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Fanfiction Übersicht - Epik

Titel: Retelling a Story
Autor: Ulrich-Alexander Schmidt
Kurzbeschreibung: Retelling a Story lässt sich nur schwer zusammen fassen. Es ist eine der besten, wenn nicht die beste deutsche Fanfiction die es gibt.

Der Autor führt euch in eine Welt, aus der ihr nicht raus kommt, ehe ihr sie komplett durch gelesen habt.

Allerdings muss ich euch warnen. Mit insgesammt 322176 Wörtern (bei Schriftgröße 10 entspricht dies 857 Seiten) ist sie auch eine der längsten Fanfiction.


Retelling a Story 0:1

Retelling a Story 0:2

Retelling a Story 0:3

Retelling a Story 0:4

Retelling a Story 0:5
Neon Genesis Evangelion - FanFiction


Retelling a Story

0:5

(Episode 25/26 + EoE)

(Abzweigung 04)



von Ulrich-Alexander Schmidt
Fassung vom 02.02.2002




Legal Boilerplate:
NGE und die Charaktere sind Eigentum von GAINAX, etc.pp.



Sämtliche Fehler in der Charakterisierung sind ganz allein mir selbst zuzurechnen.


Kapitel 54 - Dämmerung

Doktor Ritsuko Akagi, ihres Zeichens beim NERV-Oberkommandierenden in Ungnade gefallender Leitender Wissenschaftlicher Offizier mit eingeschränkter Kommandogewalt, staunte nicht schlecht, als sie auf Bitte ihrer alten Freundin, Misato Katsuragi, dem Taktischen Offizier des NERV-Hauptquartiers und Kommandantin des EVANGELION-Pilotenkorps, auf die Krankenstation kam.

Schon vor dem Warteraum drängten sich die Ärzte, Pfleger und Schwestern und tuschelten leise.
Akagi bahnte sich mit ausdrucksloser Miene einen Weg durch den Kordon, vermied es, irgend jemandem direkt ins Gesicht zu blicken. Noch zu frisch war die Erinnerung an die letzte Erniedrigung, die sie durch NERV-Kommandanten Gendo Ikari erlitten hatte, welcher sie in bewußtlosem Zustand von zwei Wachen nackt durch das halbe Hauptquartier hatte schleifen lassen, weil sie seine Pläne sabotiert hatte.
Ihr folgte Leutnant Maya Ibuki, ihre Assistentin, deren Blick unsicher hin- und herirrte.

Die wahre Überraschung aber erwartete sie hinter der Tür des Warteraumes - dieser war auf den ersten Blick proppenvoll mit Menschen.
Auf einem der wenigen Stühle saß Kozo Fuyutsuki, der grauhaarige Stellvertretende Kommandant, den Kopf auf beide Hände gestützt und die Augen geschlossen.
Hinter ihm stand Major Ryoji Kaji, Leiter der Strategischen Planungsabteilung, wie immer unrasiert, doch ungewöhnlicherweise ohne sein ansonsten ständiges jungenhaftes Grinsen, gegen die Wand gelehnt.
Neben Fuyutsuki stand Shinji Ikari, der vierzehnjährige Sohn Gendo Ikaris, bis vor kurzem noch Mitglied des Pilotenkorps und Pilot von EVANGELION-Einheit-01, von seinem Vater verachtet und ungeliebt.
Auf seinen Armen trug der Junge die zerbrechlich wirkende Gestalt Rei Ayanamis, ebenfalls vierzehn Jahre alt und ebenfalls bis vor kurzem Pilotin eines EVANGELIONs - EVA-00, welcher vor mittlerweile anderthalb Tagen durch EVA-01 unter Einfluß der DummyPlug-Fernsteuerung vernichtet worden war. Die Anwesenheit des Mädchens im CentralDogma konnte nur größte Schwierigkeiten bedeuten, hatte Gendo Ikari doch versucht, die ihm unbequem gewordene Rei mittels des DummyPlugs zu eliminieren. Wenn er erfuhr, daß sie jetzt im Hauptquartier - auf der Krankenstation - war, würde er sie nicht wieder lebend entkommen lassen...
Rei hatte die Arme um Shinjis Hals gelegt und schmiegte sich dicht an ihn, ihr schien es besser zu gehen, als Ritsuko sie in Erinnerung hatte - als sie ihr in der Mitte der letzten Nacht begegnet war, hatte Rei vor Fieber regelrecht geglüht, ohne daß die Wissenschaftlerin etwas hätte tun können, das nicht Ikaris Schergen auf den Plan gerufen hätte.
Akagi war nur froh, daß die andere Rei nicht mehr im Hauptquartier war - sie war sich nicht sicher, was bei einer Begegnung von Rei-III und ihrer Vorgängerin geschehen könnte...
Neben Shinji Ikari stand Misato Katsuragi, wie auch die anderen wirkte sie sehr erschöpft und übernächtigt. Ihre rechte Hand befand sich ständig in der Nähe ihres Schulterhalfters, während sie nervös die letzte Person im Raum beäugte.
- Aber es das überhaupt eine Person?
Ritsuko selbst mußte schlucken, als sie des Wesens in der Ecke gewahr wurde, jetzt wurde ihr auch klar, weshalb sich die ganze Belegschaft der Abteilung auf dem Korridor versammelt hatte...
Groß, breit, kantig, so ließ sich die Kreatur vielleicht am besten beschreiben. Humanoid, menschenähnlich - zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf, dazwischen ein Torso, alles in menschlichen Proportionen. Nur saß auf dem Hals ein Stahlschädel mit zwei rotglühenden Kameraaugen, von dem noch in Fetzen künstliche Haut herabhing. Auf dem Boden lagen weitere Hautfetzen, gerade zog der Metallmann - Akagi entschied sich aufgrund der breiten Schultern dafür, daß es sich wahrscheinlich um einen \'er\' handelte - einen weiteren Hautstreifen an seinem Kinn ab.

\"Ritsuko, na endlich\", seufzte Misato.

Akagi sah sich vorsichtig um, ob sie nicht vielleicht noch jemanden übersehen hatte, es hätte sie kaum gewundert, hätte ein Riesengorilla hinter der Tür gestanden, oder wenn ein kleines graues Männchen mit großen Facettenaugen ihr eine Zigarette angeboten hätte.

\"EVA?\" stieß Maya flüsternd hervor, die beinahe gegen den Rücken ihrer Mentorin gestoßen war, als diese abrupt stehengeblieben war.

Ritsuko sah sie fragend an, folgte dann Mayas Blick zu dem Metallmann.
Ja, wenn sie ihn unter diesem Aspekt betrachtete... die Ähnlichkeit des Schädels mit dem Schädel eines seiner Panzerung beraubten EVANGELIONs war offensichtlich...
Sie holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe.
\"In Ordnung, was ist hier los? Benötigt jemand ärztliche Hilfe?\"

Mit Ausnahme Shinjis hob jeder die Hand, und dieser wahrscheinlich auf nur deshalb nicht, weil er dann das Mädchen auf seinen Armen fallengelassen hätte.

\"Okay...\" sagte Akagi gedehnt. \"Subcommander?\"

\"Gehirnerschütterung und wahrscheinlich einige Prellungen im Rückenbereich\", erklärte Fuyutsuki mit dozierendem Tonfall, als befände er sich wieder in einem Hörsaal und sprach zu seinen Studenten. Aufgrund seines doch leicht glasigen Blickes kam diese Möglichkeit sogar in Betracht.

\"Maya, bring ihn nach draußen, die Leute vor der Tür sollen sich nützlich machen!\"

\"Ja, Sempai.\"

\"Gut. Rei?\"

\"Ritsuko-san, ich glaube, Shinji-kun könnte Tee und etwas Schlaf benötigen.\" sagte das Mädchen schwach.

\"Uh...\" setzte Shinji an.

Ritsuko verdrehte die Augen.
\"Und du?\"

\"Ich glaube... ich benötige Ihre Hilfe derzeit nicht.\"

\"Ah ja... - Kaji?\"

\"Ein Aufräumteam in Katsuragis Apartmenthaus, wir haben ein paar Leichen zurückgelassen - ah, nein, die gingen nicht alle auf unser Konto.\"

\"So... Bist du verletzt?\"

\"Nee.\"
Er ließ sich auf den freigewordenen Stuhl sinken, nachdem Maya den Stellvertretenden Kommandanten hinausgebracht hatte.

\"Misato?\"

\"Ich könnte ein Bier gebrauchen. Und vielleicht irgendwas, um etwas wacher zu werden.\"

\"Und... ahm...\"
Ritsuko warf dem Metallmann einen unsicheren Blick zu.

Kaji machte eine abwinkende Handbewegung.
\"Der gehört zu uns, kein Grund zur Sorge.\"

\"Hätten Sie vielleicht einen Kanister Synthohaut für mich?\" fragte der Metallmann höflich mit wohlmodulierter Stimme.

\"Ich müßte mal...\"
Akagi blinzelte.
Was kam wohl als nächstes? Baten die EVAs in Zukunft vielleicht um Schmierölbäder? Oder wollten die MAGI Scheibenwischer auf ihren Kamerasensoren? Oder Designer-Lüfter auf den Prozessoren?

\"Ritsuko, darf ich vorstellen - das ist mein Chef, Commander Wolf Larsen von ODIN. - Commander, Doktor Ritsuko Akagi.\"

\"Angenehm, Doktor.\"

\"Äh... ja... also...\"

\"Commander Larsen hat gerade Kommandant Ikari zerlegt.\"

\"Wie, Kaji?\"

\"Er ist tot.\" sagte Shinji. Seine Stimme klang völlig ruhig, doch wenn man genau hinhörte, konnte man einen schwachen zufriedenen Unterton feststellen.

\"Gendo Ikari?\"

\"Hm-m\", nickte Kaji.

\"Tot?\"

\"Hm-m\", nickten Kaji und Shinji.

\"Er ist wirklich...\"
Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle.

\"Er sah jedenfalls ziemlich so aus mit den heraushängenden Gedärmen und dem aufgebrochenen Brustkorb. \'Habe noch niemanden gesehen, der so etwas überlebt hat.\" bestätigte Kaji.

Ritsukos Augen leuchteten auf.
\"Ich werde sofort sehen, was ich für Sie tun kann, Commander Larsen. Benötigen Sie sonst noch etwas? Vielleicht Wartung oder ein Schmierölbad oder eine Reinigung der Oberfläche mittels eines Sandstrahlgebläses?\"

\"Ähm, Ritsuko...\" setzte Kaji an.

\"Lassen Sie nur, Ryoji. - Vielen Dank, Doktor, aber ich wäre mit einem neuen Gesicht völlig zufrieden. Allerdings... ich habe gehört, Sie hätte Asuka hier unten...\"

\"Ja...\"

Der Cyborg fand sich plötzlich im Mittelpunkt des Interesses.

Misato öffnete den Mund.
\"Meine Güte... der Name... Sie sind...\"

Ritsuko Akagi schüttelte den Kopf.
Kaum glaubte man, die Realität wieder einigermaßen im Griff zu haben, da kam der nächste Schock.
\"Wolf Larsen - Asukas Patenonkel...\"

Shinji wich einen Schritt zur Seite aus. Vielmehr Platz hatte er auch nicht.
Wenn in Asukas Familie alle so aussahen, dann waren ihre psychotischen Tendenzen vielleicht wirklich nicht ihr Verschulden...

\"Ich würde sie gerne sehen.\"

\"Ja... Das... sollte möglich sein...\"

\"Danke.\"

\"Uh, Doktor Akagi...\"

\"Shinji?\"

\"Ist Nagisa-kun in seinem Quartier?\"

\"Denke schon... Moment mal... - Maya!\"

\"Sempai?\"

Akagi zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß ihre Assistentin wieder in den Warteraum zurückkehrt war und hinter ihr stand.
\"Wenn Kommandant Ikari tot ist, dann ist Fuyutsuki jetzt hier der Chef. Geh zu ihm und bitte ihn von mir, er möge meine Zugangsbeschränkungen zu den MAGI aufheben.\"

\"Kommandant Ikari ist tot, Sempai?\"

\"Ja.\" antwortete Ritsuko.

\"Wirklich?\"

\"Ja.\" antworteten Ritsuko, Kaji, Shinji, Misato und - ganz leise - Rei.

\"Wow. Wann wird gefeiert?\"

\"Maya...\"

\"Ja, Sempai?\"

\"Fuyutsuki...\"

\"\'Bin schon unterwegs!\"

\"Gut.\"
Sie holte ihren Palmtop hervor, drückte ein paar Tasten.
\"Oh, Shinji, doch nicht. Kaworu ist im EVA-Hangar!\"

Shinjis Augen wurden groß.
\"Wir müssen ganz dringend zu ihm!\"
Er lief an Ritsuko vorbei durch die Tür, welche sich hinter Maya noch nicht wieder geschlossen hatte, Rei dabei immer noch tragend, als hätte er völlig vergessen, daß sie ein eigenständiges Lebewesen und nicht mit ihm zusammengewachsen war .

\"Das ist ja hier wie im Hühnerstall...\" seufzte Akagi. \"Okay, Aufräumtrupp rückt aus, sobald meine Kommandocodes wiederhergestellt sind. Wieviele Tote?\"

\"Wenigstens drei. - Und Ikari, natürlich.\" sagte Kaji.

\"Ich empfehle Dekontaminationsmaßnahmen bei letzterem\", erklärte Larsen.

\"Ikari schien von einem fremden Organismus befallen zu sein. Ich tippe auf einen Engel.\"

\"Ikari?\"
Ritsuko schüttelte ungläubig wieder den Kopf.
Andererseits... das geschah dem Mistkerl recht...


