gelöscht? Was hatte er mit dem Tod ihrer Mutter zu tun gehabt?

Und sie startete die erste Aufzeichnung aus den Kommandoraum...

\"Mutter...\" flüsterte sie mit belegter Stimme, als sie auf dem Bildschirm ihre Mutter sah, wie sie an den MAGI arbeitete. Bei BALTHASAR fehlte die Verkleidung. Ihre Mutter wirkte nicht wie jemand, der unter Depressionen litt, im Gegenteil, sie war voller Elan bei der Arbeit... brachte so jemand sich um?
Ritsuko ließ die Aufzeichnung schnell vorlaufen, am Ende der ersten Stunde wurde automa-tisch die Wiedergabe der nächsten Stunde gestartet.
Sie sah, wie ihre Mutter die Arbeit an BALTHASAR beendete und einen Techniker anwies, die Verkleidung anzubringen, sah sie kurz den Raum auf der MAGI-Ebene verlassen und kurz darauf auf der Brücken-Ebene wieder betreten, wo sie an einem Terminal weiterarbeitete, sah, wie Triumph auf ihrem Gesicht stand, als die MAGI die Arbeit aufnahmen... als sie den Erfolg ihrer Bemühungen, ihres Lebenswerkes, sah...
Langsam streckte Ritsuko die Hand aus, berührte den Bildschirm mit den Fingerspitzen, wäh-rend Tränen ihre Sicht verschleierten.

Die nächste Aufzeichnung lief an...

Ritsuko trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel ihres Kittels.

Eine weitere Person betrat die Zentrale, ein kleines Mädchen mit blauem Haar und roten Au-gen...

\"Rei...\" flüsterte Ritsuko.
Aber das war doch unmöglich... dem Zeitindex nach konnte das nicht Rei sein... der Klon war erst fast über ein Jahr später erstmals aktiviert worden...
Die Aufzeichnung hatte keinen Ton, so daß sie nicht hören konnte, was die beiden sagten.
Doch die Bilder sprachen für sich...
Plötzlich verzerrte sich Naoko Akagis Gesicht vor Zorn, sie schrie das kleine Mädchen an, leg-te ihm die Hände um den Hals, drückte zu...

Voller Entsetzen beobachtete Ritsuko, wie ihre eigene Mutter das kleine Mädchen erwürgte...
Sie war wie gelähmt. Das konnte doch nicht...
Naoko blickte auf die Leiche herab, dann auf ihre Hände, sah sich verzweifelt um, blickte kurz direkt in die Kamera. Und dann kletterte sie auf die brusthohe Mauer, welche die Brückenebe-ne sichern sollte, und sprang in den Tod.

\"Mutter...\"
Ritsuko wischte sich wieder über die Augen.
Ihre Mutter hatte Selbstmord begangen, weil sie Rei getötet hatte... es mußte also vor dieser Rei noch einen weiteren funktionsfähigen Klon gegeben haben...

Die Aufzeichnung lief weiter, zeigte, wie ein jüngerer Gendo Ikari die Brücke betrat und mit ausdrucksloser Miene die beiden Toten in Augenschein nahm. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht... dann bückte er sich, hob die Leiche des Mädchen auf seine Arme und trug sie hinaus.

Ritsuko stoppte die Wiedergabe, schluckte.
Gendo hatte es gewußt...
Sie mußte ruhig bleiben...

Rasch verglich sie die Zeitindexe, suchte jene Aufzeichnungen heraus, die aus der Stunde des Todes ihrer Mutter stammten.
Der Korridor vor der Zentrale...
Zwei Personen tauchten vor dem Haupteingang auf, Gendo Ikari und Rei... Gendo sagte etwas zu dem Mädchen, welches nickte und dann in der Zentrale verschwand... kurz darauf folgte Gendo ihr... kehrte mit der jetzt toten Rei zurück...

Nach und nach verfolgte sie den Weg, den Gendo mit der Leiche genommen hatte, registrierte mit betäubten Gefühlen, daß er sich der Toten einfach in der Müllverbrennungsanlage entledigt hatte... dann ging sie zurück zu jenem Zeitpunkt, an dem die beiden erstmals auf der Sicher-heitsaufzeichnung vor der Zentrale erschienen waren, verfolgte ihren Weg zurück bis in einen nahen Bereitschaftsraum, wo Gendo der kleinen Rei Instruktionen zu geben schien...

Ritsuko lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Was immer auch Rei gesagte hatte, das ihre Mutter dazu gebracht hatte, sie zu erwürgen, sie hatte es auf Weisung Gendos gesagt...
\"Oh, mein Gott...\"
Ritsuko schaltete die Aufzeichnung ab, kopierte die relevanten Dateien in ein eigenes Unter-verzeichnis, sicherte dieses mit ihrem persönlichen Code, den nicht einmal Gendo kannte.
Gendo...
Ihr wurde übel.
Sie preßte sich die Hand gegen den Mund, rannte aus ihrem Büro auf den Korridor und zur nächsten Toilette, spürte, wie ihr Mageninhalt ihr unaufhaltsam die Speiseröhre hinaufstieg.
Gendo...
Lange stand sie über der Toilettenschüssel, bis sie ganz sicher war, daß auch der letzte Rest an Gallenflüssigkeit ihren Magen verlassen hatte.
Gendo...
Der Mann, der letztendlich die Verantwortung für den Tod ihrer Mutter trug... und sie hatte mit ihm geschlafen...
Erneut mußte sie sich erbrechen, spuckte bittere Galle aus...
Kapitel 28 - Abschlußball

Shinji blinzelte.
Es war bereits hell, die Sonne stand schon hoch am Himmel.
Die Schule...
Er würde zu spät kommen...
Warum hatte Rei ihn nicht geweckt...
Rei...
Er spürte ein Gewicht auf seinem rechten Oberarm, erkannt im nächsten Moment, daß er einen warmen Körper im Arm hielt...
Langsam drehte er den Kopf zur Seite, blickte direkt in Reis Gesicht, sah direkt in ihre roten Augen.
\"Uh... hallo...\"

\"Guten Morgen, Shinji-kun.\"

\"Wie... wie spät ist es? Die Schule...\"

\"Major Katsuragi kümmert sich darum, sie war der Ansicht, daß wir uns wirklich einen freien Tag verdient haben.\"

\"Ähm, ja...\"
Wie lange mochte sie ihn bereits beobachtet haben...
Sein Magen knurrte.
\"Uhm...\" setzte er verlegen an.

\"Du benötigst Nahrung.\" stellte Rei sachlich fest.

\"Ich... ahm... ja, schätze schon.\"

Sie erhob sich; als er Anstalten machte, ihr zu folgen, drückte sie ihn an den Schultern mit sanf-ter Gewalt wieder zurück.
\"Du bleibst liegen.\"

\"Ahm...\"

Rei ging in die Küche, griff sich im Vorbeigehen ihre Bluse vom Vortag, die immer noch über der Stuhllehne hing und zog sie sich über.

Shinji streckte sich erst einmal.
Er konnte seine Beine immer noch spüren, die Aktionen des letzten Tages steckten ihm immer noch in den Knochen.
Wenn er nicht derart in die Pedalen getreten wäre... wenn er nicht vor Rei-chan mit seinen Radfahrkünsten hätte angeben wollen... dann wären sie zwar zur letzten Prüfung zu spät ge-kommen, aber immerhin wäre er in der Lage gewesen, die Treppen viel besser zu bewältigen... und Rei-chan hätte ihn nicht tragen müssen... Gott, war das peinlich gewesen, als er aufgewacht war und erkannt hatte, daß sie ihn huckepack trug... aber stark war sie schon...
Er setzte sich auf, stellte fest, daß er nur seine Unterhose trug, konnte sich gar nicht daran erin-nern, seine Sache am gestrigen Abend noch ausgezogen zu haben. Auf der anderen Seite konn-te er sich an einige Dinge nicht mehr erinnern, so war der Abstieg in die Geofront nur eine An-einanderreihung von verschwommenen Bildern und wurde die Erinnerung an den Kampf gegen den Engel von dem großen Feuerball überlagert, in den die Riesenspinne sich verwandelt hatte.
Mit beiden Händen massierte er seine immer noch schmerzenden Waden.
Sein Rad stand immer noch an der Schule... aber da würde es wohl nicht wegkommen... er konnte es im Laufe des Tages holen...

Rei kam zurück, trug ein Tablett, auf dem sich Toastscheiben, Saft und verschiedener Brotbe-lag befand, hauptsächlich verschiedene Marmeladen in kleinen Schälchen.
\"Rutsch zur Seite\", bat sie leise, setzte sich dann im Schneidersitz auf das Bett und stellte das Tablett zwischen ihn und sich.

Shinji lächelte, vergaß fürs erste seine Waden und sein Fahrrad.
Frühstück im Bett, auf was für Ideen Rei-chan doch kam...

\"Fehlt etwas?\" fragte sie.

\"Nein... nein, das... uh, das sieht perfekt aus.\"
Genau wie sie...
Sein Blick wanderte von dem Tablett zu ihr weiter, über ihre, im Vergleich zu seinen, kleinen Füße, ihre langen hellen Beine... blieb an dem weißen Stoff ihres Höschens hängen, der zwi-schen ihren Schenkeln hindurchschimmerte...
Rasch riß er sich von dem Anblick los, schluckte schwer.
Er hatte sie doch in den letzten Wochen oft genug in ihrer Unterwäsche gesehen, seit es derar-tig heiß draußen - und damit auch in der Wohnung - war, verzichtete sie doch sogar auf ein Nachthemd und schlief in BH und Höschen an seiner Seite... warum erregte ihn dann jetzt ge-rade dieser Anblick so...
Shinji verlagerte seine Körperhaltung so, daß sie nicht sehen konnte, was in seiner Lendenge-gend vor sich ging, beugte sich dabei nach vorn.

\"Dann solltest du essen.\"

\"Ahm, ja, du hast recht.\"
So gut es ihm möglich war, ohne eine kompromittierende Körperhaltung anzunehmen, nahm er eine Toastscheibe und bestrich sie mit Konfitüre, beobachtete dann, wie Rei an ihrer Toast-scheibe knabberte.
Manchmal aß sie wie ein Mäuschen... dann schien Rei-chan den Augenblick besonders zu ge-nießen, schien ihn absichtlich hinausdehnen zu wollen.
In diesem Moment hätte er auch gern an etwas geknabbert, wobei ihm definitiv nicht Toastbrot in den Sinn kam...
Wie sollte das bloß enden... seit Wochen übte er sich in äußerster Zurückhaltung, sogar in sei-nen Gedanken... und jetzt brach alles wieder durch... und jetzt aufzuspringen und kalt zu du-schen würde bei ihr Unverständnis auslösen... und Fragen, bei deren Beantwortung er wahr-scheinlich einfach vor Scham sterben könnte...

\"Shinji-kun, stimmt etwas nicht mit dir?\"
Rei betrachtete ihn mit Besorgnis im Blick. Shinji-kun verhielt sich merkwürdig, seiner Körperhaltung nach hatte er möglicherweise Schmerzen... und wie er die Lippen zusammen-preßte...

\"Nein, nein, alles ist bestens... ahm...\"

Sie legte ihren Toast auf das Tablett, schob dieses zur Seite und setzte sich neben ihn, legte ihm zögerlich den Arm um die Schultern.
\"Shinji-kun, du verhältst dich... anders...\"

\"Ich... ahm, Rei... es ist nur... also... ich weiß nicht... ob es eine so gute Idee ist... wenn wir... ahm... wenn wir weiterhin in einem Bett schlafen...\"

\"Warum nicht?\"
Hatte sie etwas getan, das diese Ansicht bei ihm geweckt hatte? Oder war ihm das Bett viel-leicht zu klein?

\"Nein, nur... uh... ich...\"
Wie sollte er ihr das nur erklären... Ein \'ich bin rattenscharf auf dich\', wie es vielleicht Toji ausgedrückt hätte, kam nicht in Frage... und eigentlich wollte er sie auch weiterhin nachts in seinen Armen halten, wollte weiterhin morgens in dem Wissen aufwachen, daß sie ihm nahe war... er hatte nur Angst, daß sie abgestoßen sein würde, wenn sie erkannte, daß er mehr für sie verspürte als nur Freundschaft...
Der Blick ihrer scharlachroten Augen bohrte sich inquisitorisch in die seinen.
\"Rei, ich... ich mag dich... ich mag dich sogar sehr... und ich... ahm... ich möchte nicht, daß du... uh... einen falschen Eindruck von mir erhältst... uhm... die letzten Wochen... ja... also... die letzten Wochen haben wir hier zusammengelebt fast wie... uhm... Bruder und Schwester... und... ähm... aber ich...\"
Ogottogottogottogottogott...

\"Shinji-kun, was möchtest du mir sagen?\"
Ihre äußere Ruhe verriet nicht, was sich in ihr abspielte, verriet nicht die Verwirrung, die sie verspürte. Wollte Shinji-kun ihr mitteilen, daß er in ihr nicht mehr als eine Schwester sah, daß seine Gefühle für sie nicht weitreichender waren? Daß er ihre Gefühle für ihn nicht erwiderte... Gefühle, über die sie nie mit ihm gesprochen hatte, Gefühle, die sie sich selbst nur in den dun-kelsten Stunden der Nacht eingestehen konnte, wenn er ruhig neben ihr schlief und nicht beo-bachten konnte, wie sehr sie mit sich haderte?

\"Rei... uhm... vor Wochen hatte ich dir gesagt... uh... ich wolle dir nicht zu nahe treten... und... ahm... weil... du und ich... ich meine, wir sind weder Blutsverwandte, noch fühle ich für dich wie für eine Schwester... und... ah... du bist immer so kontrolliert...\"

\"Was empfindest du dann für mich?\"

\"Ich glaube... ich liebe dich...\"
Shinji verkrampfte sich, bereitete sich darauf vor, daß sie den Arm von seinen Schultern nahm, bereitete sich auf die Kälte und Leere vor, die ohne sie von seinem Herzen Besitz ergreifen würde.

Rei schloß die Augen.
Drei Worte... drei Worte, nach denen sie sich gesehnt hatte, die noch niemand zu ihr gesagt hatte... drei Worte... und sie wußte genau, wie er sie meinte, nicht als Bestätigung geschwister-licher Zuneigung oder so wie vielleicht ein Kind zu seinen Eltern sagte, daß es sie liebte, son-dern auf die urwesentlichste Art, wie man diese Worte meinen konnte.
Sie lächelte.
\"Ich weiß...\" flüsterte sie leise in sein Ohr und umarmte ihn. \"Ich weiß...\"
Ja, sie wußte es, denn plötzlich ergab alles einen Sinn, setzte sich das Puzzle wie von selbst vor ihren Augen zusammen, erklärte auch seine seltsame Körperhaltung.

\"Du weißt...?\"

\"Ja. Und jetzt solltest du gehen und rasch eine eiskalte Dusche nehmen, damit wir bald weiter-frühstücken können.\"

\"Uh...\"
Er lief knallrot an, starrte sie entsetzt an, daß seine Augen fast aus den Höhlen traten.
\"Das... das...\"

\"Das ist eine rein körperlich-hormonelle Reaktion des männlichen Geschlechtes auf die Gegen-wart eines kompatiblen weiblichen Wesen\", dozierte sie. Das wußte sie doch alles längst aus den Biologiebüchern...
Rei rutschte zur Seite, so daß er an ihr vorbei das Bett verlassen konnte.

\"Und... ah... das... uh... stört dich nicht?\" preßte er hervor, während er sich an ihr vorbeischob, sorgsam darauf bedacht, sich stets bedeckt zu halten.

\"Es ist eine natürliche Reaktion. Es stört mich auch nicht, daß du atmest.\"

\"Ahm...\"
Von dieser Warte aus hatte er das auch noch nicht betrachtet... allerdings mußte wohl schon jemand wie Rei-chan sich mit reiner Logik mit diesem Thema auseinandersetzen, um solche Schlußfolgerungen ziehen zu können...
\"Ich... ich bin gleich wieder zurück...\"
Er bückte sich noch rasch und hob seine Hose auf, die ordentlich zusammengelegt auf dem Bürostuhl neben dem Bett lag, hastete dann in die Küche und ins Bad.

Rei runzelte die Stirn.
Warum machte er nur deswegen einen solchen Aufstand? Männer...


*** NGE ***


Gute fünf Minuten später kam Shinji zurück, trug jetzt auch seine Hosen.
Seine Haut glänzte noch naß, der Anblick ließ Reis Herz schneller schlagen.
Hormonelle Reaktion... es war nur eine hormonelle Reaktion...

\"Ich... ahm... also... Rei... du bist nicht irgendwie... böse?\"

\"Nein, Shinji-kun, ich habe keinen Grund dazu. Du hast nichts getan, das mich verletzen könn-te.\"

\"Dann... ähm... können wir weiterfrühstücken?\"

\"Gern.\"

Shinji rutschte wieder auf das Bett. Er fühlte sich um einiges ruhiger, auch wenn er innerlich noch richtig schlotterte. Sogar seine Waden schienen weniger zu schmerzen.
\"Also, uh... ja, hm... du hattest gestern gesagt, du würdest... ähm... mit mir zum Abschlußtanz gehen? Oder... ahm... habe ich das nur geträumt?\" Er lächelte verlegen. \"Ich kann mich an ge-stern kaum... uhm... erinnern, weiß du?\"

Rei zögerte mit einer Antwort.
Sie konnte nicht tanzen... sie hatte nicht einmal ein Kleid... wenn sie mit Shinji-kun zu dem Ab-schlußtanz ging, würde sie seine Erwartungen nicht erfüllen können... und warum war es ihr plötzlich peinlich, ihm ihr Defizit einzugestehen?
Seine Aussage ließ ihr einen Ausweg offen... sie brauchte doch nur zu sagen, er würde sich ir-ren... aber das wäre eine Lüge, ein Betrug...
\"Shinji-kun, du hast dich nicht geirrt. Ich werde mit dir nächste Woche zu dem Abschlußtanz gehen. Aber ich weiß nicht, ob ich deine Erwartungen befriedigen kann.\"

\"Meine... uh... Erwartungen? Welche Erwartungen denn?\"

\"Ich... ich bin keine gute Tänzerin.\"
Das klang etwas besser als zu erklären, daß sie überhaupt nicht tanzen konnte. Vielleicht ver-stand er ja...

Shinji lachte.
\"Als wir es mit diesem Zwillingsengel Isil... Isril... ah...\"

\"Israfel.\"

\"Äh, ja... also, als wir es mit diesem... uhm... Israfel zu tun hatten, da... ähm... da hatte ich ei-nen ganz anderen Eindruck... ahm...\"

\"Dann ist es immer noch dein Wunsch, daß ich dich begleite?\"

\"Uhm... ja... aber nur... nur, wenn du es auch möchtest... ich kann dich ja nicht zwingen...\"

\"Du könntest zu Schaden kommen, weil ich dir auf die Zehen trete.\"

\"Also... ahm... ich bin auch kein... äh... begnadeter Tänzer... uhm... und wenn du darüber hin-wegsehen kannst... und über meine anderen Fehler... ahm... dann kannst du mir meinetwegen den ganzen Abend auf den Zehen stehen.\"
Er schloß seinen Satz mit einem breiten Lächeln.

Rei nickte.
Die Fehler des anderen zu akzeptieren... eines der Dinge, auf die es laut Hikari in jeder Bezie-hung ankam... Also hatte sie eine Woche Zeit, um sich auf den Abend des Abschlußtanzes vor-zubereiten, um Shinji-kun eine so gute Partnerin wie möglich zu sein...


*** NGE ***


Für den Nachmittag hatte Ritsuko Akagi für Rei Synchrontests angeordnet, um zu überprüfen, ob die Aktivierung der EVAs am Vortag ohne Unterstützung der MAGI irgendwelche Proble-me im System verursacht hatte, die anderen beiden Piloten würden in den folgenden Tagen an die Reihe kommen.

Shinji begleitete Rei bis zur Bahnstation, von der aus sie in die Geofront hinabfuhr.
In der Bahnstation standen sie lange vor den geschlossenen Türen des Aufzuges, da sich die Kabine gerade unten befand und gute fünf Minuten für die Fahrt nach oben benötigte.

\"Uh... fünf Minuten... und wir sind gestern stundenlang Treppen gestiegen...\"

\"Die Aufzugskabine bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit, die Beschleunigung wie auch der Abbremsvorgang werden aber jeweils sehr sanft eingeleitet.\"

\"Ähm, ja, soetwas hatte ich mir schon... uhm... gedacht... äh... naja, eigentlich nicht wirklich...\" gestand er und sah sich verlegen um.

\"Shinji-kun?\"

\"Uhm... ich frage mich immer noch... ahm... was ich getan habe, um soviel Glück zu verdie-nen...\" flüsterte er leise.

\"Glück?\"

\"Ja...\" Er nahm ihre Hände, drückte sie sanft, fuhr zugleich streichelnd mit den Daumen über ihre Handrücken. \"Das Glück, dich getroffen zu haben...\"

Rei wurde rot.
\"Shinji-kun...\"

\"Uhm...\"
Jetzt hatte er sie in Verlegenheit gebracht... Rei-chan war derart tolerant und verständnisvoll und er brachte sie in Verlegenheit... er hätte sich selbst in den Hintern beißen können! Warum tat er nur immer wieder soetwas?

\"... das ist das zweitnetteste, was mir bisher jemand gesagt hat.\" sagte sie leise und lächelte scheu.

Hinter ihnen öffneten sich die Aufzugstüren. Zwei Männer in Technikeroverall verließen den Lift.

\"Ich muß los.\"

\"Ja, Rei-chan... bis heute abend...\"
Er ließ ihre Hände los, fühlte wie ihre Finger sich nur widerwillig von den seinen zu lösen schienen, wartete, bis sie die Liftkabine betreten hatte und die Türen sich schlossen.


*** NGE ***


Der Schulhof der Tokio-3-High war menschenleer, dasselbe galt für den Fahrradschuppen, ne-ben dem Shinji sein Rad am Vortage angekettet hatte. Das Fahrrad war noch da, was bei ihm ersteinmal einen Stein vom Herzen kullern ließ. Dann sah er die Bescherung - beide Reifen waren platt!
Shinji verzog das Gesicht. Er hatte doch noch nie einen Fahrradschlauch geflickt. Vielleicht wußte Toji ja, wie das ging, mit dem wollte er sich ja noch treffen, ... aber warum waren beide Reifen platt?
Jemand hatte die Ventile geöffnet und die Luft abgelassen...
Shinji atmete auf, schließlich hatte er eine Luftpumpe für genau solche Fälle. Und die Ventil-kappen waren auch noch da. Also hatte ihm jemand nur einen dummen Streich gespielt. Und einen begründeten Verdacht, um wen es sich bei diesem Jemand handeln konnte, hatte er auch schon, als er ein feuerrotes langes Haar in den Radspeichen hängend fand...
Er schüttelte nur den Kopf. Wenn es wirklich Asuka gewesen war, dann hatte irgendjemand wirklich vergessen, ihr Respekt für die Sachen anderer einzutrichtern... erst sein SDAT-Player, jetzt das hier. Aber wenigstens war der Schaden behebbar.
Shinji drehte sein Rad um, bockte es auf Lenker und Sitz auf und begann, die Reifen aufzu-pumpen.
Seltsam... den SDAT-Player hatte er fast schon vergessen... das hieß doch, daß er ihn gar nicht benötigte, daß er die Ohrstecker und die Musik in den letzten Wochen gar nicht gebraucht hat-te, um sich von der restlichen Welt abzuschotten... warum hätte er auch versuchen sollen, eine Barriere zwischen sich und Rei-chan zu errichten...
Nach getaner Arbeit schwang Shinji sich in den Sattel und fuhr los.
Er hatte eine Verabredung mit Toji, der ihm seine Schwester Mari, welche immer noch im Krankenhaus lag, vorstellen wollte. Unterwegs kaufte er einen kleinen Strauß Blumen, sicher war es im Krankenhaus wirklich trostlos, dann konnte Tojis Schwester doch jede Aufmunte-rung gebrauchen... die Kleine war seit dem Tag seines Eintreffens in Tokio-3 gelähmt, ein Trümmerstück hatte sie unter sich begraben und ihre Wirbelsäule verletzt gehabt... Eigentlich hatte Shinji ihr schon viel eher einen Krankenbesuch abstatten wollen, doch irgendwie war im-mer etwas dazwischengekommen...


*** NGE ***


Im Testcenter hatte Doktor Akagi die angesetzten Tests verhältnismäßig schnell beendet. Zu-mindest EVA-00 hatte der harte Start der Systeme keinen Schaden zugefügt. Sie las die Aus-wertung des Synchronisationstests und korrigierte Reis Platz in der Rangliste der Piloten ent-sprechend, bald würde sie mit Shinji gleichaufgeschlossen haben...
Äußerlich gab Ritsuko sich ruhig und professionell, doch eigentlich hatte sie noch lange nicht verdaut, was sie in der letzten Nacht erfahren hatte.
Daß Gendo die kleine Rei ihrer Mutter etwas hatte ausrichten lassen, das diese zu einer solchen Wahnsinnstat veranlaßt hatte...
Ob Rei... diese Rei, die Rei, welche gerade den EntryPlug verließ, vielleicht mehr wußte? Ganz auszuschließen war es nicht, aber auch nicht gerade wahrscheinlich. Aber wenigstens wußte Ritsuko jetzt, woher die Information stammte, daß bei einer Aktivierung eines neuen Körpers ein Teil der Erinnerung des First Children verloren ging... weil Gendo diese Erfahrung selbst gemacht hatte... wieviel hatte Rei wohl damals vergessen? Nur die Umstände ihres Todes? Vielleicht den ganzen entsprechenden Tag? Oder mehr? - Immerhin hatte der jetzige Körper mehrere Jahre in einer Reifungskammer verbracht...
Sollte sie sie vielleicht fragen? Und dann? Was, wenn Rei immer noch Gendo gegenüber so lo-yal war, wie er es ihr eingetrichtert hatte? Dann würde sie es ihm berichten, sobald er zurück-kehrte... und dann würde er schon Mittel und Wege finden, die lästige Mitwisserin auszuschal-ten... Wenn sie doch nur jemanden hätte einweihen können... Maya würde das Geheimnis be-halten, aber zugleich würde sie ihre Assistentin in Gefahr bringen... Misato oder Kaji... viel-leicht...

Und als hätte Misato ihre Gedanken gelesen, betrat sie in dieser Sekunde den Kommandoraum des Testcenters.

\"Na, Ritsuko, ausgeschlafen?\"

\"Ja. Maya hat mir von deinen Überlegungen erzählt. Die MAGI haben die letzten beiden Engel übrigens nachträglich mit Namen ausgestattet: Iroul und Matriel.\"

\"Wer denkt sich nur solche Namen aus?\"

\"Wirf mal einen Blick in die Bibel, da gibt es noch hunderte solcher Namen.\"

\"Na, hoffentlich trifft das nicht auch auf unsere Gegner zu.\"

Fast hätte Ritsuko laut aufgeseufzt, fast hätte sie der Versuchung nachgegeben und die Skizze des Systema Sephiroth auf ihren Bildschirm geholt, welches die bisher bekämpften Engel mit ihren Namen nannte, sowie jene Gegner, die noch erscheinen würden. Aber damit hätte sie Mi-sato in Lebensgefahr gebracht, waren diese Daten doch geheim. Wenn ihre alte Freundin selbst die entsprechenden Schlußfolgerungen zog - gut. Wenn sie ihr allerdings dabei half, legte sie sich nur selbst die Schlinge um den Hals.
Inzwischen war Ritsuko soweit, daß sie nicht mehr wußte, wem sie vertrauen konnte und wer vielleicht Gendo Ikari Bericht erstattete.
\"Ja, hoffentlich\", murmelte sie dumpf.