*** NGE ***


Kaworu stand auf einem der Laufstege in Brusthöhe von EVA-02 und betrachtete den roten EVA. Die Verbrennungen an seinen Händen waren bereits verheilt - nachdem er am vorherigen Morgen den EntryPlug verlassen hatte, waren die noch übel zugerichteten Handflächen bandagiert worden, danach hatte man ihn mehr oder weniger vergessen, so daß er seiner Verpflichtung gegenüber dem ausgeliehenen Körper hatte nachkommen und die Verletzungen regenerieren können.
Zudem befand er sich seit über einem Tag in einem Zustand der Verwirrung, in seinem Umfeld hatte sich einfach zuviel geändert. Engel waren nicht für Veränderungen geschaffen, es fiel ihnen schwer sich anzupassen, ebenso wie sie eigentlich nur zu eigenen Entscheidungen imstande waren, wenn sich die Bedingungen änderten. Deshalb wäre er auch nicht fähig gewesen, das Shinji-kun gegebene Versprechen zu brechen, solange er nicht über bedeutende Veränderungen Kenntnis erhielt.
Die Ursache seiner Verwirrung lag einerseits darin, daß Shinji-kun nicht mehr zum Pilotenteam gehören sollte, andererseits darin, daß er zwar den Todesschrei seines älteren Zwillingsbruders Armisael wahrgenommen hatte wie eine Messerklinge, die sich in seine Brust bohrte, seine Gegenwart war dennoch immer noch irgendwie spüren konnte.
Und irgendwie war wohl auch Ayanami mit Armisael gestorben, obwohl er ihr kurz darauf im Krankenflügel begegnet war und eine zuvor nichtwahrnehmbare Ähnlichkeit gespürt hatte... aber wenn Lilims starben, dann endete für sie die Existenz, wie konnte Ayanami dann mit EVA-00 gestorben sein und dennoch leben? - Außer natürlich, es war eine andere, als jene, die er kennengelernt hatte...
Das waren wohl ausreichende Gründe, die Situation neu zu bewerten, selbst für einen Engel...
Also war es wohl soweit...

Kaworu holte tief Atem.
Und Tabris hob die Hand...
\"Erwache!\"

Die Augen von Einheit-02 glühten auf.
Der EVA richtete sich in seinen Fesseln auf.

Tabris drehte sich um 120°, blickte in Richtung des Panzerschottes, hinter dem der Gang zum Zentralen Schacht lag. EVA-02 würde sein Leibwächter während des Abstieges sein.

Alarmsirenen heulten auf.

Noch einmal hielt Tabris inne, zögerte auf für seine Art völlig uncharakteristische Weise.
Dann begann er zu schweben, erhob sich mit jedem Herzschlag einen weiteren Zentimeter in die Luft, genoß es, seinen Kräften freien Lauf zu lassen.

\"Nagisa-kun, nicht!\"

Tabris sah zur Seite.
Ikari-kun kam über einen der tieferen Stege herangehastet, auf den Armen Ayanami tragend. Und zugleich nahm er Armisaels Nähe wahr... wo war sein Bruder? Und Ayanami... das war nicht jene Ayanami, die er zuletzt getroffen hatte...
Erneut spürte er tiefste Verwirrung, ließ sich auf den Steg zurücksinken, verbarg den Gutteil seines wahren Wesens wieder hinter der Maske des Lilimkörpers.

Noch mehr Lilim stürmten in den Hangar, größtenteils Techniker und Ingenieure, darunter aber auch ein paar Wissenschaftler und Sicherheitskräfte. Ihre Aufmerksamkeit galt aber nicht Kaworu Nagisa, sondern dem EVA, der immer noch aufgerichtet in seinem Käfig stand und auf weitere Anweisungen wartete.

Langsam wanderte Kaworu Shinji-kun entgegen, nahm dabei Armisaels Gegenwart stärker und stärker wahr... die Quelle war Ayanami...
Einen endlos langen Moment verspürte er Trauer.
Sein Bruder war nicht mehr, sein Bewußtsein in der Unendlichkeit verweht...
Und zugleich empfand er Freude.
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten war ein neuer Engel geboren worden...


*** NGE ***


Röchelnd sogen Gendo Ikaris Lungen nach über einer Viertelstunde erstmals wieder Luft ein, nachdem sein Brustkorb sich wieder geschlossen hatte. Geschlossen hatten sich auch die übrigen Verletzungen, jene tiefen Schnitte, die ihm sein Gegner zugefügt hatte, dieses Wesen halb Lilim halb Maschine, für das sein AT-Feld kein nennenswertes Hindernis dargestellt hatte...
Die neugebildete Haut über den zuvor weit klaffenden Wunden war von feinen weichen Schuppen bedeckt, ebenso wie mittlerweile sein Hals und ein Teil seines Gesichtes. Sein linkes Auge trat leicht aus der Höhle, die Pupille hatte eine ovale Form angenommen.

Er war nicht mehr Gendo Ikari, aber auch noch nicht gänzlich ADAM...

Der Lilimkörper war schwach und verletzlich, wie konnten Lilim derart existieren? Mußte ihnen der Tod da nicht wie eine Erlösung vorkommen?
Sie waren so schwach wie alle Werke LILITHs. Sie verdienten es, zerstört zu werden, nur um LILITH zu zeigen, wie vergänglich ihr Werk war...

Ruckartig setzte er sich auf, zog die Beine an.
So viele Knochen und Gelenke, so zerbrechlich...

Aus dem Sitzen stand er auf, spürte im nächsten Moment, daß der Körper Gendo Ikaris für derartige Bewegungen nicht geschaffen war, als er gezwungen wurde, Muskelzerrungen zu regenerieren.

Steifbeinig setzte er sich in Bewegung...


*** NGE ***


Mit völligem Desinteresse sah Rei Ayanami sich in der ihr zugewiesenen Wohnung um.

Sie war die Dritte...

Die Schranktüren und Schubladen standen offen, verrieten leere Schrankfächer und Schubladen. Das Bett war nicht bezogen.

Es war ihr egal.
Sie benötigte keine weiteren Sachen, als jene, die sie am Leib trug.
Und sie benötigte keinen Schlaf.

Auf dem Boden war eine leichte Staubschicht, so als ob das Apartment ein paar Wochen leergestanden hätte.

Es war ihr egal.

Methodisch begann sie, die Verbände zu entfernen, welche ohnehin nur gesunde Körperpartien verbargen, schließlich war sie nie verletzt worden. Achtlos ließ sie die Bandagen auf den Boden fallen.
Sie verstand den Grund für die Täuschung, doch es war ihr ohnehin egal.

Ihre Kleidung stammte aus dem Spind im Umkleideraum der Piloten.
Langsam griff sie in die Tasche, zog den einzigen Gegenstand hervor, der sich unter den Sachen befunden hatte, mit dem sie nichts anfangen konnte - eine Kette mit einem Anhänger in Form eines halben Herzens.
Sie betrachtete das Objekt.
Ein halbes Herz... worin lag der Nutzen?
Achtlos ließ sie den Anhänger zwischen die Verbände fallen.


*** NGE ***


Lächelnd trat Kaworu den anderen beiden Piloten, dem Nephilim und dem Neugeborenen, gegenüber.

Ihm wurde bewußt, daß er nicht wußte, wie er seine neue Schwester begrüßen sollte - schließlich war er bisher der jüngste unter den Engeln gewesen.
\"Ich grüße dich, Ayanami.\" sagte er schließlich.

\"Nagisa-kun... dein Versprechen...\" flüsterte sie.

Sorge umwölkte Kaworus Züge.
Dies hätte ein Anlaß zur Freude sein müssen, warum machte Ayanami dann einen derartigen geschwächten Eindruck?
\"Ich dachte, ich wäre allein...\"
Er schluckte.
\"Aber ich habe mich geirrt.\"

\"Uh, Nagisa-kun... Rei geht es nicht gut.\"

\"Ja, Shinji-kun, ich spüre es. - Ayanami, mein... unser Bruder Armisael hat dir ein großes Geschenk gemacht. Aber du mußt es auch annehmen...\"

\"Wie?\"

Kaworu seufzte.
\"Du trägst eine Quelle der Kraft in dir.\"

\"Ein S2-Organ...\"

\"Ahm... Rei-chan... das ist ja unglaublich. Wir haben beide...\"

\"Ja. Ist das der Grund?\"

\"Das denke ich. Du mußt es zulassen, mußt der Kraft erlauben, mit dir eins zu werden.\"

\"Aber... Nagisa-kun, wie soll Rei das tun?\"

\"Das... Shinji-kun, das weiß ich auch nicht. Bisher ist soetwas noch nie vorgekommen.\"

Automatisch hielt Shinji Rei fester.
Wenn er ehrlich war, störte ihn ihre Schwäche nicht sonderlich, so hatte er wenigstens einen Grund, sie ständig und überall hin zu tragen. Und irgendwie gefiel ihm auch die Tatsache, daß er es war, der sie jetzt beschützen mußte. Allerdings besorgte ihn ihr schlechter Allgemeinzustand.
\"Hast du gar keine...\"

\"Schwer... es ist wie eine zweite Geburt, Shinji-kun...\"

\"Das... uhm... das schaffen wir schon... nicht, Rei-chan?!\"

Rei nickte schwach..

\"Nagisa-kun... Kaworu... kannst du ihr nicht so helfen, wie du mir geholfen hast? Uhm, so mit Handauflegen?\"

\"Nein, das war etwas ganz anderes. Das S2-Organ in deiner Brust brauchte nur einen kleinen Anstoß. Aber bei Ayanami liegen die Dinge anders... ihre beiden Hälften... Lilim und Mensch... liegen im Konflikt. - Ayanami, du mußt deinen wahren Namen in Erfahrung bringen...\"


*** NGE **


Larsen betrachtete sich im Spiegel.
Die neu aufgetragene Kunsthaut war heller als der Typ, den er gewöhnlich verwandte, auch war ihm das Nachmodellieren seiner Gesichtszüge weitaus weniger gut gelungen, als dies normalerweise bei den Spezialisten seines Dienstes der Fall war.
Es mußte genügen...

Vor der Tür wartete Maya mit dem Auftrag, ihn zu Asuka zu bringen.
Sie wich von der Tür zurück, als sie durch die Milchglasscheibe den massiven Schatten des Cyborgs nahen sah.

\"Können wir, Leutnant?\"

\"Ja...\"
Ibuki war sich unsicher, wie sie den anderen ansprechen sollte, so daß sie bei knappen Antworten blieb. Die Synthohaut spannte sich über dem Metallschädel des Maschinenmannes. Wenigstens hatte er Kontaktlinsen eingesetzt, so daß er anstelle der roten Kameraaugen dunkelbraune Augen hatte.
\"Ihre Hände, Sir...\"

Larsen blickte kurz auf seine stählernen Hände, die aus den Ärmeln seines Hemdes schauten.
\"Die Synthohaut ist nicht widerstandsfähig genug, sie würde nur einreißen.\"

\"Ah... äh, ja.\"

\"Bringen Sie mich bitte zu meiner Nichte.\"


*** NGE ***


Asuka lag an mehrere Monitore angeschlossen in ihrem Bett auf der Krankenstation. Ihr Gesicht war blaß, der obere Teil des Kopfes bandagiert.

Stumm musterte Larsen das ausdruckslose Gesicht des Mädchens, widmete sich dann den Anzeigen der Monitore.
\"Lassen Sie uns bitte allein, Leutnant.\"

Maya nickte.
\"Natürlich.\"
Es fiel ihr schwer, ihre Erleichterung zu verbergen.
Der Fremde war ihr unheimlich, egal wie sehr Major Kaji ihm vertraute, egal wie entgegenkommend Sempai Akagi ihm gegenüber war, weil er den Kommandanten getötet hatte. Ein Geschöpf aus Fleisch, Blut, Plastik und Stahl...
Sie verließ den Raum.

Der Cyborg kauerte sich neben das Bett, streckte die Hand aus, strich mit dem Handrücken sanft über Asukas Wange.
\"Hallo... es ist eine Weile her, Asuka...\"

Natürlich antwortete sie nicht...

Larsen schloß kurz die Augen, fragte sich nicht zum ersten Mal in den letzten elf Jahren, ob es Absicht, Unterlassen oder Gleichgültigkeit der Erbauer seiner kybernetischen Hälfte gewesen war, daß er nicht fähig war zu weinen.
Der Second Impact hatte ihn nicht nur seine Augen und die Tränendrüsen, sondern auch Geruchs- und Geschmacksinn gekostet, an deren Stelle waren analytische Sensoren und weitere Computer getreten. Selbst sein Tastsinn war nur noch rudimentär vorhanden, wirkliches Gefühl besaß er nur noch in seinem organischen Bein und der Bauchregion, der Rest seines Körpers reagierte zwar auf Druck, aber mit wahrem Tastsinn ließ sich das nicht vergleichen.
Seine kleine Familie war alles gewesen, daß ihm noch die Reste seiner Menschlichkeit bewahrt hatte, ein Anker zwischen Schaltkreisen und Sensoren. Erst traf es Ann, jetzt Asuka.
Die Monitore zeigten stabile, wenn auch schwache Vitalfunktionen, sowie schwache Gehirnaktivitäten, wobei letztere allerdings nicht sonderlich aussagekräftig in der Beziehung waren, ob seine Patentochter jemals wieder aus ihrem tiefen Koma erwachen würde.
Er wußte, wie es unter dem Verband aussah - eine leere Augenhöhle, ein Stück fehlender Schädelknochen, mehrere Operationsnarben... die Kugel, welche Asuka getroffen hatte, hatte mehrere Haarrisse in ihrem Schädelknochen erzeugt, welche sorgfältig wieder zusammengeschweißt worden waren, allerdings hatte der Treffer sie auch ins Koma versetzt. Und es war höchst fraglich, ob sie nicht vielleicht schwerste Gehirnschäden davongetragen hatte...

\"Asuka, was machst du nur für Dinge... ich mache mir solche Sorgen um dich...\"

Sein Blick war auf die Monitore gerichtet.
Denen zufolge reagierte Asuka nicht auf seine Worte...
Er sprach weiter, redete Belanglosigkeiten, rief Erinnerungen an bessere Zeiten wach...
Nichts geschah...