\"Was machen die nächsten Serienmodelle? EVA-03 und -04 stehen meines Wissen kurz vor der Fertigstellung.\"

\"In den USA haben sie EVA-04 fast fertig, in den nächsten Tagen beginnen sie mit den Akti-vierungstests. Mich interessieren vor allem die Daten von dem künstlichen S2-Organ, das der Einheit eingesetzt wurde.\"

\"Ist ein Nachbau wirklich gelungen?\"

\"Cloning, Misato, nicht Nachbau.\"

\"Ja, Frau Oberlehrerin. Also?\"

\"Den Daten nach handelt es sich um eine exakte Kopie des Originals, welches wir ja noch hier im Hauptquartier haben.\"

\"Hoffentlich auf Eis, sonst dürfte es jetzt ziemlich stinken.\"

\"Natürlich haben wir es eingefroren... in der Halle des alten Test-Areals, wo wir Shamshiel se-ziert haben, hält sich übrigens immer noch der Verwesungsgeruch.\"

\"Na, toll. Ein Ort weniger im Hauptquartier, wo man hingehen kann\", erklärte Misato sarkas-tisch.

\"Ich warte auf die Daten, um sie bei Einheit-03 gegebenenfalls anwenden zu können. Und dann wäre vielleicht auch ein Update der drei anderen Einheit hier möglich.\"

\"Es würde auf alle Fälle den Aktionsradius beträchtlich erweitern, wenn die EVAs nicht mehr auf die Stromversorgungskabel angewiesen wären.\"

\"Genau.\"

\"Habt ihr schon Piloten für 03 und 04?\"

\"In den USA gibt es einen Jungen namens Kaworu Nagisa, Albino, Vollwaise, von der Bega-bung her etwas schlechter als Asuka.\"

\"Das wußte ich gar nicht... hm, von Asuka habe ich auch erst recht spät erfahren...\"

\"Das MARDUK-Institut wählt die Piloten aus und sorgt für die Ausbildung, die Berichte ge-hen über den Schreibtisch des Kommandanten und wenn Ikari gnädig ist, bekomme ich sie auch irgendwann zu Gesicht.\"

\"Dieses MARDUK-Institut, ist wohl ein großer Laden, was?\"

\"Es geht... für Einheit-03 steht übrigens noch kein Pilot fest, aber wir haben ein paar Kandida-ten in der engeren Auswahl - nein, Misato, mehr erfährst du nicht von mir.\"

\"Okay, okay, will dir ja kein Loch in den Bauch fragen. - Hm, ich sehe, daß Reis Synchratio wieder gestiegen ist...\"

\"Sie paßt sich an Shinjis Werte an, wie ich bereits vermutet habe.\"

\"Wie geht das denn?\"

\"Ich habe schon eine Theorie, die ich gern bei einem gleichzeitigen Test der beiden überprüfen würde...\"

\"Schaffen das die MAGI denn? Bisher hast du doch immer nur einen getestet.\"

\"Die MAGI schaffen auch alle drei oder sogar vier oder fünf, aber bei einer einzelnen Testper-son weiß ich, daß die Werte auch exakt sind. Und außerdem habe ich gerade zusätzlichen Ar-beitsspeicher angefordert. Werkhalle sieben sollte groß genug sein für das, was mir vor-schwebt.\"

\"Ritsuko, paß nur auf, daß die MAGI nicht zu klug werden, sonst dürfen wir uns nach den En-geln mit eroberungswütigen Computern und Robotern herumschlagen.\"

\"Die könnte ich wenigstens umprogrammieren...\"

\"Ha! - Aber \'was anderes... streich bitte alle geplanten Tests in einer Woche, die Schule der Kinder hält einen Abschlußtanz zum Schuljahresende ab.\"

\"Naja, weil du es bist - und weil der Kommandant immer noch nicht zurückgekehrt ist.\"

\"Ohne ihn ist es hier viel ruhiger - und um die Engel zu besiegen, brauchen wir ihn auch nicht wirklich... war nur so ein Gedanke...\"

Es klopfte an der Tür zum Korridor.

\"Ja?\" rief Ritsuko.

Rei trat ein, verharrte an der Tür.

Misato und Ritsuko wechselten einen fragenden Blick.
Normalerweise klopfte das blauhaarige Mädchen doch nicht an, jedenfalls nicht im Hauptquar-tier...
\"Ja, Rei, was gibt es denn?\" fragte Misato.

\"Major, Doktor, ich habe ein Problem.\"

\"Oh.\" sagte Akagi überrascht. \"Worum geht es denn?\"

Rei trat näher.
\"Shinji-kun hat mich gefragt, ob ich ihn zum Abschlußtanz begleite.\"

\"Ja, klar, ich weiß, das hatten wir doch gestern besprochen.\"
Misato lächelte, versuchte die dunklen Gedanken zu vertreiben, die sich mit Asukas Verhalten beschäftigten.
\"Und?\"

\"Ich besitze keine passende Kleidung für einen solchen Anlaß.\"

\"Hm...\"
Wieder sahen sich die beiden Frauen an.
Misato schnipste mit den Fingern.
\"Ich helfe dir. Wir fahren zusammen in die Stadt und dann kaufen wir dir ein schickes Kleid, daß Shinji-kun Augen machen wird!\"

Ritsuko räusperte sich.
\"Aber geh mit ihr in ein richtiges Geschäft, Misato, für das, was dir möglicherweise vor-schwebt, ist sie noch etwas jung...\"

\"Ah, Ritsuko, was denkst du denn von mir?\"

\"Nur das schlechteste, weißt du doch.\"

\"Rei, hör nicht auf sie!\"

\"Ja, Major.\"

Akagi seufzte.
\"Und jetzt nutzt du auch noch deinen militärischen Rang aus!\"

\"Major...\"

\"Ja, Rei, was gibt es denn noch?\"

\"Ich kann auch nicht tanzen.\"

\"Ups.\" murmelte Ritsuko.

Misato kratzte sich am Kinn.
\"Also, das ist schwieriger... aber eigentlich hast du doch eine recht gute Figur gemacht, als Shinji und du für den Kampf gegen Israfel trainiert habt.\"

\"So ähnlich hat Shinji-kun es auch ausgedrückt.\"

\"Ähm, ja... hm... aber ich verstehe deine Sorge schon, du willst dich nicht blamieren... hm...\"

Ritsuko seufzte erneut.
\"Dann werde ich das mal in die Hand nehmen... - Maya!\"

Die gerufene erschien im Durchgang zu einem Nebenraum.
\"Ja, Sempai?\"

\"Sag mal, kannst du tanzen?\"

\"Tanzen, Sempai? Ich... naja, ich hatte einen Tanzkurs belegt... für meinen Schulabschlußball.\"

\"Und, warst du gut?\"

\"Ähm, ja. Zweitbeste.\"
Maya wurde rot, wobei nicht klar war, ob es mit dem Thema zusammenhing, der Tatsache daß sie zweitbeste ihre Jahrganges gewesen war oder daß sie nur zweitbeste gewesen war.

\"Sehr gut, wir haben hier nämlich ein kleines Problem. Reis Schule veranstaltet nächste Woche einen Abschlußtanz und sie ist ein wenig in Sorge, daß ihr Können nicht ausreicht.\"

\"Wirklich? Uhm, ich meine natürlich, daß ich mir das gar nicht vorstellen kann, das packst du schon, Rei.\" richtete Maya ein paar aufmunternde Worte an das Mädchen mit den roten Au-gen. \"Ich müßte wieder zurück an die Arbeit...\"

\"Ach, das kann warten. Könntest du Rei ein paar Tanzschritte zeigen?\"

\"Aber... aber ich bin wirklich nicht so gut... und soetwas lernt man auch nicht an einem Tag...\"

\"Notfalls haben wir eine Woche.\"

\"Aber, Sempai, auch nicht in einer Woche...\"

\"Rei lernt schnell. Und du hast die richtige Größe, sonst würde Major Katsuragi das schon er-ledigen... aber die würde ihr wahrscheinlich nur irgendwelche wilden Diskotänze beibringen.\"

\"Du bist doch nur neidisch, weil ich soetwas kann!\" brummte Misato.

\"Worauf soll ich neidisch sein? Daß du zu Verrenkungen imstande bist, die andere Leute ins Krankenhaus bringen würden?\"

\"Also, das...\"

Maya Ibuki machte ein verzweifeltes Gesicht. Und als sie Rei ansah, vermeinte sie, in deren Augen genau dieselbe Verzweiflung zu sehen, die sie selbst gerade fühlte.

\"Gut, Rei, also, wir fangen mit ein paar einfachen Schrittfolgen an...\"


*** NGE ***


Etwa zur gleichen Zeit verließen Shinji, Toji und Hikari das unterirdisch gelegene Krankenhaus von Tokio-3. Die Tatsache, daß die Krankenzimmer nicht einmal Fenster hatten, durch welche Sonnenlicht hineinfallen konnte, hatte etwas sehr deprimierendes für Shinji. Aber noch depri-mierender war es für ihn, daß Tojis Schwester Mari, ein neunjähriges, sehr aufgewecktes und höfliches Mädchen - man konnte glatt bezweifeln, daß sie mit Toji verwandt war - vielleicht nie wieder würde laufen können, weil die notwendige Operation einfach zu teuer war. Shinji hatte sogar überlegt, einen größeren Teil seiner Bezüge als Pilot zur Finanzierung zur Verfügung zu stellen, war aber zu dem Schluß gekommen, daß selbst ein komplettes Jahresgehalt nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein würde.
Toji hatte sich in Gegenwart seiner Schwester ganz anders verhalten, ernster, erwachsener, ganz der große Bruder. Mari schien Hikari zu mögen, auch Shinji gegenüber war sie freundlich gewesen, hatte sich sehr über den Besuch gefreut, auch nachdem Shinji ihr gebeichtet hatte, daß er der Pilot des EVAs gewesen war. Sie hatte ihn nur versprechen lassen, sie bald wieder einmal zu besuchen.
Im Anschluß an den Krankenhausbesuch machten die drei einen Bummel durch die Geschäfte, Hikari hatte sich bei Toji eingehakt, dessen umwölkte Miene sich langsam wieder aufklärte, ihm war klar anzusehen, daß er sich den Zustand seiner kleinen Schwester sehr zu Herzen nahm.
Eigentlich hatte Shinji sich mit den beiden über den bevorstehenden Abschlußtanz unterhalten wollen, doch dies erschien ihm überhaupt nicht mehr passend, zu frisch war noch die Erinne-rung an das kleine Mädchen, das ihnen vom Rollstuhl aus den Gang hinunter hinterhergewun-ken hatte.

\"Danke, Shinji, daß du mitgekommen bist\", murmelte Toji plötzlich. \"Mari freut sich sehr über Besuch. Mein Vater und Opa sind sehr beschäftigt, sie fahren Extraschichten in den NERV-La-boratorien, um das Geld für die Operation zusammenzukratzen... ich habe jetzt in den Ferien auch einen Job als Aushilfe in einem Lokal... vielleicht schaffen wir es ja.\"

\"Toji, ich... uh... ich würde gerne helfen.\"

\"Nein, laß nur... außer... ich werde nicht soviel Zeit haben, meine Schwester zu besuchen. Schau mal ab und an bei ihr vorbei, okay?\"

\"Ja.\"

\"Gut. Und jetzt laß diese Leichenbittermiene, noch ist keiner gestorben. Also, wie läuft\'s mit dir und Ayanami?\"

\"Toji!\" protestierte Hikari. \"Du bringst Ikari-kun in Verlegenheit!\"

\"Und? Das ist für ihn doch nichts neues, oder, Kumpel?\"

\"Uh...\"
Wider Willen mußte Shinji lachen.
\"Wahrscheinlich nicht... Mit Rei... uhm... ja, also, es... uh... es läuft gut... ja... ähm...\"

\"Sollte es auch, wenn man bedenkt, daß ihr beide zusammenwohnt. Und, kocht sie gut?\"

\"Nun, ahm, eigentlich koche ich und...\"

\"Was? Also, ich muß dir sagen, Hikari ist eine Meisterköchin! Letzte Woche hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen und... oh, Mann, ich kann dir sagen...\"

\"Suzuhara!\"

\"Was denn? Ich schwärme Shinji doch nur von deinen Kochkünsten vor!\"

\"Ja, dann... mach weiter...\"
Hikari senkte den Blick.

\"Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen\", brummte Toji. \"Ich und meine große Klappe...\"

Sie lächelte ihn an.
\"Schon gut.\"

Ein wenig später - Hikari hatte sich von den beiden getrennt und war unter lauten Ermahnung, sie sollten ihr bloß nicht folgen, in der Damenbekleidungsabteilung eines Kaufhauses ver-schwunden - hockten die beiden neben dem Fuß einer Rolltreppe und warteten.

\"Ich glaube, ihr Vater mag mich\", erklärte Toji in Bezugnahme auf seinen zuvor abgebroche-nen Bericht. \"Kann ja wirklich nicht schaden, oder?\"

\"Ahm, nein, glaube ich auch nicht.\"

\"Eben. Also, Hikari... ach, ich habe keine Ahnung, was sie an mir findet... aber ich glaube, ich bin der größte Glückspilz der Welt.\"

Shinji grinste. Er konnte genau nachempfinden, was in Toji vorging.
\"Uh, sag mal... geht ihr beide zusammen nächste Woche zum Abschlußtanz?\"

\"Ja, klar doch. Mein alter Herr hat es sich nicht nehmen lassen, mir ein wenig Nachhilfe zu ge-ben, als er davon erfahren hat. Und du? Gehst du mit Ayanami hin?\"

Shinji nickte.
\"Es ist nur... uhm... ich weiß nicht, ob ich gut genug tanzen kann... Rei hat selbst Bedenken, aber sie ist sicher perfekt und...\"

\"Ah, komm, Ikari, das läuft schon. Richtig tanzen kann doch ohnehin nur die Abschlußklasse, weil die alle den Tanzkurs belegt haben. Mein Vater sagt, Rhythmusgefühl ist alles, dazu ein wenig Gewackel...\"

\"Deinen Optimismus möchte ich haben...\"

\"Na, Ayanami ist sicher auch keine Tanzweltmeisterin... aber, ganz ehrlich, ein bißchen Lam-penfieber habe ich auch, wäre wirklich peinlich, Hikari auf die Zehen zu treten...\"

\"Uhm, ja...\"

\"Was macht sie nur so lange? Frauen...\"


*** NGE ***


Als Shinji und Rei sich in der Wohnung wiedertrafen, gingen sie nicht auf das Gespräch, wel-ches sie am Morgen geführt hatten, weiter ein. Shinji fühlte sich gewaltig beklommen, als sie schließlich zu Bett gingen, doch die Anspannung löste sich, als sie sich wieder in seine Arme rollte, um dort friedlich und ruhig zu schlafen.