Schließlich richtete er sich auf, wandte sich zur Tür, hielt inne.
Asuka lebte noch, aber war das nicht eher ein Dahinvegetieren?
Keine höhere Gehirnaktivität...
Hätte seine Patentochter ebenfalls über ein PROPHET-Interface verfügt, hätte er versucht, auf diesem Weg in ihren Geist einzutauchen und sie zu finden...
Aber es gab keine Hoffnung, er hatte schon zuviele Menschen gesehen, die sich in einem solchen Zustand befunden hatten, nach dem Impact hatte um ihn herum ein einziges Sterben stattgefunden...
Sie atmete noch, ihr Herz schlug noch, aber alle höheren Gehirnfunktionen schienen nicht mehr anzusprechen.
Langsam drehte er sich wieder um, trat wieder an das Bett, beugte sich nach vorn und berührte ihre Stirn mit den Lippen.

\"Auf Wiedersehen...\"

Er ballte die Faust, plazierte sie unter ihrem Kinn.
Ein Gedankenimpuls, eine kurze Bewegung, und die Klingen würden zwischen den Knöcheln hervorschießen und sich durch Kiefer und Gaumen in Asukas Gehirn bohren, um die Angelegenheit zu beenden...


*** NGE ***


Zum Beginn der Spätschicht hatte Kozo Fuyutsuki die Offiziere in die Kommandozentrale gerufen, um sie über den Stand der Dinge zu informieren.

Der Stellvertretende Kommandant saß in Hemdsärmeln an einem der Terminals, er hatte nie große Begeisterung für Ikaris Kommandostand empfunden, in dem man soweit von den anderen Offizieren entfernt war. Sein Kopf pochte immer noch, aber wenigstens sah er nicht mehr doppelt. Man hatte ihm eigentlich wegen seiner Gehirnerschütterung strenge Bettruhe verordnet, aber er wollte diese Ankündigung persönlich machen, ehe er sich wieder hinlegte.
Doch zuerst galt es, sich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen.

\"Doktor Akagi, mir wurde zugetragen, daß es im Hangar einen Zwischenfall gegeben hätte.\"

\"EVA-02 hat sich bewegt.\"

\"Der nicht auch noch... reicht es nicht, daß Einheit-01 mit ihren Zuckungen die Technikercrews in Panik versetzt?\" murmelte Fuyutsuki.

\"Sir?\"

\"Nichts. Und?\"

\"Nun, zu der fraglichen Zeit waren die Überwachungskameras offline, die MAGI gaben Alarm wegen eines Blauen Musters, widerriefen die Meldung aber kurz darauf.\"

\"Könnte sich in EVA-02 etwas manifestiert haben, möglicherweise der letzte Engel?\"

\"Negativ, Sir.\"

\"Hm... Lassen Sie EVA-02 weiter beobachten, ich möchte keine Überraschungen. Und legen Sie sich im Anschluß an meine Erklärung ein wenig hin, Sie sind doch mittlerweile schon wieder seit wenigstens drei Schichten auf den Beinen.\"

\"Ich weiß nicht, ob ich mir etwas Ruhe gönnen kann, Subcommander. Es gibt Komplikationen mit dem Aufräumtrupp.\"

\"Berichten Sie.\"

\"Das Apartmenthaus, in dem Major Katsuragi wohnt, wurde geräumt...\"

\"Das dachte ich mir schon.\" sagte Fuyutsuki mit einem Seitenblick zu Misato Katsuragi, welche einen Pinguin auf den Armen trug.
Nur nicht weiter darüber nachdenken, wo der Vogel eventuell herkam...

\"...allerdings konnte das Säuberungsteam nicht Ikaris Leiche finden.\"

\"Verdammt... Könnte die Leiche sich aufgelöst haben?\"

\"Kaji ist vor Ort, um sich ein Bild zu machen, ob eine Selbstzerstörung stattgefunden hat. Sind Sie sich denn wirklich sicher, daß er auch tot war?\"

\"Doktor Akagi, kein Mensch überlebt solche Verletzungen. Von Ikari haben Teile das Licht gesehen, welche dafür wirklich nicht vorgesehen waren.\"

\"Ich... ich wollte nur sicher gehen.\"

\"Ja. Natürlich... Hm... Aber das ändert nichts an dem, was ich erklären wollte. Doktor, würden Sie wohl...\"

Akagi trat zur Seite.

Fuyutsuki drehte seinen Stuhl ein wenig, so daß er in die Runde der versammelten Offiziere und Abteilungsleiter blicken konnte.
\"Vielleicht haben Sie es bereits gehört - auch bei NERV verbreiten sich Gerüchte mit der üblichen Geschwindigkeit... Kommandant Gendo Ikari lebt nicht mehr. Er ist denselben Mächten zum Opfer gefallen, gegen die er gekämpft hat. Kommandant Ikari wurde von einem Engel übernommen, ich habe seine Leiche gesehen. Damit bin ich wohl bis auf weiteres, das heißt bis die Vereinten Nationen darüber entschieden haben, wer künftig NERV leiten soll, Oberbefehlshaber der Organisation. Geben diese Informationen bitte an Ihre Abteilungen weiter.\"
Er sah in die Gesichter der Männer und Frauen in der Zentrale. Einige von ihnen waren erschrocken über seine Bekanntmachung bezüglich des Schicksals Gendo Ikaris, doch bei den meisten überwog eine seltsame Erleichterung darüber, daß ein neuer Mann an der Spitze stand.

Misato Katsuragi setzte PenPen ab und salutierte.
\"Wir erwarten Ihre Anweisungen, Sir.\"

Ein einziges lautes Klacken lief durch die Kommandozentrale, als die anderen Offiziere es ihr nachtaten, die Hacken zusammenschlugen und strammstanden.
19. Zwischenspiel:

Von der Veranda seines Hauses blickte Chen Li-Tsu auf das offene Meer hinaus.
Jenseits des Wassers lagen die japanischen Inseln.

\"Sie wirken nachdenklich.\"

Li-Tsu drehte sich um und begegnete dem Blick Lorenz Keels.
\"Der Plan tritt bald in die Endphase... ich gestehe, daß ich nervös bin.\"

\"Das sind wir alle - oder, General?\"

Aus der Terassentür trat Wilforth Cedrick, im Gegensatz zu beiden anderen alten Männern war er gekleidet, als wäre er eigentlich auf dem Weg zu einem Staatsempfang.
\"Es ist der Zeitpunkt, den wir seit langem erwartet haben. Der Aufstieg ist nahe.\"

Zum ersten Mal seit langen Jahren hatten sich die ersten drei Mitglieder der Verschwörung namens SEELE wieder in Fleisch und Blut getroffen.

\"Es bleibt bei dem geplanten Vorgehen, Vorsitzender?\"

Keel nickte.
\"Cedricks Spione bei NERV haben uns von Fuyutsukis Ansprache berichtet - wenn Ikari aus dem Spiel ist, müssen wir zuschlagen, solange die Lage noch unsicher ist.\"

\"Genau.\"
Cedrick deutete auf seinen Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Boden stand.
\"Ich habe bereits die nötigen Dokumente, denenzufolge die Vereinten Nationen das Kommando Eli Rabinowitz übertragen, seines Zeichens Mitglied des ODIN-Direktorats.\"

\"Ja. - Nur weiß Ihr Kollege nichts davon...\"

\"Weil ich an seine Stelle trete. Die Mittel der modernen Wissenschaft sind erstaunlich, diese lebensechten Masken aus Synthohaut hätte die CIA vor fünfzig Jahren gut gebrauchen können, ebenso wie die falschen Abdrücke und die Spezialkontaktlinsen für die Retina-Scans.\"

\"Sie riskieren viel, Cedrick.\" murmelte der Chinese.

\"Tun wir das nicht alle? Ich betrete nur als erster die Höhle des Löwen, um Ihnen den Weg zu ebnen.\"

\"Ja, und das rechnen wir Ihnen hoch an.\" erklärte Keel. \"Aber falls es Ihnen nicht gelingen sollte, in der Geofront die Kontrolle zu übernehmen, treten die Alternativpläne in Kraft.\"

\"Bekannt... schließlich habe ich sie selbst entwickelt. Zunächst ein Hackerangriff von Seiten der unter unserer Kontrolle stehenden Reserve-MAGI-Systeme, die über den ganzen Erdball verteilt sind, und wenn das nicht funktioniert, Einsatz der JSSDF, der japanischen Streitkräfte unter dem Vorwand, NERV versuche, sich der UN-Kontrolle zu entziehen. Die JSSDF werden die Verteidigungsanlagen von Tokio-3 lahmlegen und der letzten Welle den Weg öffnen - den EVANGELION-Serienmodellen. Neun Einheiten... damit sollte es ein leichtes sein, die NERV zur Verfügung stehenden EVAs auszuschalten und das Dogma zu übernehmen. Aber natürlich wird das nicht nötig sein, da ich Erfolg haben werde.\"

\"Zu große Zuversicht kann manchmal schaden!\"

\"Ja, Li-Tsu. Ebenso wie zu große Vorsicht. Ich werde das TerminalDogma für unsere Pläne öffnen!\"
Cedrick griff nach seinem Koffer und wandte sich ab.
Natürlich würden die anderen Mitglieder der Verschwörung dann nicht mehr am Leben sein, dafür würden die Attentäter sorgen, welche Wolf Larsen ausgeschickt hatte - und welche ihre Befehle jetzt unwissentlich von ihm bekamen...
55. Kapitel - Geburt eines Engels

Die Sicherheitskamera in Asukas Zimmer fokussierte sich auf den Rücken des neben dem Bett des Mädchens knienden Cyborg.

Das Bewußtsein, welches die Kontrolle über die MAGI und die mit ihnen verbundenen Kontrolleinrichtungen mittlerweile erlangt hatte, zögerte.
Naoko Akagi erkannte ihr Werk...


*** NGE ***


Larsen schloß die Augen.
Ein kurzer Gedankenbefehl an seine kybernetische Hand, ein knapper Impuls, die Klauen aus dem Handrücken hervorschießen zu lassen, und für seine Patentochter war es ausgestanden.
Aber er konnte es nicht... er konnte kein Kind töten...

Ein Beben durchlief seine massive Gestalt, als er zu lachen begann...


*** NGE ***


Ryoji Kaji kniete in einem Schutthaufen in einem ansonsten makellosen Apartment.
Der Schutt war noch einen halben Tag zuvor die Decke des Raumes gewesen. Und ebenfalls noch einen halben Tag zuvor hatte hier die Leiche Gendo Ikaris gelegen, furchtbar zugerichtet von den Stahlklauen seines Mentors...
Jetzt war die Leiche fort.
Schleifspuren gab es keine, auch keine Spuren einer Explosion, ebensowenig wie biologische Rückstände.
Ikari war von einem Engel übernommen worden, allerdings schloß Kaji eine Selbstzerstörung des Engels aus, das hätte das Apartment wahrscheinlich völlig vernichtet. Und wenn auch niemand die Leiche entfernt hatte, hieß das wohl, daß irgendwo in Tokio-3 ein Wesen mit dem Aussehen des NERV-Kommandanten unterwegs war.

\"Schöne Bescherung...\"

Kaji richtete sich auf.
Zeit, eine Treibjagd zu organisieren...


*** NGE ***


Rei Ayanami drehte sich nicht um, als in ihrem Rücken die Tür ihres Apartments aufschwang. Sie hatte nicht abgeschlossen, wozu auch, niemand würde es wagen, sich an ihr zu vergreifen. Und Wertsachen besaß sie keine.
Sie wußte, wer gekommen war. Der andere maskierte seine Aura zwar hinter dem Gesicht des Kommandanten, doch sie konnte ihn dennoch erkennen, ohne ihn anzusehen.
Es war ihr Schöpfer...

\"Komm, Rei, es ist Zeit.\"
ADAM benutzte keine Sprache der Menschen, überhaupt hatten die Laute, die er krächzend hervorstieß, keine Ähnlichkeit mit menschlichen Lauten, doch Rei-III konnte ihn problemlos verstehen.

Ihr Gott brauchte sie...
Wortlos drehte sie sich ihm zu, folgte ihm aus der Wohnung.


*** NGE ***


\"Du willst das wirklich tun?\" flüsterte Shinji Ikari.

Rei Ayanami, welche sich auf seine Schulter stützte, nickte.
\"Es gibt keinen anderen Weg.\"

Kaworu Nagisa nickte ebenfalls. Seine Miene war traurig.
\"Wenn sie keine Einigung zwischen ihrer menschlichen und ihrer anderen Hälfte erzielt, wird sie ständig mehr Kraft verlieren, weil sie nicht die Energien ihres S2-Organs anzapfen kann und ihr normales Herz nicht imstande ist, mit dem veränderten Zustand ihres Leibes klarzukommen.\"

\"Du meinst, uh... Rei-chan würde sonst... sterben?\"
Panik stand in Shinjis Gesicht geschrieben.
Alles, nur das nicht...
Lieber starb er selbst tausend Tode, als daß er mitansah, wie Rei-chan zugrundeging...

\"Ja, Shinji-kun. Wenn du die Welt so sehen könntest wie ich... Ayanamis Lilimkörper verströmt seine Kräfte in einem immer schneller werdenden Maße. Ihre Substanz zerfließt, ihr AT-Feld löst sich auf.\"

\"Kaworu... wieso?\"

\"Jedes Wesen verfügt über ein AT-Feld, es ist das Kraftfeld der Seele, welches die Existenz physischer Wesen und ihre Grenzen definiert.\"

\"Äh...\"

\"Shinji... ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit...\"
Schwach hob Rei die Hand und streichelte seine Wange.

Shinji preßte die Lippen zusammen und kämpfte gegen die Tränen.
\"Ich kann dich immer tragen... ich nehme dir alles ab, du wirst dich nie wieder anstrengen müssen... ahm... das müßte doch genügen, um deine Kraft zu bewahren...\"

\"Es würde das Kommende nur hinausschieben.\"

\"Ah... Rei-chan... ich habe Angst...\"

\"Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Ich werde dich nie verlassen, ein Teil von mir wird immer bei dir sein.\"

\"Rei-chan...\"
Ihre Worte machten es ihm nicht einfacher. Dabei hätte er es doch sein müssen, der sie tröstete, nicht umgekehrt.
Er hatte Angst, entsetzliche Angst. - Angst sie zu verlieren, Angst, daß sie nach ihrer Metamorphose in einen Engel ihn nicht mehr lieben würde... reine egoistische Furcht...
Aber es war nötig...

Sie standen vor dem Eingang zum Dampfbad.
Rei hatte sich diesen Ort für ihren Versuch, mit ihrer Engelshälfte zu verschmelzen, ausgesucht. Und sie hatte darauf bestanden, ihre vielleicht letzten Schritte als menschliches Wesen auf ihren eigenen Füßen zurückzulegen, hatte sich dabei auf Shinji und Kaworu gestützt.

\"Und... du meinst, dieser Ort...\" setzte Shinji an.

\"Ja. Er ist so gut wie die meisten anderen. Hier werde ich ungestört sein.\"
Keuchend drückte sie die Tür auf.
Sie konnte selbst spüren, wie ihre Kraft stetig nachließ. Als der Kommandant in Misato-sans Wohnung aufgetaucht war, hatte sie noch einmal ihre Reserven aktiviert, hatte sie kurzfristig Kontakt mit dem S2-Organ bekommen, welches Armisael ihr überlassen hatte, doch diese Reste waren mittlerweile beinahe aufgebraucht.
Selbst wenn sie keinen Finger mehr rührte, wenn sie sich nur noch aufs Atmen konzentrierte, würden ihre Kräfte mit der Zeit aufgebraucht werden. Sie wußte nicht, wieviel Zeit sie so vielleicht hätte herausschlagen können, aber es hätte das Ende nur verzögert.
Nein, wenn sie weiterleben wollte, dann mußte sie es jetzt tun, mußte sie jetzt versuchen, auf ihr S2-Organ Zugriff zu bekommen, solange sie dazu noch die nötige Kraft besaß... sie hatte nur einen Versuch...

Shinji beeilte sich, die Tür offenzuhalten und Rei-chan zugleich unter die Arme zu greifen, um ihre schwachen Beine zu entlasten.

Im Dampfbad war es heiß, dichte Schwaden trieben durch die Luft.
Der Raum war menschenleer, natürlich, die NERV-Angehörigen hatten wichtigeres zu tun, als es sich gutgehen zu lassen...

Mit einem Seufzen ließ Rei sich auf die Bank neben der Tür sinken und begann ihre Schuhe abzustreifen.

\"Nein\", flüsterte Shinji, \"das mache ich schon...\"
Er kniete sich vor sie und zog ihr erst die Schuhe, dann die Socken aus, blickte dann auf in ihr Gesicht, schluckte.
Rei-chan wirkte gezeichnet, tiefe Falten hatten sich in ihre Züge gegraben, ihre schönen scharlachroten Augen schienen stumpf, die Wangen eingefallen.
\"Rei...\"
Er hob eine Hand, bewegte sie vor ihrem Gesicht hin und her.

\"Ich kann dich kaum noch sehen, Shin-chan.\" gestand sie ihm.

Sein Herz begann zu rasen.
Hastig löste er die Schleife ihrer Uniform, knöpfte dann ihre Bluse auf.

Kaworu räusperte sich.
\"Ähm...\"
Er schluckte.
Sein Lilimkörper reagierte verdächtig auf dem Anblick Ayanamis in ihrem BH...
\"Ich warte besser auf dem Gang und passe auf, daß euch niemand stört...\"

Die beiden nahmen es kaum zur Kenntnis.

Shinji hakte Reis Büstenhalter auf, schälte sie dann auch aus ihren anderen Sachen und führte sie zum Beckenrand.

Mit quälender Langsamkeit ließ Rei sich ins Becken gleiten, sank auf die Knie, so daß das heiße Wasser über ihren Brüsten wieder zusammenschlug.
Sie schloß die Augen.
Wasser...
Das Wasser war ihr Element...
Aus Wasser war sie erschaffen worden, in Wasser war sie geboren worden...
Wenn es ihr irgendwo gelingen konnte, mit der anderen Hälfte ihres Wesens in Kontakt zu treten, dann an einem Ort wie diesem.
Ihr Atem ging flach und stoßweise. Jeder Atemzug kostete sie große Kraft.
Ihr Herzschlag ging träge.
Ihr Körper war nicht dazu geschaffen worden, viel älter zu werden. Beinahe fünf Jahre waren vergangen, seit sie erstmals den LCL-Tank verlassen hatte. Fünf Jahre... was auch geschah, sie bereute nichts...
Sie spürte eine Bewegung neben sich im Wasser, öffnete die Augen, nahm undeutlich die nackte Gestalt neben sich im Wasser wahr.
\"Shinji...\"

\"Ja.\"
Shinji hockte neben ihr im Wasser, das Gesicht verzogen, weil er ohne Vorbereitungen in das hochtemperierte Wasser gestiegen war.
\"Ich bin an deiner Seite.\"

Sie nickte, schloß wieder die Augen.
Es war gut, ihn nahe zu wissen.
Ihr Shin-chan, der ihr mehr bedeutete, als alles andere auf der Welt...
Es war, als teilten sie eine Seele. Sie spürte seine Sorge um sie, nahm seine Angst und seine Furcht wahr. - Und seine Liebe...
Ihr Atem ging immer flacher, während sie sich konzentrierte.
Ihre Hände glitten über ihren Körper, von den Schultern über ihre Brust, verblieben auf Höhe ihres Bauches, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ihrem S2-Organ zu lenken.
Ihre Kraft war beinahe aufgebraucht...
Röchelnd öffnete sie die Augen, streckte die Hand nach Shinji aus, verdrehte die Augen und kippte zur Seite...

Shinji hechtete vorwärts, zog Reis Kopf wieder über Wasser.
Er schüttelte sie leicht, flüsterte ihre Namen, wiederholte ihn lauter, nannte ihn erneut, schrie schließlich...


*** NGE ***


Rei blickte vom Beckenrand auf ihren Körper hinab, der in Shin-chans Armen trieb.
Dann sah sie an sich selbst herab.
Sie trug ihre PlugSuit, doch ihr Körper schien ihr seltsam feinstofflich zu sein.
\"Shinji... ich bin hier...\"
Ihre Worte verwehten, kaum daß sie über ihre Lippen gekommen waren.
\"Shinji...\"

Er hörte sie nicht, drehte sich nicht um, hatte nur Augen und Tränen für den leblosen Körper in seinen Armen.

\"Shinji...\"
Rei sprang ins Wasser, war überrascht, daß sie gar nichts spürte, weder Wärme noch Widerstand. Erschrocken nahm sie zur Kenntnis, daß sie und das Wasser denselben Raum einnahmen, daß es einfach träge durch sie hindurchfloß.
Sie streckte die Hand nach Shinji aus, doch ihre Finger glitten durch ihn hindurch.
Sofort zog sie die Hand wieder zurück, starrte auf ihre Finger.

Shinjis Kopf flog herum, er drehte sich mit dem Körper in seinen Armen um die eigene Achse, blickte dann wieder in das totenblasse Gesicht des Mädchens. Eine Träne fiel auf Reis Wange.

\"Ich bin ein Geist\", flüsterte Rei. Ihr Körper war tot...
Zögernd streckte sie wieder die Hand nach Shinji aus, versuchte seine Tränen zu trocken.

Wie elektrisiert sah er auf, blickte genau dorthin, wo sie stand, ohne sie zu sehen.

\"Shinji...\"
Sie bewegte ihre Hand in einer streichelnden Geste über seine Wange.

Shinji spürte zum wiederholten Mal einen kalten Hauch.
Rei in seinen Armen atmete nicht mehr... aber er nahm dennoch ihre Gegenwart wahr, als wäre sie ihm immer noch ganz nahe...
\"Rei-chan...?\"

\"Shinji, ich bin hier!\" rief sie. \"Direkt vor dir!\"

Er senkte den Blick, als er keine Antwort bekam. Womit hatte er auch gerechnet...
Schluchzend preßte er Rei an sich, wollte ihren Körper solange wie möglich warm halten, wollte die Illusion aufrechterhalten, sie würde nur schlafen und könnte jeden Moment wieder erwachen...

*Erstaunlich.* erklang es in Reis Rücken.

Sie fuhr herum, ohne daß das Wasser Widerstand leistete.

Am Beckenrand stand Armisael in der menschlichen Gestalt, in welcher er sich ihr zuvor schon gezeigt hatte...

\"Du?\"

Er war ebenso feinstofflich wie sie, sie glaubte durch ihn hindurchblicken zu können

*Bisher kannte ich ihn nur so, wie du dich an ihn erinnert hast.*

\"Was machst du hier? Ich habe...\"

*Das hier ist nur noch ein Schatten, kaum mehr als eine Erinnerung.*

\"Du hast mir dein S2-Organ übertragen.\"

*Ja, meine Quelle der Kraft.*

\"Es tötet mich.\"

*Dein eigener Körper läßt dich im Stich... oder du ihn... deinem ganzen Wesen verlangt es danach, die Kräfte der Quelle zu benutzen.*

\"Nein, das stimmt nicht.\"

*Nicht?*

\"Ich will kein Engel sein. Ich will an Shinjis Seite bleiben können.\"

*Warum sollte das eine das andere ausschließen? Dein Körper ist erdengeboren.*

\"Dann muß ich ihn nicht verlassen?\"

*Ist das deine Furcht? Wehrst du dich deshalb gegen dein Schicksal?*

\"Ja. Wahrheit.\"

*Ich verstehe. Folge mir.*

\"Wohin?\"

*Ich zeige dir, was geschehen ist und was geschehen wird...*

Die Umgebung wechselte schlagartig und vollkommen.
Verschwunden war das Dampfbad, verschwunden war das Becken mit dem heißen Wasser, verschwunden waren auch Shin-chan und ihr Körper.
Stattdessen schwebte sie eine Handbreit über einer verschneiten Ebene.
Das Weiß reichte soweit sie blicken konnte, der Himmel war von einem Blau, daß es in den Augen wehtat.
Eigentlich hätte sie frieren müssen, doch sie spürte rein gar nichts.

*Dort drüben.*
Armisael deutete nach vorn. Er schwebte neben ihr.

Sie setzten sich in Bewegung, oder vielleicht setzte sich auch der Boden unter ihnen in Bewegung und rotierte die Erde einfach unter ihnen hinweg, es machte keinen Unterschied...

Eine einsame Gestalt marschierte über das Schneefeld, dick eingepackt in Parka und Fellmantel, die Schneeschuhe sanken zentimetertief in den lockeren Schnee ein, ehe sie auf tieferliegende Eisschichten stießen.
Der Atem stieg in hellen Wölkchen von den Lippen der Gestalt, Eiskristalle hatten sich in seinem Bart angesammelt.

Rei riß die Augen auf.
Das war der Kommandant!
Und er war es nicht...
Der Mann, dem sie zusah, wie er sie durch den Schnee kämpfte, war viele Jahre jünger...

*Die Lilims schreiben das Jahr 1999. Viele von ihnen glauben, mit dem Jahrtausendwechsel würde der Teufel die Macht über die Erde an sich reißen, andere gehen davon aus, daß der Wechsel der Zeitalter großes Unheil bringen wird. Aber es ist nicht an mir zu urteilen. Sieh genau hin!*

Ikari blieb schweratmend stehen.
Vor ihm ragte ein Hügel aus dem Schnee.
Er ließ seinen Blick an der Flanke des Hügels hinaufwandern, sah dann zum Himmel empor.

Wind kam auf...
Der Himmel verdunkelte sich.
Aus einer leichten Brise wurde ein Sturm, welcher den Schnee aufwirbelte.

Ikari machte keine Anstalten die Flucht zu ergreifen, stand nur da, während um ihn herum der Schnee zu tanzen begann.

\"Warum versucht er nicht, dem Sturm zu entkommen?\"

*Er befindet sich am Ziel seiner Suche.*

Der Wind trug den Hügel Schneeschicht für Schneeschicht ab.
Und darunter kam ein liegender Gigant zum Vorschein, in dessen Brust ein langer Speer steckte.

\"ADAM.\"

*Ja. Der Urvater. Er hat den Lilim hierhergeführt. ADAM hat lange auf jemanden gewartet, der über solche Ambitionen verfügte wie dieser Lilim.*

\"Dann war der Kommandant nur ein Werkzeug?\"

*Nein. Die Lilim schmieden sich ihr Schicksal selbst. So wie ADAM ihn zu kontrollieren versucht, wird er versuchen, ADAM zu beherrschen. Dieser Lilim ist stark im Geiste.*

Ikari ging auf den freigelegten Giganten zu.

Aus ADAMs Brustwunde quoll immer noch eine durchsichtige Flüssigkeit - reines LCL.

*Beschleunigen wir das etwas, ja?*

Plötzlich hastete Ikari über die Ebene, kletterte auf den Leib des Engels.
Sein Atem pumpte in dichten Schwaden über seine Lippen, während er sich im Zeitraffer der Wunde näherte.

\"Warum zeigst du mir das?\"

*Er nimmt etwas vom Herzblut des Urvaters an sich. Daraus wird er etwas erschaffen, das die Lilim einen Virus nennen, mit dem er einhundert schwangere Lilim infizieren wird. Jene Kinder, welche überleben, werden halb Mensch, halb Engel sein - Nephilim...*

\"Shinji...\"

*Ja. Er trägt ADAMs Erbe in sich, wie auch der Wirtskörper unseres Bruders Tabris. Der Lilim Yui Ikari wird in einem Jahr eine eigene Versuchsreihe starten, dabei aber die... DNA... von LILITH verwenden.*

\"Dann ist Shinji ADAM und ich...\"

*Ihr seid vielleicht das, was ursprünglich beabsichtigt wurde.*

\"...\"

*Wir haben alles gesehen. Ich möchte dir noch einiges zeigen...*

Wieder veränderte sich die Umgebung von einem Augenblick zum nächsten.