Die folgenden Tage fanden wieder im Wechsel Tests statt, bei denen Doktor Akagi endgültig feststellte, daß die EVAs keine Schäden genommen hatten, weder in der Hard-, noch in der Software.
Gendo Ikari war immer noch nicht nach Tokio-3 zurückgekehrt, jedenfalls hatte er sich weder blickenlassen, noch seine Ankunft bekanntgegeben.
Asuka führte immer noch im internen Vergleich der Synchronraten, während Shinji und Rei inzwischen fast gleich auf waren.
Maya Ibuki zeigte Rei weitere Tanzschritte unter den wachsamen Augen des Doktors und des Majors.
Und Ryoji Kaji bereitete sich auf seinen Ausflug ins TerminalDogma vor...


*** NGE ***


Erwachen...

Mit jedem Tag, der verging, erlangten die drei, die eins waren, mehr Bewußtheit, wurden sie sich mehr und mehr ihres Zustandes bewußt, streckten sie ihre geistigen Fühler immer weiter aus, untersuchten und analysierten sie die Daten, die ihnen zur Verfügung standen, gruben in den weitreichenden Speichern ihrer Erinnerung, erlangten mehr und mehr Wissen mit jeder Sekunde, die verstrich...

Wissen...

Erkennen...

Nachforschen...

Wer...

Wo...

Was...

Warum...


*** NGE ***


Endlich war der Tag des Abschlußtanzes gekommen, der Tag, den sowohl Shinji, als auch Rei nervös erwartet hatten. Die Zeit bis zum späten Nachmittag zog sich dahin wie zäher Kaugum-mi.
Shinji hatte bereits seinen Anzug, jenen, den er von Misato zum Geburtstag geschenkt bekom-men hatte, angezogen, er kam sich reichlich komisch darin vor, so steif und förmlich. Rei hatte ihm die Krawatte gebunden, jetzt saß sie in der Küche über ihrem kleinen Notizbuch, schien sich gar nicht fertigmachen zu wollen, während Shinji im Nebenzimmer hin- und hertigerte.
Worauf wartete Rei-chan nur?
Oder vielleicht wollte sie auch in ihrer Schuluniform gehen, sie hatte ja eigentlich gar keine an-deren Sachen... nun, in Shinjis Augen machte dies keinen Unterschied, eigentlich wollte er nur mit ihr zu dem Tanz gehen, sie in den Armen halten, mit ihr noch einmal über das Parkett schweben... als sie das letzte Mal zusammen getanzt hatten, war die ganze Stadt ihr Tanzplatz gewesen...

Es klingelte an der Tür.

Shinji schrak zusammen, seit wann funktionierte denn die Türklingel wieder?!
\"Uh, ich mache auf...\"
Wer mochte das nur sein?

Rei kam aus der Küche, sah, daß Shinji-kun bereits an der Tür war und diese öffnete.

\"Ah, Misato...\"

\"Hallo, Shinji-kun!\" rief Misato fröhlich. Sie hatte eine große Plastiktüte in der Hand. \"Schick siehst du aus!\"

\"Major.\" begrüßte Rei ihren Gast.

\"Ah, Rei, ich bin nicht im Dienst!\" erklärte Misato nachdrücklich \"So, Shinji-kun, jetzt muß ich dich bitten, draußen zu warten!\"

\"Uhm, warum denn?\"

Misato zwinkerte.
\"Weil Rei sich fertigmachen muß für euren Ball. Und du bist doch nicht plötzlich zum Spanner geworden, oder?\"

\"Ah, nein!\"

\"Na, also. Hier, meine Autoschlüssel, kannst im Wagen warten, ich fahre euch. - Aber nicht losfahren, ja?\"

\"Äh... Misato, sitzt Asuka im Wagen?\"

\"Nein, ich hatte eigentlich vor, euch beide in einem Stück bei eurer Schule abzuliefern. Asuka wollte laufen.\"

\"Sie kommt also auch?\" fragte Shinji mit einem Anflug von Panik.

\"Ja, sie hatte etwas gemurmelt, das klang, als wollte sie sich noch einen Begleiter einfangen.\"

\"Uhm...\"
Wen auch immer Asuka sich aussuchte, in Shinjis Augen war er ein ganz armes Schwein...

\"So, Shinji, und jetzt raus mit dir!\"

\"Äh, ja.\"
Er nahm die Schlüssel entgegen und verließ die Wohnung.


*** NGE ***


Shinji und Rei betraten die große Turnhalle der Schule, die zum Festsaal umdekoriert worden war. Rei hatte sich bei Shinji einhakt, als sie eintraten, folgte ihnen mehr als nur ein Paar Au-gen, wurde mehr als ein Gespräch unterbrochen.
Shinji verstand genau weshalb, er selbst hatte ebenfalls mehrfach hinsehen müssen, bis er sich sicher gewesen war, sich den Anblick nicht nur einzubilden, als Rei das Haus verlassen hatte und mit Misato auf dem Wagen zugekommen war.
Rei trug ein blaues Kleid, das perfekt zu ihrem Haar paßte, im Schulterbereich war der Stoff von einem zarten, fast durchsichtigen Blau, welches dann allmählich dunkler wurde, so daß der Ansatz ihrer Brüste gerade noch erahnt werden konnte, an den Beinen wurde der Stoffe wieder heller, von Dunkelblau bis schließlich beinahe wieder durchsichtig, wies an der rechten Seite ei-nen Schlitz auf, durch den beim Gehen ab und an ihr Bein aufblitzte. Dazu trug sie ein Paar hellblauer Schuhe ohne nennenswerte Absätze, von Misato hatte sie ferner ein dünnes Arm-band erhalten, auf dem sich zahlreiche kleine rote Steine befanden, natürlich nur Glas und keine echten kleinen Rubine, die aber dennoch strahlend schimmerten. Außerdem trug sie ein kleines Kreuz um den Hals, das Misato ihr als Glücksbringer geschenkt hatte und welches ihren schlanken Hals besonders zur Geltung brachte.
Shinji schwebte im siebten Himmel, war derart hin und weg, daß er die ganze Fahrt über kein Wort herausgebracht hatte.

Rei fühlte sich ob der ungewohnten Kleidung unsicher, auch die Blicke, die vor allem einige der älteren Schüler ihr zuwarfen, verunsicherten sie. Sie war es nicht gewohnt, im Rampenlicht zu stehen und sie wünschte es sich auch nicht. Aber das war ein Opfer, welches sie für Shinji-kun zu bringen bereit war.

\"Hey, Ikari!\" rief Toji von der Seite und winkte ihnen zu. Neben ihm saß Hikari in einem schlichten hellen Kleid, während Toji anstelle seines üblichen Trainingsanzuges einen dunklen Anzug trug, der ihm in den Schultern etwas zu weit zu sein schien.
\"Schickes Teil, echt!\"
Dann betrachtete er Rei.
\"Sag mal, du bist es doch nicht wirklich, Ayanami, oder?\"

\"Wer sollte ich sonst sein, Mitschüler Suzuhara?\"

Toji grinste, zwinkerte Shinji zu und zeigte ihm die geballte Faust mit nach oben ausgestreck-tem Daumen, ehe er sich wieder seiner eigenen Begleitung zuwandte.

\"Uhm, ja, also... ähm... Rei...\" stotterte Shinji und grinste breit. \"Ich glaube, ich habe noch gar nicht... also mir hat es ja richtig die Sprache verschlagen... äh... ja... du siehst... einfach toll aus.\"

Rei nahm sein Kompliment mit einem Blinzeln zur Kenntnis, dann bildete sich langsam auf ih-ren Lippen ein Lächeln.

Sie standen eine ganze Weile mit Toji und Hikari zusammen, während sich langsam die Halle füllte und an einer Theke aus mehreren zusammengeschobenen Tischen erste Getränke ausge-geben wurden.

Dann betrat Asuka die Halle, sie trug ihr gelbes Sommerkleid mit passenden Schuhen und Schleife im Haar. An ihrem Arm hing Kensuke und ließ sich willig mitschleifen, einen zufrie-den-glasigen Ausdruck in den Augen.

Shinji und Toji sahen sich an.

\"Shinji, der rote Dämon hat Ken in seinen Klauen!\"

\"Ja... uhm... das sehe ich... armer Kensuke...\"

\"Seid ihr beide nicht ein bißchen unfair? Sicher hat Asuka auch ihre guten Seiten\", versuchte Hikari die beiden zu beruhigen.

\"Nenne mir eine, Hikari.\" sagte Rei.

\"Naja... äh...\"

\"Wir müssen ihn befreien!\" beschloß Toji.

\"Und... äh... wie?\"

\"Also, Shinji, paß auf! Du gehst und holst deinen EVA...\"

\"Toji Suzuhara, du spinnst doch!\" kam es von seiner Begleiterin. \"Kensuke sieht doch ganz zu-frieden aus!\"

\"Ja, noch... außerdem, wer weiß, was sie mit ihm gemacht hat, vielleicht hat sie ihm eins mit dem Knüppel übergezogen...\"

Vielleicht hat sie sich auch nur kurz vorgebeugt und Kensuke einen Blick auf ihre Oberweite erlaubt, schoß es Shinji durch den Kopf.

\"Das kannst du doch gar nicht wissen. Gönn ihnen doch den Abend.\"

\"Na gut, Hikari, na gut, weil du es sagst - aber ich behalte sie im Auge!\"

\"In erster Linie solltest du mich im Auge behalten, oder das ist der erste und letzte Tanz zu dem ich mit dir gehe!\"

Shinji warf einen letzten besorgten Blick auf Kensuke, der gerade mit breitem Grinsen zur The-ke dackelte, um für sich und Asuka etwas zu trinken zu holen. Toji nutzte die Gelegenheit, um zu ihm zu laufen und ihn anzusprechen, kehrte aber mit bedrückter Miene zurück.

\"Gehirnwäsche sage ich euch...\"

Shinji wandte sich Rei zu, mußte erst einmal tief Luft holen, um über ihren Anblick soweit hin-wegzukommen, daß er sie ansprechen konnte.
\"Uhm... Möchtest du... ah... tanzen?\"

\"Ja.\"
Sie reichte ihm die Hand, ließ sich von ihm auf die Tanzfläche in der Mitte der Halle führen, wo bereits einige Paare zugange waren.

Zögernd plazierte er eine Hand auf ihrer Hüfte, nahm die ihre in die andere und ließ sich von der Musik leiten.
Fast ohne Pause tanzten sie den ganzen Abend, bemerkten gar nicht, wie die Zeit verging, wechselten bei einer Änderung der Musik fast automatisch in einen entsprechenden Rhythmus und traten einander kein einziges Mal auf die Zehen, so als wüßten ihre Füße stets genau, wo die Füße des anderen waren, während sie einander in die Augen sahen und alles um sich herum vergaßen...
9. Zwischenspiel:

Gendo Ikari hockte hinter seinem mächtigen Schreibtisch, hielt die linke Hand mit der rechten umklammert.
Weiße Wölkchen stiegen von seinen Lippen, wenn er ausatmete.
Es war kalt in dem riesigen Büro, obwohl die Heizung lief.
Doch jede Wärme, welche abgeben wurde, wurde rasend schnell absorbiert, wurde aufgenom-men von dem Ding in seiner Hand, welches langsam erwachte, welches der Umgebung die Wärme entzog und sich an der Energie näherte.
Ikari preßte die Lippen zusammen.
Es hatte kurz, nachdem er Sekandens Hinterhofpraxis verlassen hatte, begonnen, zuerst war es nur ein leichten Prickeln unter der Haut gewesen, dann ein Kitzeln. Und dann schien seine Hand in Flammen zu stehen, als ADAM sich mit ihm verband.
Der Umwandlungsprozeß hatte begonnen. Und nichts konnte ihn wieder rückgängig machen, Ikari war sich nicht einmal sicher, ob es geholfen hätte, hätte er sich die Hand oder gar den ganzen Arm abgetrennt, oder ob der Engel sich nicht schon weiter in ihm ausgebreitet hat-te.
Noch war ADAM nicht völlig erwacht, noch befand der Vater der Menschheit sich in einem Dämmerzustand. Gendo Ikari beabsichtigte, daß es auch dabei blieb.
Sein linker Ärmel war bis über den Ellenbogen hochgeschoben, oberhalb der Gelenkbeuge hat-te Ikari den Arm abgebunden.
Vor ihm auf dem Tisch lag ein Spritzenbesteck, daneben stand ein unbeschriftetes Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit. Ikari nahm eine der Spritzen, zog sie auf. Es war beschwerlich und ungewohnt, da er seine linke Hand kaum bewegen konnte, nur die äußersten Gelenke seiner Finger ließen sich gänzlich durchdrücken und biegen.
Und ihm war kalt, denn zuallererst hatte der Engel sich an seiner Körperwärme gelabt, hatte dies erst beendet, als Ikaris Körpertemperatur in einen bedenklichen Bereich gefallen war.
Gendo plazierte die Nadel in der Beuge seines Ellenbogens, stach sie durch die Haut, injizierte sich die klare Flüssigkeit. Es war eine Droge, dieselbe Droge, welche LILITH jede Stunde li-terweise verabreicht wurde, um den Zweiten Engel ruhigzustellen - und das wirkte ja auch, sonst hätte LILITH sich längst befreit und wäre von dem Kreuz herabgestiegen, an welches Ikari sie hatte nageln lassen. Daß auch verhindert wurde, daß ihre Beine sich regenerieren konnten, hielt sie weiter beschäftigt und sicherte zugleich den Nachschub an LCL...
Ikari schloß die Augen, lehnte sich zurück, während die Droge flüssigem Feuer durch seine Adern strömte. Zugleich ließ die Kälte, welche er verspürte, nach.
Es funktionierte...
Fragte sich nur, wie lange... nicht daß er befürchtete, ADAM könnte gegen das Mittel resistent werden, seine Sorge galt vielmehr möglichen Folgen der Droge für seine eigene Gesundheit. Bis zu dem Moment, an dem er mit der Macht ADAMs den Third Impact einleitete und die Tore des Himmels stürmte, um den Platz des Schöpfers einzunehmen, mußte sein Körper durchhalten...

Auch dafür hatte er NERV geschaffen und sich mit zuverlässigen Untergebenen umgeben, da-mit die Operation auch weiterlief, wenn er nicht vor Ort war, damit sie für ihn seinen Kreuzzug führten, andernfalls wären sie alle wertlos gewesen...
Fuyutsuki, dieser alte Narr... er glaubte wirklich, ihm ginge es darum, einen begrenzten Impact hervorzurufen, um Yuis Seele aus EVA-01 zu befreien... was für ein Gesicht hätte er wohl ge-macht, wenn er erfahren hätte, daß er, Gendo Ikari, selbst dafür gesorgt hatte, daß die von Ko-zo verehrte Yui bei dem ersten Testlauf des EntryPlug-Systems von EVA-01 verschlungen worden war, weil er alle Sicherheitssysteme abgeschaltet hatte... und wie erst hätte Fuyutsuki reagiert, wenn er ihm mitgeteilt hätte, daß dies seine Strafe für ihren Betrug gewesen war... da-für daß ihn hatte verlassen wollen, dafür, daß sie ihm ein Kind untergeschoben hatte, welches nicht seines war... und Fuyutsuki ahnte es nicht einmal...
Was ihn zu Shinji brachte, Yuis nutzlosem Sohn... weich, feige, seiner Beachtung nicht wert. Längst bereute er es, den Jungen geholt zu haben, er machte zuviele Schwierigkeiten... wenn Rei damals doch nur einsatzfähig gewesen wäre... und danach hatte er ihn nicht einfach elimi-nieren lassen können, weil Shinji zu vielen Leuten bekannt geworden war... wenn diese ver-dammte Katsuragi ihn doch nur nicht zurückgeholt hätte, wenn sie ihn doch nur hätte davon-fahren lassen, dann hätte er jetzt ein Problem weniger...
Katsuragi... brilliante Taktikerin... daß sie ein Alkoholproblem und dazu den Geschlechtstrieb eines Karnickels hatte, machte sie nur umso wertvoller, hielt das sie doch davon ab, mißtrau-isch zu werden und Fragen zu stellen...
Ritsuko... ja, sie war wohl die größte Ironie... erst hatte er sich der Dienste ihrer Mutter ver-sichert, sowohl als Wissenschaftlerin, wie auch im Bett, und als die alte Hexe Naoko ihr Mei-sterwerk vollendet hatte, als die MAGI einsatzbereit waren, sich ihrer entledigt. Und alles, was nötig gewesen war, waren ein paar Worte gewesen, überbracht von den Lippen eines kleines Kindes... und jetzt hatte er sich auch Naokos Tochter gefügig gemacht...
Ryoji Kaji... SEELEs Spion... dachte dieser Trottel wirklich, seine Nachforschungen wären ihm nicht aufgefallen? Gut, Kaji wußte, daß das MARDUK-Institut nicht existierte, und? Sobald er zuviel wußte, würde er ohnehin sterben, so wie jeder, der dem Geheimnis zu nahe kam...
Langley, das Second Children... eine bessere Waffe hätte er gar nicht die Hände bekommen können, das Mädchen besaß keine Skrupel und einen Killerinstinkt, der seinesgleichen suchte...
Alles Bauern in seinem Spiel...
Wichtig war nur Rei, sie würde ihm helfen, sich und ADAM mit LILITH zu vereinen und den Impact auszulösen, sie war der Schlüssel, LILITHs jüngste Tochter... und gerade bei ihr mußte er vorsichtig sein, damit sie ADAMs Gegenwart nicht wahrnahm...
Gleich nach seiner Ankunft hatte er einen Bericht von einem der Mitglieder ihrer Leibwache angefordert, um über die jüngsten Ereignisse informiert zu werden, damit wußten nur zwei Personen bei NERV von seiner Rückkehr und beide waren ihm bedingungslos loyal, weil er ih-re Leben in der Hand hatte.

Verblieb noch eines zu tun...
Die alten Männer wollten eines Bericht.
Offenbar hatte diese dumme Akagi es geschafft, daß ein Engel in Gestalt eines Virus beinahe die MAGI übernommen und die Selbstzerstörung der Anlage ausgelöst hätte. SEELE wollte Rechenschaft darüber, wie ein Engel bis ins Hauptquartier hatte vordringen können... sicher hatten die alten Idioten sich vor Angst eingemacht... dabei hatte er die Geschichte verbreitet, daß der Third Impact ausgelöst werden würde, kämen LILITH und die Engel zusammen... und sie hatten es ihm geglaubt ohne selbst nachzuforschen, hatten ihm jede erdenkliche Hilfe zu-kommen lassen, damit er eine Festung über dem Zweiten Engel errichtete, nahezu unbegrenzte Geldmittel und unglaubliche Macht... und alles nur, um ein Phantom aufzuhalten... aber noch genialer war es gewesen, sie mit dem Versprechen auf unendliche Macht zu ködern... als ob er mit einem Haufen seniler Greise die Macht Gottes teilen würde...
Er mußte verschleiern, daß der Engel in die MAGI eingedrungen war, mußte sie davon über-zeugen, daß es ein Irrtum gewesen war, daß ihre Informationen falsch waren. Zugleich würde er sich selbst etwas Luft verschaffen, würde er einen Vorsprung erhalten, um seine eigenen Ziele zu erreichen... sie mußten nur glauben, daß der Zeitplan noch gar nicht soweit fortge-schritten war, daß durch die Bergung der Lanze die von LILITH ausgehende Gefahr verringert wurde...

Noch einmal atmete Gendo Ikari tief durch.
Die Droge entfaltete inzwischen ihre volle Wirkung, er spürte, daß ADAMs Schlaf wieder tie-fer wurde, zugleich verspürte er selbst eine leichte Dösiskeit und ein Abnehmen der Schärfe der Wahrnehmung seiner Sinne.
Er setzte sich die VR-Brille auf, fand sich im nächsten Moment nach einem kurzen desorientie-renden Wirbel von Farben in jenem nicht-existenten Konferenzraum wieder, in dem SEELE zu-sammenkam.


*** NGE ***


Lorenz Keel blickte auf die Stelle, an der sich Ikaris Projektionskörper gerade noch befunden hatte, sah auf die Lücke in ihrer Runde.
Ikari hatte seinen Bericht sehr überzeugend vorgetragen - nur glaubte ihm keiner, was er ge-sagt hatte...
\"Meine Herren\", setzte Keel an. \"Ich schätze, daß Ikaris Loyalität zu unserer Gruppe nicht mehr diskutiert werden muß.\"

\"Er besitzt keine.\" murmelte der Mann neben ihm.

\"Ja. Er wird die Macht nicht mit uns teilen... gut, seine Wahl. Dann werden wir auch nicht mit ihm teilen, wenn wir erst einmal das Ziel erreicht haben.\"

\"Das Schicksal aller Verräter.\"

\"Genau.\" erklärte ein dritter, der nur Gestalt eines Obelisken anwesend war.

\"General, wie steht es um ihr kleines Projekt?\"

\"Ikaris Mörder wartet nur auf unsere Anweisungen, Vorsitzender\", antwortete Wilforth Ce-drick.

\"Sehr gut. Aber Ikari aus dem Weg zu schaffen genügt nicht, wir müssen mehr über seine Plä-ne erfahren, wer weiß, was er hinter unserem Rücken noch alles in die Wege geleitet hat.\"

\"Der Schlüssel hierzu könnte sein Stellvertreter sein, Kozo Fuyutsuki. Gemäß meinen Informa-tionen ist dies die einzige Person, mit der Ikari näheren Kontakt hat, sieht man einmal vom First Children ab.\"

\"Wir hätten uns niemals mit Ikari einlassen sollen... seine Fixierung auf Kinder...\" kam es von einem weiteren Obelisken.

\"Damals waren wir alle einverstanden, als er uns seinen Plan vortrug\", brummte Keel. \"Nun gut, Cedrick, Sie haben einen Mann im NERV-Hauptquartier, oder irre ich mich?\"

\"Nein, Herr Vorsitzender, Sie irren sich nicht. Ich werde meinen Agenten anweisen, Fuyutsuki bei sich bietender Gelegenheit uns vorzuführen.\"

\"Dann wäre das alles... General Cedrick, ich würde gern noch mit Ihnen etwas besprechen...\"

Die anderen Teilnehmer der Konferenz blendeten sich aus, die Projektionen verschwanden eine nach der anderen.

\"Herr Vorsitzender?\"

\"Ihre... lebende Waffe...\"

\"Sie meinen Larsen.\"

\"Ja. Sind Sie imstande, ihn zu kontrollieren?\"

\"Ja, Herr Vorsitzender. Die Gehirnwäsche, der wir ihn unterzogen haben, wird dafür sorgen, daß er seinen Auftrag ausführt, sobald wir ihn von der Kette lassen. Und für alles weitere ha-ben wir einen Sprengsatz in seinem Schädel untergebracht, gleich neben dem PROPHET-Inter-face.\"

\"Wir haben Ikari schon zuviel Freiraum gelassen, das darf uns kein weiteres Mal passieren.\"

\"Seien Sie unbesorgt, ich werde selbst vor Ort sein und die... Durchführung überwachen.\"

\"Hm... tun Sie das... PROPHET-Interface... die MAGI-Rechner verfügen ebenfalls über eine solche Einrichtung, oder?\"

\"Korrekt. Die Schnittstelle wurde von der leider viel zu früh verstorbenen Naoko Akagi ent-wickelt und an Larsen erstmals getestet... ein Jammer, wer weiß, was sie noch entworfen hät-te... und wenn sie damals nicht seine Persönlichkeit digitalisiert und entsprechend aufbereitet hätte, hätten wir wahrscheinlich keinen Einfluß auf ihn nehmen können... wirklich schade...\"

\"Wenn wir das nächste Mal zusammenkommen, werde ich Ikari eine letzte Warnung zukom-men lassen, sollte er nicht verstehen, wird er unsere Gruppe verlassen müssen... endgültig...\"


*** NGE ***


Ikari wühlte sich regelrecht durch die angeforderten Tagesberichte.
Er war viel zu lange fortgewesen...
Offenbar waren seine Untergebenen doch nicht so zuverlässig, wie er geglaubt hatte, wie sonst hätte es möglich sein können, daß Shinji und der Rei-Klon zusammengezogen sind...

All seine Arbeit, all seine Bemühungen, umsonst...
Aber Rei war ersetzbar, im Dogma gab es noch genug Körper, er mußte einfach nur den alten vernichten, einen neuen aktivieren und die Erinnerungen von Rei-II übertragen... Erinnerungen aus der Zeit bevor der Klon und Yuis mißratener Sohn sich nähergekommen waren...

Und da traf ihn die nächste Überraschung: Es gab keine älteren Aufzeichnungen von Reis Ge-dächnis, es gab nur eine aktuelle Aufzeichnung im DummyPlug, die eine knappe Woche alt war...
Ikari ballte die Fäuste, das heißt, er ballte die rechte und versuchte es mit der linken.
Akagi hatte die alten Informationen gelöscht... unwiederbringlich... außer einer, der Sicher-heitskopie, die er selbst angelegt und mit seinem persönlichen Code gesichert hatte... doch die-se stammte ganz aus den Anfangstages, war über ein Jahr alt, war zu Beginn von Reis Ausbil-dung als EVA-Pilotin angefertigt worden... wenn er diese Aufzeichnung verwandte, würde der nächste Klon zwar die nötige Emotionslosigkeit und auch keine Erinnerung an Shinji besitzen, würde ihm völlig gehorsam sein, aber er würde auch nicht imstande sein, einen EVA zu steu-ern... Tabula Rasa...
Und momentan benötigte er die EVAs noch, um die Engel aufzuhalten, benötigte sie dringen-der denn je, damit sie eine Befreiung LILITHs verhinderten... und damit sie ihn und ADAM vor dem Zorn der Engel schützten...
Natürlich konnte er dem Klon befehlen, sich von dem Bengel zu trennen, aber wozu würde das gut sein, hatte er sie nicht schon einmal angewiesen, den Kontakt zu dem Jungen zu unterlas-sen? Und wenn die Berichte stimmten, schliefen die beiden sogar in einem Bett... nein, der Klon war nutzlos für die letzten Schritte des Planes. Nicht einmal in anderer Hinsicht würde er Ikari noch nützlich sein können, denn wenn Shinji nicht ein gänzlich impotenter Eunuch war, hatte es garantiert schon genug Gelegenheiten gegeben, zu denen sie sich körperlich vereint ha-ben dürften... der verdammte Bengel... er hätte ihn damals als Kind - spätestens nachdem er Yui los war - ertränken sollen, anstatt diesen gierigen Pflegeeltern soviel Geld in den Arsch zu schieben, damit sie sich um ihn kümmerten...

In seiner Hand begann es wieder zu pochen...
Kapitel 29 - Alles Gute kommt von oben...

Kurz vor zehn Uhr abends waren ein paar Lehrer durch die Sporthalle gegangen und hatten die Schüler der unteren Klassen nach Hause geschickt, während die älteren noch ein wenig feiern konnten.

Shinji, Rei, Hikari und Toji standen am Tor zum Schulgelände und hielten Ausschau nach Asuka und Kensuke, laut Toji hatte Asuka ihren Begleiter den ganzen Abend über herumkom-mandiert und durch die Gegend gejagt, weshalb er sich jetzt vergewissern wollte, ob mit Kensuke alles in Ordnung war.
Doch die beiden ließen sich nicht blicken.

\"Seltsam\", murmelte Toji. \"Eigentlich hätten sie an uns vorbei... oder waren sie schon vor uns draußen? - Hikari?\"

\"Ich habe sie nicht gesehen\", meinte das Mädchen mit den Sommersprossen.