Sie standen in einem Schlafraum, er war karg möbliert und wies keinerlei persönliche Note auf.
Auf einem schmalen Schreibtisch lagen Schulbücher.

Die Zimmertür wurde aufgestoßen, eine Frau stieß einen Jungen in einem Pyjama in das Zimmer.
\"Kein Abendessen. Nichts als Ärger mit dir! Daß du ein Fahrrad stehlen würdest... diese Schande!\"

\"Ich habe es nicht gestohlen...\"
Die Stimme des Jungen klang resignierend, so als ob er schon unzählige Male seine Unschuld beteuert hatte.
\"Tante, glaub mir doch!\"

Die Antwort der Frau bestand aus einem schnippischen \"Ha!\", dann zog sie die Tür zu.

Rei erkannte den Jungen.
Sie würde ihm in etwa sechs Jahren zum ersten Mal wirklich begegnen...
\"Shinji...?!\"

*Ja.*

Der jüngere Shinji schlurfte zu seinem Bett, ließ sich auf die Bettkante sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Sein Schluchzen ging Rei durch Mark und Bein. Sofort wollte sie sich neben ihn setzen und ihn tröstend in den Arm nehmen, mußte aber feststellen, daß sie durch das Bett hindurchsank.
\"Armisael, warum zeigst mir das?\"

*Ich weiß nicht. Du bestimmst den Kurs unserer Reise.*

\"Ich?\"

*Es ist deine Suche nach deinem wahren Namen, nicht die meine. Ich bin nur ein Anhängsel, das dich begleitet, ein Gesprächspartner, nicht mehr.*

\"Aber warum sind wir dann hier?\"

*Er ist in deinem Herzen.*

\"Das hast du schon einmal gesagt. Und es ist Wahrheit.\"

*Wegen ihm willst du dich nicht von der Existenz als Lilim lösen.*

\"Könnte ich ihn denn als Engel lieben?\"

*Es ist dein Herz.*

\"Ja... Sein Blick wirkt so leer...\"

*Das ist das Fehlen jeder Hoffnung. Jeder Traum, den er jemals hatte, wurde abgetötet.*

Erneut standen sie unvermittelt in einer neuen Umgebung.
Dieses mal war es der EVA-Hangar. Schwere Erschütterungen schienen durch das Hauptquartier zu laufen.

EVA-01 steckte bis zur Brust in einem LCL-Bad, vor ihm standen Doktor Akagi, Misato Katsuragi und Shinji Ikari. Auf dem Beobachtungsdeck weiter oben stand Gendo Ikari und blickte auf Shinji hinunter.

Eine Rolliege wurde hereingebracht, darauf sah Rei... sich selbst...

\"Der Tag, an dem der Engel Satchiel Tokio-3 angriff.\"

*Mein... unser älterer Bruder. Der ungestümste von allen. Hätten er und Zeruel zusammengearbeitet, wahrscheinlich hätte es schon an diesem Tag geendet.*

Die Liege stürzte um.
Die andere Rei versuchte sich aufzusetzen, mußte aber den Schmerzen nachgeben.

\"Die Verletzungen waren zu stark.\"

*Ja.*

Shinji rannte auf sie zu, warf sich schützend über sie, als plötzlich ein Teil der Deckenkonstruktion einbrach.

\"Er kannte mich nicht und hat mich dennoch beschützt...\"

Ein weiterer Wechsel.
Ein Standbild, wieder sah Rei sich selbst, die Erinnerung war noch recht frisch - sie hatte sich bei Shinji eingehakt, während sie über den Wochenmarkt geschlendert waren. Shin-chan trug den Einkaufskorb... das war kurz vor der Übernahme von EVA-03 durch Bardiel gewesen...

*Kannst du es sehen? - Das Band zwischen euch?*

\"Ja... Gold und silbern...\"

*Wahrheit.*

\"Wie soll ich das deuten?\"

*Nicht vielen Wesen wird ein solches Schicksal beschert. Deshalb konnte er deine Gegenwart spüren, deshalb wußte er, wo er nach dir suchen mußte. Es verbindet eure Seelen.*

\"Ja.\"

*Aber da ist noch etwas, das du sehen solltest.*

\"Du sagtest, ich würde die Stationen unserer Reise vorgeben.\"

*Das tust du auch.*

Es wurde dunkel.

\"Was...\"

*Die Zukunft ist keine feste Größe. Um entscheiden zu können, mußt du dich deinen Ängsten stellen.*

\"Was...\"

Es wurde hell.

Freier Himmel...

Grabpfeiler... zahllos, ein Feld von Gräbern...

Ein Friedhof...

Eine kleine Gruppe von Menschen umstand eine kleine Grube, in welche gerade eine Urne herabgelassen wurde.

Rei kannte sie alle...

Ritsuko-san trug einen dunklen Mantel, ihr Make-up war zerlaufen.
Neben ihr stand Maya und heulte ohne jede Hemmungen.
Kaji-san blickte mit betretener Miene zu Boden, einen Arm um Misato-san gelegt, welche sich die Augen mit einem Taschentuch trocknete.
Neben der kleinen Grube stand Subcommander Fuyutsuki und sprach etwas, Rei konnte seine Worte nicht hören, sah nur, daß er die Lippen bewegte.
Direkt vor der Grube stand Shinji mit ausdruckslosem Gesicht. Seine Augen waren leblos.

Der Subcommander beendete seine Ansprache, trat zurück.
Jeder der Anwesenden warf eine Schaufel Erde auf die Urne, als letzter Shinji, der vor dem Grabpfeiler verweilte, während die anderen sich langsam entfernten und nur Misato- und Kaji-san in einiger Entfernung stehenblieben.
Gegen den Pfeiler lehnte ein Bilderrahmen, darin befand sich ein Foto von ihr, Rei...

\"Es ist mein Grab.\"

*Das könnte es sein, wenn du dich weiterhin deiner Engelhälfte verschließt.*

\"Ich verschließe mich nicht...\"

*Wirklich?*

\"Ich versuche, sie zu erreichen...\"

*Das hast du längst. Aber du mußt sie auch annehmen.*

Shinji ging vor dem Grabpfeiler in die Knie, grub die Finger in die lockere Erde. Plötzlich konnte Rei seine Stimme hören, sie klang geisterhaft hohl.
\"Rei-chan, du warst alles, was ich brauchte. Du warst meine Wünsche und meine Hoffnungen. Jetzt habe ich nichts mehr...\"

Die Sonne wanderte über den Himmel, wurde vom Mond abgelöst, löste dann diesen wieder am Firmament ab.

Und Shinjis toter Körper lag auf Reis Grab, in der Hand noch Misato-sans Dienstwaffe, mit der er sich in den Kopf geschossen hatte...

Rei schloß die Augen, verbarg ihr Gesicht in den Händen, wandte sich von dem Anblick ab.
\"Das darf nicht geschehen...\"

*Wenn er dich verliert, wird er dir folgen.*

\"Was... was würde geschehen?\"

*Die Lilim selbst entscheiden, was mit ihnen nach dem Ende der physischen Existenz geschieht. Ich schätze, er wird sich der Verdammung ausliefern.*

\"Nein...\"

*Wenn er dich verliert, verliert er alle Hoffnung.*

\"Alle Hoffnung... nein... das darf nicht geschehen... alle Hoffnung... sehe ich deshalb diese Bilder? Befinde ich mich deshalb auf dieser Reise? Ist das mein wahrer Name? Hoffnung?\"

Armisael lächelte.
*Du mußt es selbst wissen.*

\"Hoffnung...\"


*** NGE ***


Shinji hielt den leblosen Körper seiner Geliebten immer noch in den Armen, hielt Reis Leib so, daß er ihr Gesicht gegen seine Schulter preßte und sein eigenes Gesicht in ihrem Haar vergrub, während er leise weinte.

Warum war das Schicksal so grausam... warum hatte er sie im Wald gefunden, warum hatten sie die Begegnung mit dem Kommandanten überlebt? - Nur damit Rei-chan dennoch starb?
Das war nicht fair! Das...
Nichts war fair...
Wie grausam...

Plötzlich spürte er eisige Kälte, wie vor wenigen Augenblick schon einmal, als er geglaubt hatte, Reis Präsenz direkt vor sich zu spüren.

Ein Beben ging durch den Körper in seinen Armen.
Reis Arme, die eben noch kraftlos an den Seiten herabgebaumelt hatten, schlossen sich um ihn.
Ein unsichtbare Macht drückte das Wasser zurück, so daß die beiden unvermittelt auf trockenem Boden standen, während das Wasser des Beckens wie von einer unsichtbaren Mauer zurückgehalten wurde.

\"Rei...? Rei!\"
Er spürte, wie ihr Herz schlug!

Rei begann zu leuchten, so hell, daß Shinji sich zwingen mußte, nicht den Blick abzuwenden.
\"Ich lebe\", flüsterte sie.
Das Licht formte zwei prächtige Schwingen, zwei Engelsflügel, mit denen sie ihn umschloß.
\"Ich werde dich nie verlassen, solange das Band zwischen uns Bestand hat.\"

\"Rei-chan...\"
Ihre Blicke trafen sich.

\"In guten wie in schlechten Zeiten, in Wohlstand und in der Not werde ich an deiner Seite stehen.\"

Wieder weinte er, doch dieses mal nicht aus Trauer.

Dann hob sie den Kopf, brachte ihre Lippen an sein Ohr und flüsterte ihm ihren wahren Namen zu, legte ihr Schicksal in seine Hände.
\"Ich bin die Hoffnung.\"


*** NGE ***


In den Tiefen des TerminalDogma ging ein Zucken durch den Körper des gekreuzigten Engels LILITH.
Normalerweise hätten dies zur Folge gehabt, daß dem Engel automatisch eine starke Dosis des einschläfernden Medikamentes verabreicht worden wäre, doch nicht dieses mal. Überhaupt hatte LILITH bereits den ganzen Tag noch keine Medikamente bekommen.
Ebenso waren die Sicherheitssysteme inaktiv, welche das Lasergitter steuerten, das eigentlich dafür sorgen sollte, daß LILITH ihre Beine nicht regenerierte. Als Folge war der Körper des Engels fast vollständig wiederhergestellt.

Die stumme Beobachterin, welche die MAGI kontrollierte, ging volles Risiko ein. Aus Gesprächsfetzen der EVA-Piloten, den jüngsten Vorgängen im Dampfbad und nicht zuletzt Gendo Ikaris persönlichen, in den MAGI abgelegten Aufzeichnungen hatte Naoko ihre eigenen Schlüsse gezogen.
Ikari-ADAM war irgendwo in der Nähe, die Sensoren der MAGI konnten ihn spüren, aber nicht seine Position feststellen. Aber er schien sich auf das Dogma zuzubewegen.
Wenn er es erreicht, sollte die Urmutter nicht wehrlos sein. Und aus demselben Grund verbarg sie die Mustererkennung bezüglich Kaworu Nagisa, Shinji Ikari und Rei Ayanami. Sie hatte das Leben der letzteren bereits einmal zerstört, das sollte sich nicht wiederholen...


*** NGE ***


Ryoji Kaji fand Wolf Larsen in Asukas Krankenzimmer.
\"Schlechte Nachrichten, Commander.\"

\"Noch schlechter?\"

\"Nun, Ikari scheint noch unter den Lebenden zu weilen, sofern man sich nicht auf eine theologische Diskussion einlassen will. Meine Leute durchkämmen die Stadt und die Geofront, aber das wird dauern.\"

\"Ich schließe mich der Suche gleich an.\"

\"Deswegen bin ich nicht gekommen. Ich war gerade in der Zentrale, meinen Bericht abgeben, als die Nachricht hereinkam, daß der UN-Sicherheitsrat einen Übergangskommandanten bestimmt hat, bis Fuyutsuki wieder fit ist.\"

\"Das ging schnell.\"

\"Ja, man scheint in New-New York ziemliches Muffensausen zu haben. Der neue Chef ist Eli Rabinowitz.\"

\"Was? Wirklich?\"

\"Ich habe es selbst gelesen. Er trifft in Bälde ein, um das Kommando zu übernehmen. Ich dachte, Sie wollten vielleicht mit ihm über die Dinge reden, die man mit Ihnen angestellt hat, wäre doch zu übel, wenn Cedrick allein in ASGARD schalten und walten könnte, wie es ihm beliebt.\"

\"Rabinowitz ist integer, ich habe ihn gleich zu Anfang überprüft... gut, ich werde mich bereithalten.\"
Kapitel 56 - Abstieg ins TerminalDogma

LILITH hob den Kopf.
Hinter der siebenäugigen Maske funkelte es auf.
Weit über ihr geschah etwas...

ADAM war erwacht. Und er kam näher.

Auch ihre beiden jüngsten Kinder waren nahe. Vielleicht konnten sie gegen ADAM bestehen... vielleicht...

Der Moment der Entscheidung rückte näher.
Jahrelang hatte sie darauf gewartet, fast eine Generation der Lilim, doch für sie nicht mehr als ein Wimpernschlag. Die Lilim hatten sie gefangen, als sie vom Kampf gegen ADAM geschwächt gewesen war. Sie hatten sie gebunden und betäubt, hatten aus ihrem Körper andere geschaffen, um ihre Kinder zu bekämpfen.

Doch nun nahte der Augenblick, an dem die Ereignisse eine Wendung erfahren würden.
Ihr Befreier war da, jener, der den Kreis schließen würde...