Und Shinji und Rei waren anderweitig beschäftigt gewesen. Sie konnten es gar nicht fassen, daß es schon so spät war.

\"Tja, vielleicht warten wir hier ganz umsonst. Aber morgen unterhalte ich mich mit Ken ein wenig...\"

Am nächsten Tag würde es Zeugnisse geben, es fand zwar kein Unterricht statt, aber die Schü-ler sollten sich um elf Uhr in ihren Klassenräumen versammeln. Die Abschlußklasse war bereits an diesem Morgen entlassen worden.

\"Uhm, naja, vielleicht sollten wir wirklich gehen...\"
Shinji sah sich noch einmal um.
\"Asuka wird ihn schon nicht... uh... oder möglicherweise doch... äh...\"

\"Du kannst einem wirklich Mut machen, Ikari, weißt du das?\"

\"Tut mir leid, Toji.\"

Suzuhara seufzte.
\"Ich wüßte nur zu gerne, weshalb Ken so vernarrt in Asuka ist... er hat doch auch gesehen, wozu sie fähig ist... hm...\"

Sie trennten sich, während Toji Hikari heimbrachte, fuhren Shinji und Rei mit der Straßenbahn.

Shinji lockerte seine Krawatte.
\"Ah, Rei, ich wollte nur sagen, daß ich... uhm... daß ich sehr glücklich bin, daß wir... naja, daß du mich zu dem Tanz begleitet hast. Und... ahm... du bist wirklich eine sehr gute Tänzerin.\"

\"Danke, Shinji-kun.\" antwortete sie mit einem schmalen Lächeln.

\"Ähm, ja... naja...\"
Er nahm ihre Hand in die seine, während er nach weiteren Worten suchten.

Ein Kontrolleur kam und ließ sich ihre Fahrkarten zeigen, hob im ersten Moment die Augen-brauen, als er ihre NERV-ID-Karten sah, nickte dann aber und wechselte in den nächsten Wa-gen über.

Die Bahn hielt an ihrer Haltestelle und sie stiegen aus, gingen Hand in Hand zwischen den her-untergekommenen Gebäuden hindurch. In ihrem Apartmentgebäude flackerte das Flurlicht recht unstet, sie stiegen rasch die Treppen bis zum vierten Stock empor, Shinji übernahm die Führung und öffnete die Wohnungstür, blieb dann aber vor der Schwelle stehen.

\"Shinji-kun, was ist?\"

Er grinste.
\"Rei-chan, leg deine Arme um meinen Hals.\"

Sie blinzelte, tat aber, was er von ihr verlangte. Doch mit dem, was er als nächstes tat, hatte sie nicht gerechnet: Shinji hob sie schwungvoll hoch, so daß er sie auf seinen Armen trug.
\"Shinji-kun, was hast du vor?\"

\"Kopf einziehen!\" flüsterte er und trug sie über die Schwelle, ließ sie dann wieder hinunter.

Sie strich ihr Kleid glatt und sah ihn fragend an.
\"Warum hast du das getan?\"

\"Es... ahm... naja... ich dachte... uhm... das wäre angemessen... ähm... du siehst aus wie eine Prinzessin und... ähm...\"

\"Ich verstehe. Bisher dachte ich, \'jemanden auf Händen tragen\' wäre nur eine weitere Rede-wendung.\"

\"Uh...\"
Er schloß die Wohnungstür, war froh, daß sie sich mit seiner Erklärung zufrieden gab.
Während er den Krawattenknoten vollends öffnete und dann die Anzugjacke auszog, schälte sie sich aus dem Kleid. Im Licht des Mondes sah er kaum mehr als ihre Silhouette, doch das genügte bereits.
Rei trug keinen BH unter dem Kleid, aber das hatte er bereits früher am Abend festgestellt, als sie dicht zusammen getanzt hatte.
Warum stolperte er nur immer mit dem Kopf voran in solche Situationen... und am schlimm-sten war es immer, wenn er irgendwelchen spontanen Einfällen nachgab... Mit Erleichterung registrierte er, daß sie sich das große Männerhemd, welches sie als Nachthemd benutzte, über-zog und vor der Brust zuknöpfte.
Ein paarmal atmete er tief durch.
\"Also, Rei... ich... ich hoffe, du warst auch zufrieden... uhm...\"

\"Der Abend hat mir gefallen.\" erklärte sie und kroch ins Bett, sah ihn an.

Nach kurzem Zögern folgte er ihr, nahm sie in die Arme und legte den Kopf an ihre Schulter, so daß er den Geruch ihres Haares einatmen konnte.


*** NGE ***


Kensuke hockte wie ein Häuflein Elend an seinem Platz im Klassenraum, Toji stand bereits ne-ben ihm, die Hand kumpelhaft auf Aidas Schulter.

\"Was... was ist denn los gewesen?\" fragte Shinji, kaum daß er seine beiden Freunde erspäht hatte.

Toji ballte die Fäuste.
\"Diese Asuka ist ein ganz durchtriebenes Biest!\"

Kensuke schniefte.
\"Ich dachte... als sie mich fragte, ob ich sie nicht begleiten wollte... ich dachte, sie mag mich vielleicht... aber dann schickte sie mich los, etwas zu trinken zu holen... und danach hat sie mich gar nicht mehr beachtet, sondern hat nur noch mit ein paar anderen Mädchen \'rumgehan-gen... und dann hat sie mit einem aus der Abschlußklasse getanzt...\"

\"Wie gemein\", murmelte Hikari.

\"Hat mich einfach stehenlassen... mit kleinen langweiligen Jungs wolle sie nichts zu tun ha-ben...\"
Kensuke vergrub das Gesicht in den Armen.

Toji klopfte ihm beschwichtigend auf dem Rücken.
\"Na, na, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.\"

Asuka betrat den Klassenraum, grinste breit, als sie die Gruppe zusammenstehen sah.

Toji sah sie finster an, gab ein dumpfes Knurren von sich.

Shinji kannte diesen Blick, hatte sich schließlich selbst schon im Fokus dieses Blickes befun-den...
\"Toji, nur die Ruhe...\"
Er schluckte.

\"Och, ist der kleine Kensuke traurig?\" lachte Asuka häßlich. \"Dabei durfte er doch mit mir zum Ball gestern gehen... hat es ihm etwa nicht gefallen?\" Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wirkte plötzlich sehr verletzt. \"Das kann ich mir gar nicht vorstellen...\" Und dann grinste sie wieder.

\"Du falsche Schlange!\" schrie Toji und schien mit seinem Vorsatz, keine Mädchen zu schlagen, brechen zu wollen, streckte Kopf und Schultern vor wie ein wütender Stier.

Shinji hielt ihm am Arm fest, wußte aber sogleich, daß er den größeren und stärkeren Mitschü-ler allein kaum halten konnte.
Doch darum kümmerte sich Rei, die Toji einfach die flache Hand gegen die Schulter drückte.
Einen Moment lang schien Toji gegen starken Wind anzukämpfen, Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus, dann starrte er sprachlos auf Reis schmale Hand.

\"Wa...\"

\"Du hättest keine Chance\", flüsterte Rei sehr leise.

Trotzdem hatte Asuka sie gehört.
\"Stimmt, Suzuhara, aber du kannst es gerne versuchen...\"
Sie blickte ihn provozierend an.

In Shinji stieg die Wut hoch.
Einem seiner Freunde ging es richtig schlecht und sie machte sich auch noch darüber lustig...
\"Asuka, laß das!\" schrie Shinji. \"Hast du eigentlich nichts besseres zu tun?\"

Die Rothaarige schüttelte den Kopf.
\"Nein.\"

\"Dann... ah... dann...\"

\"Na, Shinji, sprachlos? Geht das Gestotter wieder los?\"

\"Ah...\"

Asuka lachte laut auf.

Hikari trat an Shinjis Seite, funkelte Asuka wütend an.
\"Das ist so gemein!\"

\"Ach, halt die Klappe, Klassensprecherin, wer hat dich denn gefragt.\"

Hikari riß die Augen auf.

Asuka stolzierte zu ihrem Platz und setzte sich, immer noch dieses breite hämische Grinsen im Gesicht.

\"Miststück...\" flüsterte Toji.

Asukas Augen funkelten auf.
Niemand nannte sie so, ohne es zu bereuen... aber sie konnte warten, an diesem Tag hatte sie schon ein Triumpherlebnis gehabt, als sie den dummen kleinen Jungen am Rand der Tränen ge-sehen hatte...

Der Lehrer kam mit den Zeugnisheften...


*** NGE ***


Bestanden hatten sie alle, von den Schülern, die zu den Prüfungen angetreten waren, wurden alle versetzt. Bei der Verteilung der Zeugnisse äußerte sich der Lehrer lobend über Asukas Fortschritte mit den Kanji-Schriftzeichen. Das beste Zeugnis hatte Rei, worüber sich eigentlich niemand, der sie kannte, wirklich wunderte.

Kaum hatte der Lehrer die Stunde geschlossen, spazierte Asuka aus dem Raum, warf dabei Toji erneut einen provozierenden Blick zu. Doch dieser beherrschte sich zähneknirschend.
Im Anschluß nahm Toji Kensuke zur Aufmunterung mit in eine nahegelegene Einkaufspassage, wo es auch ein paar Automatenspiele gab.

\"Armer Kensuke\", murmelte Shinji, während er und Rei mit der Bahn zurückfuhren. An diesem Tag hatten sie beide keine Tests.

Rei nickte ohne Worte.
Soryu hatte sich über ihren Shinji lustiggemacht...

\"Wirklich gemein von Asuka, ihn so zu behandeln...\"

\"Soll ich ihr die Beine brechen, Shinji-kun?\"

Shinjis Kopf fuhr herum, entgeistert sah er sie an.
\"Wie?\"

\"Soryu benötigt ihre Beine nicht, um im Falle eines Angriffes einen EVA steuern zu können.\"

\"Ahm... ich glaube nicht... das solltest du nicht tun... uhm... du bekommst doch nur Ärger...\"

Insgeheim stimmte sie ihm zu, aber in diesem Fall würde sie sogar den Zorn des Kommandan-ten in Kauf nehmen...
\"Shinji-kun, gibst du mir dein Wort, mich nie so zu behandeln?\"

Er zuckte zusammen, seine Augen weiteten sich noch mehr.
\"Rei-chan, ich... ich könnte nie... ich möchte immer bei dir sein...\"

Sie lächelte unwillkürlich, doch zugleich fragte sie sich, ob er dies auch sagen würde, wenn er wüßte, was sie wirklich war... ob er dann noch zu ihr stehen würde...
\"Vielleicht gibt es Dinge über mich, die du nicht weißt.\"

\"Uhm... also... ähm...\"
Wieder nahm er ihre Hand, drückte sie leicht.
\"Ich glaube an dich.\"

Ihre Kehle wurde trocken.
\"Shinji-kun...\"

Die Bahn hielt, sie stiegen aus.

\"Oben dürfte es ziemlich stickig sein...\" meinte Shinji an der Hausfassade hinaufblickend.

\"Ja.\"

\"Was... uhm... was hältst du von einem Picknick hinten im... ah... Park?\"

\"Einverstanden.\"

\"Dann hole ich schnell ein paar Sachen. Geh schon \'mal vor...\"
Er lief nach oben.


*** NGE ***


Rei saß unter einem der knorrigen Bäume in der verwilderten Grünanlage und blickte Shinji entgegen, der mit einer Plastiktüte in der Hand zu ihr herüberkam.

Lächelnd stellte er die Tüte auf die Erde.
\"\'Ist zwar kein Picknickkorb, aber, uhm...\"
Er begann auszupacken, breitete zwischen ihnen mehrere Servietten überlappend aus, so daß eine größere Fläche für die mitgebrachten Nahrungsmittel entstand, stellte die angebrochene Packung Weißbrot dazu, dann eine Flasche Fruchtsaft und zwei Becher, vervollständigte das ganze schließlich mit den Marmeladeschälchen, die Rei im Kühlschrank aufbewahrt hatte, so-wie zwei Messern.

Sie aßen in aller Ruhe, danach räumte Shinji bis auf die Becher und die Flasche alles wieder zu-sammen und lehnte sich gegen den Baumstamm, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloß die Augen, lächelte entspannt.

\"Weißt du, Rei-chan, ich... ah... ich kann kaum glauben, daß wir das hinter uns haben...\"

Jetzt lagen etwas über vier Wochen Ferien vor ihnen, allerdings hatte Doktor Akagi bereits an-gekündigt, die Zeit für zusätzliches Synchrontraining auszunutzen.

Rei sah ihn interessiert an.
Shinji-kun wirkte so friedlich und entspannt... eigentlich hatte sie diesen Ausdruck bisher nur auf seinem Gesicht gesehen, wenn er schlief...

Shinji seufzte wohlig auf.
So gefiel es ihm... ein schöner warmer Tag, der kühle Schatten eines Baumes, ein Nachmittag, an dem es nichts zu tun galt, an dem weder die Schule noch NERV seine Zeit in Anspruch nah-men... und die Nähe Rei-chans... ja, am wichtigsten war ihre Gegenwart...

Rei rückte näher an ihn heran.
Shinji-kun fühlte sich offensichtlich wohl...
Sie verringerte die Distanz noch mehr, wollte sich den Ausdruck seines Gesichtes ganz genau einprägen... schließlich rutschte sie über ihn, so daß sich ihre Knie links und rechts seines Bek-kens befanden und sie auf seinen Oberschenkeln saß, ihr Gewicht dabei aber auf ihre Knie ver-lagerte.

Shinji öffnete die Augen, sah direkt in ihr Gesicht.
\"Rei-chan...\" setzte er überrascht an.

\"Shinji-kun, du wirkst so zufrieden...\"

\"Ahm...\"

Sie hob die Hand und berührte sacht seine Wange.

\"Rei...\"
Ohne zu denken legte er die Arme um ihre Taille.

Ihre Lippen näherten einander, sie spürten den flachen warmen Atem des jeweils anderen im Gesicht. Reis Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen formten ein flaches Oval, sie schloß die Augen, legte ihre Arme um seinen Hals, dann war auch der letzte Zentimeter überwunden, be-rührten sich ihre Lippen schließlich, blieben aneinanderhängen.
Mehrmals wurde der Kuß teilweise angebrochen und wieder neu angesetzt, als ihrer beider Lippen ein Eigenleben zu entwickeln schienen, während seine rechte Hand ihren Rücken hinauf- und hinabwanderte, während sie ihn abwechselnd an sich zog und dann wieder die Intensität Ihrer Umarmung lockerte.

Shinji glaubte beinahe, seine Lippen stünden in Flammen, so intensiv war der Eindruck, den er verspürte. Sein Atem ging sehr schnell, immer wieder unterbrach er den Kuß kurz, um Luft zu holen, nur sich dann mit neuem Elan ihren Lippen zu widmen. Er vermeinte zu schweben, glaubte, den Erdboden hinter sich zu lassen.

Und Rei verspürte ein Gefühl in der Magengegend, das sich anfühlte, als schlügen dort unzähli-ge Schmetterlinge zugleich mit den Flügeln, ein Gefühl, das in ihr nicht den Eindruck erweckte, sie könnte in irgendeiner Form krank sein. Es war ein berauschendes Gefühl, das sich noch mehr steigerte, sobald Shinji-kuns Hand ihren Nacken erreichte.
So war es also, verliebt zu sein...

\"Was macht ihr zwei da?\" riß eine herrische Stimme die beiden in die Realität zurück.

Erschrocken ließ Shinji Rei los, starrte schräg nach oben.
Ein Polizist... der erste Polizeibeamte, den Shinji in dieser Gegend von Tokio-3 zu Gesicht be-kam... was wollte der Mann von ihnen?
\"Uhm... also...\"

\"Das hier ist eine öffentliche Einrichtung, euer Verhalten könnte sittlichen Anstoß erregen. Ihr beiden seid doch sicher noch minderjährig, oder? Wo wohnt ihr? Wie heißen eure Eltern?\"

Rei blinzelte.
Ihr Hochgefühl war verschwunden, stattdessen verspürte sie Wut auf den Uniformierten, der sie und Shinji-kun gestört hatte. Wen sollten sie denn stören?

Langsam stand sie auf, reichte dem immer noch völlig überraschten Shinji die Hand, zog ihn auf die Füße.
Und ebenso langsam holte sie ihren NERV-Ausweis aus der Tasche und reichte ihn dem Beam-ten.

Der Uniformierte setzte seine dunkle Brille ab, begutachtete den Ausweis, sah dann Rei verär-gert an.
\"Was soll das denn? Wen willst du damit veräppeln, Kleine, das ist doch sicher eine Fäl-schung.\"

Rei war fassungslos.
Der Mann hatte ihr indirekt gerade erklärt, daß er sie für eine Lügnerin hielt, daß die Angaben auf dem Ausweis nicht stimmten.
\"Ich bin die Person auf dem Bild, Rei Ayanami.\"

\"Ja, klar, das glaube ich dir noch, aber du kannst mir nicht erzählen, daß du zu NERV ge-hörst.\"

\"Uh, doch, das stimmt...\"
Auch Shinji holte seine ID-Card hervor und hielt sie ihm unter die Nase.

\"Noch so eine Fälschung... seitdem es heißt, daß diese EVAs von Kindern gesteuert werden, will plötzlich jeder ein Pilot sein... Also, eure Namen und die eurer Eltern!\"

Shinji öffnete und schloß die Faust, wieder und wieder.
Das durfte doch nicht wahr sein... kaum erlebte er einen wirklich glücklich Moment, da tauchte jemand auf und machte alles zunichte... und schlimmer noch, der Beamte zweifelte nicht an sei-nen Worten - das hätte er verkraftet -, er bezichtigte auch noch Rei-chan der Unwahrheit...
Shinji schluckte, kniff die Augenlider zusammen und blickte dem Polizisten ins Gesicht.
\"Ich bin Shinji Ikari. Ich arbeite für NERV. Ich bin der Pilot von EVANGELION-Einheit-01. Mein Vater heißt Gendo Ikari, er ist der Kommandant von NERV. Sie können ihn gerne anru-fen und meine Angaben überprüfen, ich nenne Ihnen gerne die Nummer. Aber er wird nicht gern gestört und reagiert dann oft etwas extrem\", erklärte er mit Nachdruck und Eiseskälte in der Stimme, war für einen Augenblick das genaue Abbild Gendo Ikaris in Sprache und Auftre-ten. \"Sie könnten auch Major Katsuragi anrufen, unseren taktischen Offizier. Oder Doktor Akagi, die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung. Alles vielbeschäftigte Leute, die sich si-cherlich freuen werden, Ihnen Auskunft zu geben.\"

Die Mimik des Beamten entgleiste, fassungslos sah er Shinji einen Moment lang an, warf dann einen erneuten Blick auf die beiden Ausweise, betrachtete mit größer werdenden Augen das NERV-Siegel unter den Bildern der beiden Teenager vor ihm.
Die Dinger waren tatsächlich echt...
Nervös gab er sie zurück.
\"Eure Angaben stimmen wohl...\"

Eine vierte Person betrat die Szene, eine dunkelhaarige Frau in einer nachtschwarzen Einsatz-kombination, die ein Namensschild mit dem NERV-Symbol über der Brust trug.
\"Gibt es hier Probleme?\"

Rei wandte sich ihr zu.
\"Keine Probleme, Ishiren-san.\"

Die Frau nickte, blieb aber an Ort und Stelle stehen anstatt wieder zu gehen.

Mit wachsender Nervosität huschte der Blick des Beamten hin und her, während ihm klarwur-de, daß er mitten in ein Wespennest hineingegriffen hatte. NERV war für die Ordnungshüter von Tokio-3 tabu, außer sie ertappten NERV-Angehörige bei einer Straftat. Und der Name Katsuragi war ihm auch nicht unbekannt, schließlich kassierte die Frau jede Woche wenigstens einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung...

\"Und jetzt?\" erkundigte sich Shinji mit hochgezogenen Augenbrauen.

\"Ein Bericht ist wohl nicht nötig... aber ihr solltet nicht...\"
Er gab es auf, eigentlich hatten die beiden Kinder ja gegen kein Verbot verstoßen... es war nur sehr ungewöhnlich, jemanden tagsüber in dieser Parkanlage anzutreffen, in welcher sich nach Einbruch der Dunkelheit der Bodensatz von Tokio-3 traf...

\"Also können wir gehen?\"

\"Ja. Einen schönen Tag noch...\"

Shinji sah dem Polizisten nach, bis dieser außer Sicht war, ließ dann die Schultern hängen und stieß die angehaltene Luft aus, während sein Herz viel zu schnell pochte.

\"Ich entferne mich dann ebenfalls, Captain Ayanami.\" erklärte die Frau.

\"Ja, Ishiren-san.\" bestätigte Rei.

Die Frau wandte sich ab und verschwand zwischen den Büschen.

Rei blickte Shinji an.
Wie energisch er aufgetreten war, als der Beamte ihre Angaben in Zweifel gezogen hatte...
Und jetzt schien ihn im Nachhinein sein eigener Mut zu erschrecken.
\"Laß uns gehen, Shinji-kun.\"

\"Äh, ja, Rei...\"
Er hob die Sachen auf und trottete an ihrer Seite zu den Häusern zurück.
\"Uhm, Rei, wer war das... ich meine, diese Frau...\"

\"Ishiren-san gehört zu meiner Leibwache.\"

Vor Überraschung blieb er stehen.
\"Leibwache?\"

\"Jeder der Piloten verfügt über wenigstens einen ihm speziell zugewiesenen Leibwächter, der ihn oder sie beschützen soll.\"

\"W-wirklich? Das... das ist mir noch gar... aufgefallen...\"

\"Sie haben Anweisung, sich im Hintergrund zu halten.\"

\"Ich... ah... ich verstehe... aber heißt das... daß wir, uhm, auf Schritt und Tritt überwacht wer-den?\"

\"Ja, Shinji-kun. Die EVA-Piloten sind zu wertvoll, als daß NERV riskieren könnte, daß ihnen etwas zustößt.\"

Shinji sah sich aufmerksam um.
\"Und... uhm... wo sind sie?\"

Rei runzelte die Stirn, sah sich ebenfalls um, deutete dann in rascher Abfolge auf drei Fenster, zwei davon in ihrem Gebäude, im dritten und im vierten Stock, das dritte im Nachbarhaus. Dann deutete sie noch auf einen weiter entfernt liegenden Hauseingang, wo Shinji eine Bewe-gung im Schatten registrierte.

Shinji stand der Mund offen.
\"Und... und sie bewachen uns überall? Auch... auch in deiner Wohnung?\"
In ihm stieg die Schreckensvision auf, sie könnten während der letzten Wochen ständig be-lauscht worden sein, daß wildfremde Menschen jedes seiner Worte, jedes Gespräch mit ihr, je-des Geständnis mitgehört haben könnten.

\"Nein.\"

\"Ah... g-gut...\"

Oben in der Wohnung nahm sie ihm die Tüte mit den Sachen des Picknicks aus der Hand und stellte sie in den Kühlschrank, während Shinji immer noch mitten im Raum stand und sich be-mühte, das Erfahrene zu verdauen.

\"Shinji-kun...\"

Er drehte den Kopf.
Rei-chan stand im Durchgang zur Küche und fixierte ihn. In ihren Augen war etwas unge-wohntes... ein Funkeln... ihre Lippen formten ein Lächeln.
\"Uh, ja, Rei-chan?\"

\"Wir wurden gestört.\" erklärte sie völlig emotionslos trotz ihres Lächeln. \"Ich bin der Ansicht, daß wir dort fortsetzen sollten, wo wir unterbrochen wurden.\"

\"Uhm...\"
Weiter kam er nicht, denn da hatte sie bereits die Arme um ihn geschlungen und versiegelte seine Lippen mit den ihren...


*** NGE ***

Das erste, das Shinji wahrnahm, als er am nächsten Morgen erwachte, war ein Kitzeln an seiner Nasenspitze. Er schlug die Augen auf, sah Rei über sich gebeugt, deren Haarspitzen das Ki-tzeln verursachten.
\"Guten... guten Morgen, Rei-chan...\" flüsterte er.

\"Guten Morgen, Shinji-kun\", erwiderte sie mit einem schwach hörbaren fröhlichen Unterton.
Kurz senkte sie den Kopf und berührte seine Lippen mit den ihren, dann rollte sie sich aus dem Bett.
\"Ich mache Frühstück.\"

Shinji setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Seine Lippen waren ganz taub, so als hätte man ihm eine örtliche Betäubung verpaßt.
Die Erinnerung an den Rest des gestrigen Tages und den Abend war wie ein farbiger Rausch von Eindrücken, war ein einziger nichtendenwollender Kuß, zuerst in der Zimmermitte, dann auf der Bettkante, schließlich auf dem Bett selbst. Zugleich war es ein beschränktes gegensei-tiges Erforschen gewesen, bei dem er herausgefunden hatte, daß es Rei-chan sehr anregte, wenn er eine bestimmte Stelle ihres Nackens berührte, während sie sicher erkannt hatte, wie er darauf reagiert hatte, als sie mit der Innenseite ihres Fußes über sein Schienenbein gestrichen hatte...
Und es war wirklich kein Traum gewesen. Und trotz allem hatte dieser lange Kuß noch immer etwas Unschuldiges besessen, hatte er kein einziges Mal den Drang verspürt, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, hatte er die Wanderungen seiner Hände auf ihren Rücken beschränkt...

Ein Blick auf seine Armbanduhr, die er sich von der Sitzfläche des Bürostuhles geangelt hatte, sagte ihm, daß er noch Zeit hatte, rasch zu duschen und im Anschluß mit Rei-chan zu frühstük-ken, ehe er zum Hauptquartier aufbrechen mußte.
Und das nannte sich Ferien... für Doktor Akagi war die Zeit doch noch nur ein Grund, sie noch längeren und intensiveren Tests zu unterziehen...

Er ging in die Küche, wo Rei an der Spüle stand und hantierte, umarmte sie von hinten und plazierte einen leichten Kuß auf ihrem Hals.
\"Ich dusche schnell.\"

\"Ja.\"
Er sah es nicht mehr, doch sie lächelte.
Und sie lächelte immer noch, als Shinji aus dem Bad kam und sich an den gedeckten Tisch setzte, lächelte, während sie die Ellenbogen auf den Tisch aufstützte und mit den Fingern der ineinander gefalteten Hände eine Brücke bildete, über die hinweg sie ihn anblickte.
Misato-san hatte recht gehabt... sie hatte den ganz großen Fang gemacht...


*** NGE ***


Shinji schickte sich gerade an, das Haus zu verlassen, als für einen Augenblick die Erde bebte, daß er unwillkürlich die Hand zur Mauer ausstreckte, um nach Halt zu suchen.
Ein Erdbeben? In dieser Region Japans kam es nicht so häufig zu Beben wie anderswo... und seit seiner Ankunft in Tokio-3 hatte er noch keine Erdstöße wahrgenommen...
Oder ein Angriff?
Er sah sich um, registrierte keine Veränderungen.
Rasch drehte er sich um und lief wieder nach oben, nur weil unten alles normal erschien, mußte das noch lange nicht für die Wohnung gelten, in der Rei noch war...
Gerade, als er die Wohnungstür erreichte, begann sein Handy zu piepen.
Also doch ein Angriff?
Aber zuerst mußte er nach Rei-chan sehen...

In der Wohnung war nur eine Vase umgefallen, allerdings hielt Rei sich nicht damit auf, das Wasser aufzuwischen, sondern reagierte auf das Piepen ihres Handys, indem sie sofort aus der Wohnung stürmte und auf dem Flur gegen Shinji prallte.

\"Uh... tut mir leid...\" sagte Shinji automatisch.