*** NGE ***


\"Ich glaube, ich könnte ihr helfen.\"

Wolf Larsen blickte auf.
Gerade hatte er Asukas Zimmer verlassen. Auf dem Gang stand Doktor Akagi.
\"Wie meinen Sie das?\"

\"Wenn... Ich denke, es gibt eine Möglichkeit, sie aus dem Koma zu holen.\"

\"Glauben Sie? Bei der Schwere ihrer Verletzung... eigentlich hätte sie den Kopftreffer nicht überleben dürfen...\"

\"Unten im TerminalDogma gibt es eine Einrichtung - das DummyPlug-Interface. Bisher haben wir es benutzt, um das DummyPlug-System, die Fernsteuerung der EVAs, mit strategischen Daten aus dem Bewußtsein des First Children zu versorgen. Allerdings müßte auch der umgekehrte Weg möglich sein, das DummyPlug-Interface ähnelt vom Aufbau her dem PROPHET-Interface. Wenn sie noch... wenn noch etwas von ihr da ist, dann müßte es möglich sein, sie so zu erreichen.\"

\"Wann können Sie damit beginnen?\"

\"Ich müßte das System neu konfigurieren. Aber es müßte möglich sein.\"

\"Gut. Bitte, tun Sie, was in Ihrer Macht steht, Doktor.\"


*** NGE ***


Vier Personen betraten den Aufzug, welcher das CentralDogma mit dem TerminalDogma verband - Ritsuko Akagi, Maya Ibuki, Wolf Larsen und Asuka Soryu Langley, welche von dem Cyborg getragen wurde.

Es ging abwärts.

\"Ein riskanter Plan, Sempai\", murmelte Maya.


*** NGE ***


Die LCL-Röhre des DummyPlug-Interfaces wurde von Akagi leergepumpt.
Früher hatte Rei sich in der Röhre aufgehalten, wenn es die Daten des DummyPlug-Systems zu aktualisieren galt.

\"Ich öffne jetzt das System.\"

Asuka lag ausgestreckt auf einem Tisch, Maya zog ihr gerade das Nachthemd aus.

\"Ist das wirklich nötig?\" fragte der Cyborg.

\"Anorganische Substanzen erzeugen Interferenzen\", erklärte Akagi knapp.

\"Ja...\"
Larsen hob Asuka an, trug sie zu der Röhre hinüber, welche bis auf Kniehöhe im Boden versunken war, setzte sie hinein, trat zurück.
\"Hoffentlich funktioniert das.\"

\"Es wurde noch nie zuvor auf diese Weise erprobt.\"
Akagi nahm weitere Schaltungen vor.
Der DummyPlug war einer der Eckpfeiler des Klonprojektes gewesen, ohne ihn hätte jeder Rei-Klon direkt bei Null anfangen müssen. Ohne das DummyPlug-System hätten Reis Erinnerungen und Fähigkeiten nicht konserviert werden können...
Die Frage war nur, ob das System auch von Nutzen war, wenn es nicht mit einem der Klone kooperierte. Rei-00, die organische Komponente des Dummy-Systems, existierte nicht mehr, konnte also auch nicht störend intervenieren.
\"Maya, System schließen!\"

\"Interface wird geschlossen\", krächzte Ibuki.
Das konnte doch nicht gutgehen...

Die Röhre schob sich wieder aus dem Boden, schraubte sich langsam bis zur Decke hinauf.

Mit ausdruckslosen künstlichen Augen beobachtete der Cyborg, wie die Röhre unter der Decke einrastete, hörte, wie die Verriegelungen einrasteten. Klares LCL lief in die Röhre hinein, der Spiegel der Flüssigkeit stieg rasch an.
Asukas rotes Haar wirbelte auf, der Druck, mit dem das LCL anstieg, hob sie in die Höhe.

\"Systeme klar. DummyPlug online.\"

\"Danke, Maya.\"
Ritsukos Finger flogen über die Tastatur.
\"Datenfluß umkehren... Aktivierungsimpulse senden...\"

\"Sie sprechen von ihr wie von einer Maschine, Doktor.\"

\"Mehr ist der menschliche Körper nicht... eine organische Maschine mit beschränkter Befähigung zur Selbstreparatur. Die Frage ist, ob Asukas Geist Schaden jenseits der Hayflick-Grenze genommen hat, oder ob eine Rekonstruktion noch möglich ist.\"

\"Sind das wir? Nur Maschinen? Was ist mit der Seele?\"

\"Sehen Sie sich selbst an... ein Körper aus Stahl, ein teilweise künstliches Gehirn... Ja, ich weiß über das Werk meiner Mutter Bescheid. Die Existenz der Seele ist nur Theorie, vielleicht berufen wir uns nur auf ihre Existenz, um unsere Überlegenheit gegenüber anderen Wesen zu begründen.\"

Im LCL zeigten sich Farbreflexe.

\"DummyPlug-System hat Kontakt, Sempai!\"

\"Doktor Akagi?\"

\"Der Plug hat Kontakt zu ihrem Nervensystem. Lebenszeichen stabil... ich versuche, Zugriff auf die höheren Gehirnfunktionen zu nehmen.\"

\"So einfach ist das? Ein Fernsteuerung für EVANGELIONs... und auch für Menschen...?\"

\"Das...\"
Akagi hielt inne, las die Mitteilungen auf ihrem Bildschirm. In einem kleinen Feld waren die aktuellsten Nachrichten erschienen.
\"Der Interimskommandant trifft in einer Stunde in Tokio-3 ein. Ihre Anwesenheit auf dem Landedeck wird erwünscht.\"

\"Hm... Rabinowitz war einer meiner Vorgesetzten beim UN-Geheimdienst, wahrscheinlich will er meinen Bericht.\"

\"Anzunehmen.\"

\"Wie geht es hier weiter?\"

\"Ich mache soetwas zum ersten Mal, es kann Tage dauern, bis erste Resultate zur Hand sind. Mit Hilfe der MAGI werde ich ganz langsam vorgehen müssen, um keine Hirnschäden zu provozieren.\"

\"Seien Sie vorsichtig, Doktor.\"

\"Natürlich.\"

\"Mir wurde berichtet, daß Asuka eine... Plage... war...\"

\"Ich kenne ihre Akte, mit einem solchen Verhaltensmuster war zu rechnen.\"

\"Nur ich habe die Anzeichen anscheinend übersehen.\"

\"Wir setzen andere Maßstäbe für jene, die uns am Herzen liegen.\"

\"Vielleicht...\"


*** NGE ***


Ein dunkler Treppenschacht führte scheinbar endlos in die Tiefe.

Einem Menschen wäre vielleicht der Gedanken gekommen, die Treppe könnte direkt in die Hölle führen, doch weder das rotäugige Mädchen, noch der bärtige Mann, die beide am obersten Treppenabsatz standen, waren noch Menschen.

\"Dort unten wartet dein Schicksal, Rei.\" sagte Gendo Ikari mit grollender Stimme.


*** NGE ***


Engumschlungen standen Shinji und Rei im warmen Wasser des Beckens im Dampfbad des Hauptquartiers. Allerdings hatte sich das Wasser von ihnen zurückgezogen und schien von unsichtbaren Händen aufgestaut.

Shinji spürte die Fliesen unter seinen nackten Füßen und Reis Körper an den seinen gepreßt.
Und er spürte ihre fedrigen Flügel, die sie um ihn gelegt hatte, Flügel, welche plötzlich aus ihren Schulterblättern gewachsen waren. Ein sanftes Leuchten umgab ihren Körper, er blickte auf seine Hände, die noch auf ihrem nackten Rücken lagen. Das Licht schimmerte durch seine Haut, er konnte deutlich die Knochen seiner Finger erkennen.
Sie hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert, ein einziges Wort: Hoffnung...
\"Rei-chan, bist du...\"

\"Ja. Ich habe meinen wahren Namen gefunden.\"

\"Das... uh... das ist großartig. Und... uhm... jetzt?\"

\"Shinji, ich kann es spüren... ich kann die Gegenwart meines Bruders Tabris spüren... Nagisa-kun... und ich spüre meine Mutter...\"

\"Deine Mutter?\"

\"LILITH, der im TerminalDogma gekreuzigte Engel. LILITH, die Urmutter... meine Mutter...\"

\"Natürlich... ahm... wenn du zur Hälfte Engel bist... uh... ähm... ändert es etwas?\"

\"Was meinst du?\"
Sie blickte ihn fragend an.

\"Wir beide... du und ich... uhm... wie...\"

Sie faltete ihre Schwingen auseinander, löste sich von ihm, brachte jedoch nur ein paar Zentimeter zwischen sich und ihn, hob die Hand und berührte seine Wange.
\"Ich bin dieselbe.\"
Kurz bewegte sie den Kopf vorwärts, berührte seine Lippen mit den ihren.

Shinji zog sie an sich, preßte seine Lippen auf die ihren, küßte sie hungrig.
\"Ich dachte, ich hätte dich zum zweiten Mal verloren...\"
Seine Hände wanderten über ihren Rücken, berührten zögernd ihre Flügel.
\"Wie schön... Rei-chan, du bist wunderschön.\"

Rei erwiderte seine Küsse, spürte zugleich, daß sein Körper auf ihre Nacktheit und Nähe reagierte.
\"Das ist nicht der Ort... und die Zeit...\"

\"Ja...\"
Dennoch ließ er sie nicht los.

Ihr Atem ging schneller, als seine Erregung auf sie übergriff.
Ihre Schwingen bildeten sich zurück, schrumpften, verschwanden.
Das sie umgebende Licht wurde schwächer

Die Barrieren, welche das Wasser zurückhielten, erloschen.
Das heiße Wasser schwappte auf die beiden zu.

\"Ieep!\" schrie Shinji auf, als er unvermittelt bis zur Brust wieder im Wasser stand.

Rei hauchte ihm einen letzten Kuß auf die Lippen, zog sich dann rückwärtsgehend zum Beckenrand zurück.
\"Später, Shin-chan.\"

\"Uh...\"
Schnell folgte er ihr, kletterte aus dem Wasser.

Rei war bereits dabei, ihre Sachen anzuziehen.

\"Und es geht dir wirklich gut?\"

\"Ja. Mein S2-Organ verleiht mir Kraft. Und durch deine Hilfe konnte ich es erreichen.\"

\"Meine Hilfe?\"

\"Du hast mir geholfen zu verstehen, Geliebter.\"

\"Uhm...\"
Shinji keuchte, als er sich in seine Unterhose hineinzwängte.
Verfluchte thermische Ausdehnung...
\"Das... uh... würde ich jederzeit wieder tun...\"

\"Ich weiß.\" erklärte sie voller Ernst. \"Und du wirst deine Belohnung erhalten...\"

\"Ahm... Rei-chan...\"

\"Wenn wir das alles hinter uns haben\", flüsterte sie mit einem seltsamen Lächeln.

\"Uh...\"
Dieser Blick...

Reis Lächeln vertiefte sich.
\"Sollte Soryu Recht behalten, daß Jungs sich mit Sex ködern lassen?\"

Shinji schluckte.
\"Nein, das... ahm... das ist doch ganz anders... ich würde nur...\"

\"Das war wohl... Misato-san würde wohl sagen, ich hätte dich geneckt.\"

\"Ahm...\"

\"Aber wenn du nicht... ich wollte dir nicht...\"

\"Das... uh... Rei-chan... du kannst mich jederzeit... uh... necken...\"

\"...\"
Noch einmal legte sie ihm die Arme um den Hals und zog ihn an sich.
\"Shin-chan... wahrscheinlich haben die MAGI meine... Veränderung registriert.\"

\"Uhm... das klingt nicht gut...\"

\"Tabris hätte uns gewarnt.\"

\"Ja... ahm... dein Bruder...\"

\"Mein Bruder.\"

\"Es ist seltsam, mir vorzustellen, daß du plötzlich Familie hast... uhm... ich meine, ich freue mich für dich, aber... ahm... nicht jedes Mädchen hat wohl eine Horde Engel als Geschwister... und dann noch die anderen Reis... uh... du hattest sie als deine Schwestern bezeichnet... du hast eine wirklich große Familie, Rei-chan... äh, ja...\"

\"Nicht jedes Mädchen hat einen Freund wie dich.\"

\"Uh...\"
Ein Teil von ihm stellte sich vor, wie es wohl sein würde, wenn er eines Tages, sobald er alt genug war, um Reis Hand anhalten würde... gewissermaßen war sie ein Scheidungskind... und die Urmutter LILITH als Schwiegermutter... uh... und erst der voraussichtliche Ärger mit ihren Brüdern, die er ja im Zuge der Kampfhandlungen verprügelt hatte...
\"Rei-chan, du bist soviel mehr als ich...\"

\"Wie meinst du das?\"

\"Ich... uh... ich bin nur ein Mensch...\"

\"Nur? Das verstehe ich nicht. Ich mußte erst mit meiner Engelshälfte in Einklang kommen, um zu verstehen, was es bedeutet, Mensch zu sein.\"

\"Du weißt, was es bedeutet? Was bedeutet es, Mensch zu sein?\"

\"Lieben zu können. Shin-chan, ich brauche dich.\"

\"Ah... Rei-chan, ich brauche dich auch... dringender als Luft zum Atmen... uh...\"
Shinji schielte zur Tür.
Vielleicht warteten dahinter bereits die NERV-Streitkräfte, um sie festzusetzen... dann würde er kämpfen... für Rei-chan.

\"Schhh.\"
Sie legte ihm den Finger auf die Lippen.
\"Ich weiß. Mir geht es doch ebenso. Ich fühle mich, als würde ich schweben, als ob ich früher gefesselt gewesen war, ohne es bemerkt zu haben.\"

\"Wenn sie uns draußen erwarten sollten... falls sie Nagisa-kun überwältigt haben...\"

\"Was tun wir dann, Shin-chan? Ich überlasse dir die Wahl.\"

\"Dann... uh... dann brechen wir durch... deine Mutter wird immer noch im TerminalDogma gefangengehalten, wir... ahm... wir müssen sie befreien...\"

\"Wir?! Es ist gefährlich, Shin-chan. Ich weiß nicht, ob mein AT-Feld gegen die Abwehrmechanismen ankommt.\"

\"Wir gehen zusammen.\"
Shinji ergriff ihre Hand, drückte sie.
\"Ich erinnere mich an unsere Begegnung... damals im Hangar, als der erste Angriff erfolgte... ich erinnere mich an die Einsamkeit in deinem Blick...\"

\"Ja.\"

\"Ja. Ich... ah... ich werde alles tun, um diesen Blick niemals wiederzusehen... du... du mußt nie wieder einsam sein.\"

\"Ja. Das wäre schön.\"

\"Dann... laß uns gehen...\"


*** NGE ***


Ritsuko schaltete den Monitor ihres Terminals ab.
\"Maya, wir machen hier für heute Schluß.\"

\"Ja, Sempai.\"

\"Ich hatte mir mehr erhofft.\"

\"Soetwas wurde bisher noch nie versucht, Sempai.\"

\"Aber gar keine Resultate... als ob Asukas Kopf völlig leer ist... die Signale des Dummy-Systems kommen völlig unverzerrt zurück, wie ein klares Echo.\"

Maya betrachtete das rothaarige Mädchen, das in der LCL-gefüllten Röhre schwamm.
\"Wenn jemand es schaffen kann, dann Sie, Sempai.\"

\"Danke, Maya, was würde ich nur ohne dich machen... Fahr nach oben, der neue Kommandant trifft in Bälde ein, es ist zwar nur übergangsweise, bis der Professor wieder auf den Beinen ist, aber wir sollten vielleicht besser dabei sein.\"

\"Ja, Sempai.\"

\"Der Aufzug ist für dich freigeschaltet. Ich mache hier unten nur noch meine Runde und komme dann nach.\"

Maya nickte, froh, ihre Mentorin nicht auf ihrer Tour durch das TerminalDogma begleiten zu müssen - der EVA-Friedhof flößte ihr regelrecht Panik ein und die Gen-Schmiede weckte in ihr Assoziationen mit Frankensteins Labor. Und die große Höhle, in der sich die LCL-Produktionsstätten befanden, durfte sie ohnehin nicht betreten.

Die beiden Frauen verließen den Raum in entgegengesetzte Richtungen, während Maya mit dem Aufzug nach oben fuhr, überprüfte Ritsuko den Klontank, verweilte mehrere Minuten vor der Sichtscheibe, hinter der sich die lachenden Klone befanden, fragte sich zum wiederholten Mal, was wohl geschehen würde, wenn sie die Klone aus dem LCL holte - angeblich waren sie außerhalb der Flüssigkeit nicht lebensfähig, aber was, wenn auch das nur eine Lüge Gendo Ikaris gewesen war?

Mit einem tiefen Aufseufzen verdunkelte Akagi die Sichtscheibe wieder, wechselte in den Trakt der Gen-Schmiede über, wo sich immer noch die Reste von EVA-03 und -04 befanden. Bisher hatte sie keine Anweisungen erhalten, was mit den Resten geschehen sollte. Angesichts der Tatsache, daß die Pilotensituation unklar war, konnte sie bestenfalls spekulieren, ob sie, wie Maya es bezeichnen würde, Doktor Frankenstein spielen mußte, oder ob die Überreste der beiden EVAs auf dem Friedhof bei den Fehlschlägen landen würden.
Ein wenig unheimlich war ihr schon zumute, sie war ganz allein im TerminalDogma, die Gen-Schmiede war seit Tagen inaktiv, seitdem sie den Kern von EVA-03 zerstört hatte...

Aus der Richtung des Friedhofes kam ein leises Heulen, es war nur der Wind, der durch die überdimensionalen Gänge und Hallen wehte, aber trotz aller Logik konnte sie sich nicht des Gedankens erwehren, die Skelette der ersten Versuchs-EVAs könnten sich erheben und durch das Dogma wandeln.

Als das war letztendlich Ikaris Werk, sie würde es wahrscheinlich niemals alles in voller Breite verstehen. Die Existenz der menschlichen Seele war mit Logik nicht nachweisbar, ebensowenig wie mit Wissenschaft. Sie war nicht greifbar, nicht meßbar, konnte nicht gesehen oder gespürt werden. Durch das von ihrer Mutter entwickelte PROPHET-Interface war es möglich, Persönlichkeiten zu digitalisieren... Erfahrungen, Erinnerungen, Charakterzüge, Reaktionen... aber war das mit der Seele gleichzusetzen?

\"Was tue ich hier...\" murmelte Ritsuko Akagi.
Mit ihrer Fernbedienung schaltete sie die eben zu Prüfungszwecken aktivierten Gerätschaften wieder aus, wanderte weiter in die nächste Halle.


*** NGE ***


Der Zentrale Schacht, welcher von der Oberfläche in die Geofront hinabführte, war breit genug, um einem Helikopter den Einflug zu ermöglichen.

Wolf Larsen stand auf dem Landedeck des Hauptquartiers und erwartete die Ankunft des Interimskommandanten. Er war allein, ganz wie Rabinowitz es gewünscht hatte.

Der Hubschrauber setzte zur Landung an, die Rotoren liefen aus, ein einzelner Mann stieg aus der Maschine, ODIN-Direktor Rabinowitz, gekleidet in einen dunklen Anzug, einen Aktenkoffer in der Hand.

Larsen nahm Haltung an.
- Und kippte nach vorn. Rauch quoll aus seinen Ohren. Die Synthohaut über seiner Stirn verfärbte sich dunkel, begann erst zu schmoren, löste sich dann in großen Stücken. Scheppernd löste sich auch das Stirnelement seines künstlichen Schädels. Noch mehr Rauch trat hervor.

\"Erstaunlich... wirklich erstaunlich... Ich hätte nicht gedacht, daß der Stahlmantel die Explosion eindämmen könnte...\" murmelte Wilforth F. Cedrick, der Mann unter der Maske aus Kunsthaut, während er den Fernzünder wieder einsteckte.
Dann winkte er seinen Piloten zu sich, damit dieser die Leiche in der Maschine verstaute...


*** NGE ***


Licht...

Schmerz...

Dunkelheit...


*** NGE ***


Naoko Akagi registrierte, daß die Auffangvorrichtung des PROPHET-Interfaces der MAGI-Rechner ansprach. Eine weitere Präsenz befand sich im Rechnersystem...


*** NGE ***


Vorsichtig öffnete Shinji die Tür, spähte auf den Gang.

Der Korridor vor dem Dampfbad war leer bis auf Kaworu Nagisa, der ihm breit grinsend entgegensah.

\"Uh... niemand sonst hier?\"

\"Nein, Shinji-kun, obwohl das wohl ein Grund zum Feiern wäre.\"

\"Ahm... ist vielleicht besser so...\"
Shinji zog die Tür ganz auf, ließ Rei den Vortritt.

Kaworu breitete die Arme aus.
\"Ich habe deine Ankunft gespürt, kleine Schwester.\"
Im nächsten Moment umarmte er sie bereits.

\"Nagisa-kun, würdest du bitte deine Hände von meinem Hintern nehmen?\"


*** NGE ***


Ikari-ADAM und Rei-III erreichten das Ende der Treppe nach stundenlangem Abstieg.

Der bärtige Mann hatte das seinem Lilimkörper höchstmögliche Tempo vorgelegt, dennoch hatte der Abstieg Stunden gedauert, nicht zuletzt weil er auf seine Begleiterin Rücksicht hatte nehmen müssen.

Etwas war in der Geofront geschehen...
Eines seiner Kinder hatte sich manifestiert, dem Echo nach Armisael - obwohl dieser bereits eine Niederlage erlitten hatte...


*** NGE ***


Asuka saß vor der Spiegelkommode ihrer Mutter, die Hände im Schoß gefaltet, den Blick in den Spiegel gerichtet. Ihre Mutter saß hinter ihr und kämmte Asukas rote Haarpracht mit gleichmäßigen Bewegungen.
Asuka war vier Jahre alt.
Das Bild ihrer Mutter im Spiegel war seltsam verschwommen, die Hand, welche den Kamm führte, merkwürdig dürr und bleich.
\"Mama, geht es dir nicht gut?\"

\"Es ist nichts, Asuka.\"
Die Stimme ihrer Mutter klang krächzend und leblos.

Asuka drehte sich um - und begann zu schreien...

Das Gesicht ihrer Mutter war eingefallen, die Haut grün-gelblich verfärbt, an einigen Stellen aufgerissen. Die Lippen hatten sich zurückgezogen und entblößten weiße Zähne, die Augen traten glubschig aus den Höhlen.
Um ihren Hals trug Kyoko Soryu immer noch die Schlinge, mit der sie sich aufgehängt hatte.
\"Warum bist du damals nicht mit mir gestorben?\"

Asuka sprang auf, wich den Händen ihrer Mutter aus, nahm jetzt auch den schweren Verwesungsgeruch wahr, der im Zimmer hing.
Sie lief zur Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Klinke zu erreichen, öffnete sie.

Mit langsamen schleifenden Bewegungen stand ihre Mutter auf.
\"Asuka, wo willst du denn hin? Wir sind doch noch gar nicht fertig...\"

Asuka rannte aus dem Zimmer, stolperte die Treppe ins Erdgeschoß hinunter.

\"Warum?\"

Sie fuhr herum.

Aus dem Wohnzimmer kam eine weitere Gestalt, der man ansah, daß sie schon lange kein Leben mehr in ihrem Körper hatte, ein junger Mann, dem der halbe Schädel fehlte. Zudem trug er keine Hosen, doch sein Unterleib war eine einzige klaffende Wunde.

\"Pietter... bleib weg... komm mir nicht zu nahe...\"

Panisch sah sie sich nach einer Waffe um.
Er war soviel größer als sie...

\"Warum mußte ich sterben? Du hattest mir doch schöne Augen gemacht... ich konnte einfach nicht mehr länger widerstehen...\"

\"Warum bist du nicht mit mir in den Himmel gekommen?\" kam von oben die Stimme ihrer Mutter.

Asuka warf sich herum, rannte zur Haustür, riß diese auf.

Vor der Tür stand Hikari, das Gesicht unnatürlich bleich, ihre Lippen waren dafür von einem satten kräftigen Rot... Blutrot...
\"Asuka, warum hast du mir das angetan?\"

Asuka schlug die Haustür zu, sah sich um.
Ihre Mutter kam langsam die Treppe hinunter, sie trug nur an einem Fuß einen Schuh... der andere lag sicher noch neben dem Hocker, von dem sie hinuntergesprungen war... oben, auf dem Dachboden...
Pietter schlurfte ebenso langsam auf sie zu.
Und hinter ihr wurde die Tür von außen geöffnet.
Geduckt und um sich schlagend rannte Asuka auf Pietter zu, stieß ihn zur Seite, spürte Brechreiz in sich aufsteigen, als sie seine schlaffe klebrige Haut berührte, war dann an ihm vorbei, rannte durch das Wohnzimmer zur Terassentür. Die Glastür stand offen. Heftig atmend stürmte Asuka in den Garten, stolperte in einen Sandkasten hinein, an dessen Existenz sie sich gar nicht erinnern konnte.
Im Sandkasten hockte ein gleichaltriger Junge mit dunkelbraunem Haar und formte den Sand gerade zu einer Burg.

Der Junge sah auf.
\"Spielst du mit mir?\" gurgelte Shinji Ikari.

Asuka zuckte zurück.

Aus dem Bauch des Jungen ragte ein Messer, seine Kleidung war voller Blut.

\"Nein... nein... bitte... nicht mehr...\"

\"Asuka, warum hast du mich im Stich gelassen?\" hörte sie ihre Mutter direkt hinter sich.

\"Asuka, weshalb hast du mir das angetan?\" fragte Hikari leise von der Seite.

\"Asuka, ich wollte es nicht... warum mußte ich sterben?\" flüsterte Pietter von der anderen Seite her.

\"Möchtest du mit mir spielen?\"

Asuka wich zurück, Schritt für Schritt, während die anderen näherkamen; sogar Shinji erhob sich und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
Schließlich stieß Asuka mit dem Rücken gegen ein Hindernis.
Zitternd blickte sie auf, sah nur einen großen Schatten.
Aber... der Schatten war ihr vertraut...
\"Onkel Wolf...\"

Jetzt konnte sie genauer sehen. Ja, es war ihr Patenonkel, der ihr gerade beruhigend die Hand auf die Schulter legte... eine Hand aus Stahl... und anstelle eines Gesichtes war da nur ein metallener Totenschädel...

Asuka brüllte auf... und erwachte...


*** NGE ***


Asuka schlug ihr verbliebenes Auge auf, registrierte, daß sie gefangen war.
Panisch schlug sie um sich.
Das konzentrierte LCL, in dem sie schwamm, raubte ihren Bewegungen die Energie, verlangsamte sie.
Nur langsam kam Asuka wirklich zu sich, erkannte sie ihre Umgebung.
Sie befand sich in einem Glaszylinder, der mit LCL gefüllt war. Und dieser Zylinder stand in einem abgedunkelten Labor. Und sie war nackt... irgend jemand hatte sie ausgezogen...
Das Mädchen begann am ganzen Leib unkontrolliert zu zittern, als es von der Befürchtung übermannt wurde, daß die letzten zwei Jahre vielleicht nur ein Traum gewesen waren und daß Pietter Fresenhark gleich auftauchen würde, um sein Werk fortzuführen...

Ihr Auge... was war mit ihrem Auge...
Sie konnte auf dem linken Auge nichts sehen, auch konnte sie das Auge nicht bewegen oder das Lid öffnen, überhaupt spürte sie in der Region ihres linken Auges überhaupt nichts...
Vorsichtig tastete sie über ihren Kopf, spürte vernarbte Haut, spürte eine lange Delle in ihrem Schädel, ertastete eine leere Augenhöhle...

Das Zittern verstärkte sich noch.
Was hatte man ihr angetan?