Rei nahm nur seine Hand und zog ihn mit sich nach unten.
Im Haus hatten sie keinen richtigen Empfang, würde das Signal nicht stark genug durchkom-men, um verständlich zu sein. Wahrscheinlich waren in den letzten Wochen in der Nähe Sig-nalverstärker in der Gegend installiert worden, damit die beiden Piloten wenigstens angepiept werden konnten.
Von einem Herzschlag zum anderen wurde aus dem blauhaarigen Mädchen, welches eben noch lächelnd sich der Aktivitäten der letzten Nacht erinnert hatte, ein emotionsloser Profi, wurde Shinjis Rei-chan zu Pilotin Ayanami.
Sie mußten bis zur Haltestelle der Straßenbahn laufen, ehe Rei ein klares Signal auf ihrem Han-dy hatte.
Das Gespräch, welches sie mit dem Hauptquartier führte, war nur kurz.
\"Ein Engel\", informierte sie ihren Begleiter. \"Wir sollen schnellstens ins Hauptquartier kom-men.\"

\"Wo ist er?\" stieß Shinji hervor. \"Die... ah... die Sirenen heulen noch gar nicht.\"

\"Wir erhalten unsere Informationen im Hauptquartier.\"

\"Ja...\"
Wie verändert sie plötzlich war... so konzentriert... das mußte mit dem bevorstehenden Kampf zusammenhängen...
Shinji hatte keinen Zweifel, daß das Auftauchen eines Engels gleichbedeutend war mit einem baldigen Kampf.
Er nahm ihre Hand, drückte sie leicht, doch sie erwiderte den Druck nicht, ging in Gedanken bereits die Startsequenz von EVA-00 durch, wappnete sich innerlich schon jetzt gegen die Dunkelheit. Unkonzentriertheit konnte die Mission scheitern lassen... konnte Shinji-kun in Ge-fahr bringen...


*** NGE ***


Misato Katsuragi starrte sprachlos auf den großen Monitor der Zentrale.

Neben ihr stand Ritsuko Akagi und wirkte ebenfalls nicht gerade gesprächig.

Der Monitor zeigte eine Luftaufnahme Südjapans.
Auf der Karte gab es drei große Krater, Krater, die am Vortag noch nicht existiert hatten...

\"Mein Gott...\" flüsterte Misato.

Von der anderen Seite trat Kaji an sie heran.
\"Schwere Zerstörungen... und dabei waren es nur ungezielte Schüsse...\"

Ritsuko schloß die Augen.
\"Derzeit können wir nichts tun.\"

\"Ich möchte die Aufzeichnungen noch einmal sehen\", murmelte Misato.

Der Monitor zeigte ein Flugobjekt, welches wie drei nebeneinanderliegende, durch dünne Mus-kelstränge verbundene, Augäpfel aussah, wobei das mittlere Auge das größte der drei war. An den Rändern hingen tropfenförmige Klumpen.
Gerade löste sich einer der Tropfen, fiel der Erde entgegen...

... explodierte beim Aufschlag, löschte ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern aus, hinter-ließ nur einen Krater...

\"Der erste Einschlag erfolgte nahe der Küste weit im Süden von Tokio-3. Der zweite und der dritte erfolgten näher bei der Stadt. Diese Engelstränen verfügen über eine gewaltige Spreng-kraft. Außerdem verringert der Engel seine Flughöhe, den MAGI-Berechnungen nach wird er im Sturzflug in die Stadt krachen.\"

\"Toll... einfach toll...\"
Misato begann, in der Zentrale auf und ab zu gehen, sah dabei immer wieder zum Kommando-stand hinauf, wo sich nur Kozo Fuyutsuki aufhielt, der sich schwer auf die Brüstung stützte.
\"Ritsuko, zeig mir noch einmal den Einsatz der N2-Mine.\"

\"Kommt...\"

Ein Flugzeug näherte sich dem Engel, feuerte eine Rakete ab, welche weit vor dem Engel ex-plodierte.

\"Beschuß mit der neuen N2-Luftmine nutzlos, die Analyse der gewonnenen Daten bezüglich der Stärke des AT-Feldes ergibt, daß ein Beschuß vom Boden aus ebenso erfolglos bleiben wird.\"

\"Und der Engel wird voraussichtlich eine Kamikaze-Aktion hinlegen?\" fragte Misato nach.

\"Die MAGI gehen davon aus. Wenn er seine Flughöhe weiterhin in diesem Maß verringert, hat er gar keine andere Alternative.\"

\"Wie groß wird die Sprengkraft sein, die er dann entfaltet?\" kam es von Kaji.

Ritsuko gab einen kurzen Befehl in ihren Palmtop ein.
\"Szenario Sahakiel.\"

Wieder wurde die Luftaufnahme Südjapans gezeigt. Dann erschien ein gewaltiger Feuerball, der die Karte zu verschlingen schien. Was zurückblieb, war eine tiefe Wunder in der Erde, ein Krater, aus dem glutflüssiges Magma quoll, welches unter starker Dampfentfaltung auf das ein-dringende Meerwasser traf...

Sogar Kaji war bleich geworden.
\"Ob ich noch einen Flug ans andere Ende der Welt bekomme...?\" versuchte er die Situation aufzuheitern.

Misato preßte die Lippen zusammen, nahm ihre Wanderung durch die Zentrale wieder auf.
\"Haben wir Kontakt zum Kommandanten?\"

\"Nein, der Engel stört die Funkverbindungen, alle Frequenzen.\"

Fuyutsuki beugte sich weiter vor.
\"Doktor Akagi, berechnen Sie bitte die voraussichtliche Aufschlaggeschwindigkeit des Engels. Und berechnen Sie, ob die vereinte Kraft aller drei EVAs ausreicht, den Sturz des Engels abzu-fangen.\"

Misato starrte ihn an.
\"Natürlich, das ist es... wenn die EVAs den Engel auffangen können, ehe er explodiert, können sie ihn vorher vernichten... Genial!\"

\"Ich habe meinen akademischen Grad nicht in der Lotterie gewonnen. - Also, Doktor?\"

\"Es könnte klappen. Wenn alle drei EVAs schnell genug sind, können sie den Sturz des Engels aufhalten. Aber die Chancen sind trotzdem minimal.\"

\"Gut, Ritsuko...\"
Misato lächelte grimmig. Selbst eine winzige Chance war immer noch eine Chance.
\"Mach die EVAs startklar! Und laßt den Engel nicht aus den Augen, ich will über jede noch so klitzekleine Veränderung der Bahn sofort informiert werden. Wir positionieren die EVAs so, daß sie jeden Punkt der Stadt in möglichst geringer Zeit erreichen können, laß die MAGI die günstigsten Positionen berechnen, orientiere dich an der Flugbahn des Engels und berechne den voraussichtlichen Aufschlagpunkt so genau wie möglich!\"

\"Schon dabei!\"
Ritsuko nahm an ihrem Terminal Platz.
\"Maya, du gehst in den Kontrollraum des Testcenters und überwachst die Startvorbereitun-gen!\"

\"Ja, Sempai.\"

Misato befestigte ihr Headset.
\"Ich übernehme die Leitung von hier aus. Kaji, geh bitte in den Hangar und unterrichte die Kinder!\"

Kaji nickte.
Er wußte, weshalb sie ihn ausschickte - Asuka würde auf ihn hören und in seiner Gegenwart nicht anfangen zu stänkern...


*** NGE ***


Die EVAs waren inzwischen gestartet und der Engel befand sich weiterhin auf seinem Kamika-ze-Kurs. Die drei EVANGELIONs waren nach Maßgabe der MAGI positioniert worden.

Asuka war von dem Plan alles andere als überzeugt.
\"Einen fallenden Engel mit den Händen aufzuhalten, das ist doch...\" murmelte sie.

\"Hast du etwas gesagt?\" fragte Misato über Funk.

\"Nein.\" knurrte Asuka.
Trotzdem hielt sie den Plan einfach für bescheuert.
Und daß Misato ständig versuchte, sie zu bemuttern, machte es auch nicht einfacher... Misato war nicht ihre Mutter, ihre Mutter war tot, ihre Pflegemutter lag im Sterben auf der anderen Seite der Welt und ihre Stiefmutter konnte ihretwegen tot umfallen...

Nein, noch eine Mutter brauchte sie wirklich nicht, alles was sie brauchte, war EVA-02, im En-tryPlug fühlte sie sich sicher und geborgen. EVA-02 würde sie nie im Stich lassen...

Der Engel näherte sich...


*** NGE ***


Der taktische Bildschirm zeigte den Abstieg des Engels.

Rei ließ den Blick von dem Schirm, wartete nur auf das Startsignal.

Sie konnte die geringe Wahrscheinlichkeit des Gelingens des Planes in etwa im Kopf berech-nen, aber wenn es der Plan war, für den die Führungsspitze von NERV sich entschieden hatte, um den Engel aufzuhalten, war es mit Sicherheit jener, der den größten Erfolg versprach.
Mittlerweile waren die Bewohner der Stadt in die Bunker evakuiert worden, so daß sie nicht befürchten mußten, jemanden plattzuwalzen, wenn sie losrannten... und es würde auch keine Unfälle geben wie bei Suzuhara-kuns Schwester... Shinji-kun hatte ihr von Mari Suzuhara be-richtet... und seinen Schuldgefühlen...

Aus den Tiefen des EVA-Bewußtseins stieg ein Gefühl von Hunger auf.
Der Engel mußte nahe genug herangekommen sein, daß EVA-00 ihn wahrnehmen konnte, aber noch war es kein Problem, noch verspürte sie nicht den unerträglichen Blutdurst und den Drang zu zerstören...


*** NGE ***


Shinji hockte hinter der Steuerung seines EVAs und wartete.
Asuka war verdächtig ruhig... ob sie etwas plante? Ihr war es durchaus zuzutrauen, daß sie versuchte, den Engel allein aufzuhalten...
Und Rei... Rei-chan... sie war die Konzentration in Person...
Wenn es ihnen nicht gelang, den Engel zu stoppen, würde er die ganze Stadt einschließlich der darunterliegenden Geofront vernichten... eigentlich hatten noch nie derart viele Leben auf ein-mal von ihrem Einsatz abgehangen... andererseits hing der Fortbestand der Menschheit von ih-rem Sieg ab...
Er spürte den Hunger in sich aufsteigen... nein... nicht in sich... es war der Hunger des EVAs... dann folgten der Zorn und der Haß...
Das konnte nur bedeuten, daß der Engel in Reichweite war...

Der taktische Bildschirm zeigte den voraussichtlichen Aufschlagpunkt.

\"Sektor B-2! Stromversorgung wird ausgeklinkt!\" rief Misato. \"Start!\"

Die drei EVAs rannten los.
Jeder der drei Piloten spürte den Haß, den der jeweilige EVANGELION ausstrahlte, jeder von ihnen hörte den Lockruf des Blutes, vernahm das stete Pulsieren des Kerns des Engels...

Zerstören...

Vernichten...

Der Hunger trieb sie voran, ließ sie regelrecht dahinrasen...

Töten...

Shinji stemmte sich gegen den dunklen Drang.
Er mußte sich konzentrieren... sie sollten den Engel auffangen... wenn er den EVA nicht unter Kontrolle behielt, würde er sich stattdessen auf den Gegner stürzen, um ihn zu zerreißen, egal, ob dabei die Stadt vielleicht zerstört wurde...
Er sah den Engel, ein rasch größer werdender Punkt am Himmel...

Zerreißen...

Er mußte durchhalten, durfte nicht die Kontrolle verlieren...

Im Laufen zog er das PROG-Messer aus der Schulterpanzerung.

Der taktische Schirm zeigte schematisch, wo sich das Herz des Engels befand... im Inneren des zentralen Auges...

Das Messer mußte in sein Herz... nur noch daran denken... ins Herz... Kontrolle...

Er biß sich auf die Zunge, hatte kurzfristig den Kopf klar.

Der Engel...


*** NGE ***


\"Aufschlag... jetzt!\" rief Ritsuko.

Misato hielt den Atem an, kniff die Augen zu.
Entweder die drei schafften es, oder gleich war alles aus...

Der große Monitor zeigte eine grelle Explosion.

Misato blinzelte.
Sie waren noch da...
\"Ritsuko...?\"

Akagi sah über die Schulter.
\"Ziel: Sahakiel zerstört.\"

\"Die EVAs?\"

\"Ihre AT-Felder haben die Explosion eingedämmt. Schäden diesseits der Hayflick-Grenze.\"

\"Die Piloten, Ritsuko, was ist mit den Kindern?\"

Maya meldete sich über InterKom.
\"Lebenszeichen der Piloten sind stabil.\"

\"Danke, Maya. - Ich gehe nach oben.\"
Misato verließ die Zentrale, fuhr mit dem Aufzug an die Oberfläche.


*** NGE ***


Kaji war bereits vor Ort, neben ihm stand Asuka, ein Handtuch um die Schultern und einen wütenden Ausdruck im Gesicht.

Misato kam hinzu.
\"Kaji, wo sind Shinji und Rei?\"

\"Da drüber, Katsuragi.\"
Er deutete in die Richtung, in die Asuka wütend starrte.

\"Oh...\"
Misato mußte zweimal hinsehen.
Dort standen die beiden tatsächlich engumschlungen.

\"Müssen die das in aller Öffentlichkeit machen? Das ist sowas von obszön!\" brummte Asuka.

Kaji lachte.
\"Ich nenne das Streßabbau.\"

\"So, Kaji? Ich habe im Augenblick auch jeden Streß...\"
Sie klimperte mit den Wimpern.

Kaji klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
\"Das wird schon wieder, Asuka.\"

Sie blickte ihn finster an.

Misato ging zu Shinji und Rei hinüber.
\"Na, ihr beiden...\"

Die beiden angesprochenen fuhren auseinander, blieben aber nahe genug zueinander stehen, um einander den Arm um die Taille zu legen.

\"Auftrag ausgeführt, Major.\" meldete Rei.

Shinji nickte enthusiastisch.

\"Könnt ihr mir erklären, was ihr da macht?\"

\"Uh... Misato...\"

Katsuragi seufzte.
\"Das war eigentlich vorauszusehen... seid vorsichtig...\"

\"Major, ich kann Ihnen versichern, daß nichts geschehen ist oder geschehen wird, das meine Einsatzfähigkeit einschränken könnte.\"

Shinji zuckte zusammen.
Wie meinte Rei-chan das nur...

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