Ihre letzte Erinnerung bestand daraus, daß sie jemanden mit ihrem Messer attackiert hatte... ja, genau, sie hatte auf den Feind gewartet... Rei Ayanami, das First Children... stattdessen war Shinji direkt in die Klinge gelaufen... und dann... nichts mehr...

\"Mein Gott...\"

Sie hatte getötet... sie hatte einen Menschen getötet... natürlich war sie während ihrer Ausbildung auch auf eine solche Situation vorbereitet worden, allerdings nur in der Theorie. Sie hatte tatsächlich einen anderen Menschen mit dem Messer angegriffen... und nicht, um sich zu verteidigen, sondern in kaltblütiger berechnender Wut...

Ihr Atem ging schwer.

Sie mußte aus dieser Röhre... sie konnte es nicht ertragen, eingesperrt zu sein... sie mußte irgendwem erklären, daß sie Shinji nicht hatte töten wollen...

Kräftig hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Innenwandung des Zylinders, stemmte sich mit den Füßen und dem Rücken gegen das Glas.

\"Ich will hier raus... hört mich denn niemand...\"

Der LCL-Spiegel begann zu sinken. Schon ließ der Druck nach, sank sie in der Röhre zu Boden.

\"Hallo!\"

Niemand antwortete ihr, doch als das LCL im Boden versickert war, öffnete sich die Röhre.

Unsicher kam Asuka auf die Beine, stolperte aus dem Bereich des Zylinders zum nächsten Computerterminal.
Ihr Gesicht spiegelte sich im Monitor...
Sie schrie vor Entsetzen auf.
Was sie gefühlt hatte, war Wirklichkeit - und noch schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Fast ein Viertel ihres Gesichts fehlte...

Sie schlug die Hände vor das Gesicht und rutschte langsam zu Boden, rollte sich weinend zu einem Ball zusammen...


*** NGE ***


In der NERV-Kommandozentrale hatte sich der Kommandostab versammelt, um Direktor Eli Rabinowitz zu empfangen, den Übergangskommandeur von NERV, bis der Stellvertretende Kommandant Kozo Fuyutsuki sich von seinen Verletzungen, darunter eine schwere Gehirnerschütterung, erholt oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen neuen Kommandanten bestellt hatte.

Nur Ritsuko Akagi, der Wissenschaftliche Offizier, fehlte. Sie hielt sich immer noch im TerminalDogma auf und war mit einem Check der Anlagen beschäftigt.

Im höhergelegenen Kommandostand saß Ryoji Kaji und blickte dumpf brütend nach unten, bei ihm war Kozo Fuyutsuki, der mit geschlossenen Augen in einem Sessel saß und hoffte, daß seine bohrenden Kopfschmerzen bald aussetzten.

Die Tür des Kommandostandes glitt auf.
Shigeru Aoba führte den Europäer Rabinowitz hinein.
\"Bitte, Sir.\"

Der andere nickte, reichte dann erst Fuyutsuki und schließlich Kaji die Hand.
\"Meine Herren... Es freut mich, Sie bei bester Gesundheit zu sehen, Major Kaji.\"

\"Sir.\"
Kaji salutierte, während der Subkommandant sitzenblieb.

\"Verzeihen Sie, daß ich nicht aufstehe, aber im Augenblick dreht sich alles vor meinen Augen.\"

\"Kein Problem\", murmelte Rabinowitz. Er trat an die Brüstung, blickte nach unten in die Kommandozentrale.
\"Meine Damen und Herren... werte Offiziere von NERV. Ich bin Eli Rabinowitz. Bis auf weiteres übernehme ich das Kommando über die Operation auf Anweisung des Sicherheitsrates. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit.\"

Vereinzelt wurde applaudiert, aber nur kurz und verhältnismäßig leise.

Rabinowitz wandte sich den beiden anderen Männern im Kommandostand zu.
\"Wo kam ich meine Befehlscodes eingeben, um die Kommandodateien der MAGI auf mich zu verschlüsseln?\"

Kaji deutete auf das Terminal.
\"Dort, Sir. Sie haben es recht eilig.\"

\"Commander Larsen hat mich über eine Verschwörung in Kenntnis gesetzt, die ihre Hände bis in unsere Organisation ausgestreckt hat. Ich halte es für ratsam, keine Zeit zu verlieren.\"

\"Warten Sie, ich schalte die Kommandodateien frei\", murmelte Fuyutsuki und wandte sich ächzend der Tastatur zu. Wenn das nur bald vorbei war, dann konnte er sich wieder hinlegen...

Kaji runzelte die Stirn.
Etwas an Rabinowitz kam ihm merkwürdig vor, ohne daß er es genau definieren konnte. Seine Stimme hatte einen seltsamen Beiklang...
\"Wo befindet sich Commander Larsen eigentlich? Ich dachte, er würde mit Ihnen...\"

\"Commander Larsen ist mit meinem Hubschrauber abgeflogen. Er wird sich um das Vipernnest in der Chefetage von ODIN kümmern.\"

\"Ja...\"
Kaji blickte auf die Hände des ODIN-Direktors, während dieser seine Codes eingab.
Rabinowitz benutzte die rechte Hand...
Kaji griff nach seinem Schulterhalfter, zog seine Waffe.
\"Halt! Die Hände hoch!\"

Der andere hielt inne. Es fehlten noch zuviele Zeichen, als daß er ein Risiko eingehen und einfach weitermachen konnte...
\"Major Kaji, haben Sie den Verstand verloren?\"

\"Ich hege Zweifel an Ihrer Identität\", knurrte Kaji.
Rabinowitz war Linkshänder...

\"Kaji?\" fragte Fuyutsuki.

\"Professor, dieser Mann ist möglicherweise ein Betrüger. Eli Rabinowitz ist kein Rechtshänder!\"
Mißtrauen war gut... das hatte ihm sein Lehrer immer eingeschärft...

\"Was...\" setzte Fuyutsuki an, kam aber nicht weiter.

Rabinowitz stieß ihn zur Seite, hatte plötzlich eine Waffe in der Hand und richtete diese auf Kaji, während er mit der anderen Hand Fuyutsuki als menschlichen Schild benutzte.
\"Lassen Sie mich an die Tastatur!\"

Kaji schüttelte den Kopf und spannte den Hahn seiner Pistole...
\"Wer sind Sie?\"

Der andere stieß Fuyutsuki auf Kaji zu, der Professor stolperte, wurde von Kaji aufgefangen.

Ein Schuß fiel...


*** NGE ***


Wären in der Zentrale nicht alle Blicke auf das Geschehen im Kommandostand gerichtet gewesen, hätte wahrscheinlich irgend jemand bemerkt, daß im Bereich des Haupteinganges die Kameras kurzfristig ausfielen. Ebenso wäre aufgefallen, daß die Störung der Übertragung quasi mit Schrittgeschwindigkeit durch das CentralDogma wanderte und schließlich an einem der wenigen Zugänge zum TerminalDogma endete.
Und ebenso hätte irgend jemand die toten Wachen bemerkt, welche sich nach Beendigung der Störungen in den verschiedenen Sektionen befanden...


*** NGE ***


Das von einem Lichtblitz überschattete Gesicht Eli Rabinowitz\' war das letzte, woran er sich erinnerte, danach folgten nur ein kurzer Schmerz und ein scheinbar endloser Sturz in die Finsternis.
Der nächste Eindruck, welche das Gefühl zu fallen ablöste, war der Kontakt mit hartem kalten Metall. Metall, welches ihn umgab, durch welches er atmete... ein gewaltiger unförmiger Metalleib mit zahllosen Verästelungen und Ablegern.

Das war nicht mehr sein Körper, auch wenn eine gewisse Vertrautheit bestand.
Er war gelähmt, bewegungsunfähig...

\"Sie können sich nicht bewegen.\"

Was?
Eine andere Stimme...
Eine Frauenstimme...
Woher...?

\"Dieser Körper verfügt über keine nennenswerte Mobilität. Willkommen in meinem Exil.\"

Was?
Wer...

Seine Wahrnehmung verschwamm, aus allgegenwärtigem Grau wurde der freie Himmel, über welchen Lichtpunkte in unfaßbarer Zahl huschten, die meisten so schnell, daß sie eher wie Streifen schienen, andere wiederum mit quälender Langsamkeit.
Er versuchte, an sich herabzusehen.
Auch er war nur ein Lichtpunkt, allerdings schwebte er über einer unregelmäßigen Fläche, in welcher verschiedene Elemente in diversen Farben aufflackerten und wieder verloschen.

\"Das ist nur eine Assoziation.\"

Wieder diese Stimme...
Er rotierte um seine Achse, sah sich einem zweiten schwebenden Lichtpunkt gegenüber. Und obwohl dieser Lichtfleck sich in nichts von den anderen unterschied, ordnete er ihm automatisch das Attribut \'weiblich\' zu.
\"Was ist das hier?\"

\"Das ist das Innere der MAGI-Rechner. Jeder Lichtpunkt steht für ein Informationspaket. Ihrer zum Beispiel trägt die Bezeichnung \'EVANGELION-Grundkommandoprogramm V2.0\'.\"

Er reagierte mit Verwirrung.

\"Ich verstehe Ihr Dilemma. Lassen Sie es mich Ihnen erklären...\"

Am Himmel entstand ein Fenster.
Automatisch wußte er, daß es sich um die Übertragung von Sicherheitskamera C-47, Landeplattform, handelte. Das Bild zoomte sich auf den Hubschrauber heran, mit dem Direktor Rabinowitz eingetroffen war. Gerade liefen die Rotoren wieder an.
Auf der Rückbank saß eine zusammengesunkene Gestalt...

\"Das bin ich.\"

\"Das waren Sie, Commander Wolf Larsen... oder darf ich Wolf sagen? Es ist eine Weile her, seitdem ich zum letzten Mal direkt mit jemandem kommuniziert habe.\"

\"Was wollen Sie mir damit sagen? Daß ich... tot bin?\"

\"Ja. Ich bedaure. So ist es. Nach über zehn Jahren wurden Sie schließlich doch noch von Ihrem Schicksal eingeholt.\"

\"Schicksal... Sie sind Naoko Akagi.\"

\"Ja.\"

\"Sie sagten etwas derartiges zu mir, bevor Sie mit der Operation an meinem Schädel begonnen hatten... sie könnten mir Zeit verschaffen, aber mein Schicksal nicht gänzlich abwenden...\"

\"Ja. Es ist lange her.\"

\"Wie ist das möglich?\"

\"Damals pflanzte ich Ihnen das von mir entwickelte PROPHET-Interface ein, um eine Kommunikation zwischen dem intakten Teil ihres Gehirns und den kybernetischen Prothesen zu ermöglichen.\"

\"Ja...\"

\"Sie sind damals auf dem Operationstisch gestorben.\"

\"Äh... ich erinnere mich da doch anders...\"

\"Bitte, lassen Sie es mich erklären... Ihre Verletzungen waren zu schwer, wir verloren Sie direkt nach Beginn der OP, allerdings war es mir möglich, ihre Seele mittels des Interfaces an Ihren Körper zu binden.\"

\"Und das soll ich Ihnen glauben? Was ist das für ein Unfug? Versucht SEELE erneut, mich zu manipulieren?\"

\"Nein. Zuvor hatte ich Ihre Persönlichkeit digitalisiert, um sie als Grundlage für das Steuerungsprogramm der EVAs zu verwenden. Als Ihr Körper starb... ich glaube, in ihrem Schädel ist eine Cortexbombe explodiert... wurde Ihre Seele freigesetzt, verfing sich jedoch im PROPHET-Interface der MAGI. Vielleicht lag nur ein Irrtum vor... Seelen neigen dazu, an ihren Körpern festzuhalten, vielleicht war das Interface der MAGI dem Ihren ähnlich genug... Der Kontakt führte jedenfalls dazu, daß das alte Datenpaket der Grundsteuerung ein Update erhielt. Verstehen Sie, Wolf, Sie befinden sich in einem Computer... Ihr Bewußtsein ist jetzt Teil der MAGI.\"

\"Ich... wieso? Warum kann ich nicht sterben wie jeder andere Mensch auch? Sie haben es mir bereits einmal verweigert!\"

\"Ja.\"

\"Und... und warum hat niemand bemerkt, was mit mir geschehen ist?\"

\"Jener, der mit dem Hubschrauber gekommen ist, wünschte die Abschaltung der Kameras. Da das Sicherheitssystem ein Teil der MAGI ist, können wir es dennoch benutzen.\"

\"Das kann einfach nicht wahr sein...\"

\"Würden Sie sich mit einem Körper wohler fühlen? Es ist alles eine Frage der Repräsentation.\"
Akagis Lichtpunkt wuchs, dehnte sich aus, bekam Stacheln, die zu Armen und Beinen wurden, formte einen Ableger aus, der zu einem Kopf wurde...
Schon bald hatte sich der Lichtpunkt in eine menschliche Gestalt verwandelt, einen unbekleideten Frauenkörper mit silbriger Haut, um den zahlreiche kleine Lichter wirbelten.

\"Gut... ah... ich befinde mich also im Inneren eines Computers... okay... okay... ich hatte jahrelang einen Haufen Chips im Kopf, also komme ich auch damit klar... und was jetzt?\"

\"Ich habe Grund zur Annahme, daß Ihr... Mörder... nicht das Wohl der Menschheit im Sinn hat. Jemand muß ihn aufhalten. Die MAGI kontrollieren sämtliche Einrichtungen des Hauptquartiers. Sie kontrollieren die Geofront und auch die meisten öffentlichen Einrichtungen von Tokio-3 und die Abwehrsysteme. Helfen Sie mir, sie richtig einzusetzen. Sie sind Soldat, ich bin nur Wissenschaftlerin. Helfen Sie, oder Unschuldige werden zu Schaden kommen!\"


*** NGE ***


Rabinowitz prallte gegen Aoba, dieser hob abwehrend die Hände, griff dem anderen direkt ins Gesicht, riß ihm die Maske herunter.

\"Cedrick...\" keuchte Kaji und taumelte dem falschen Rabinowitz hinterher auf den Gang, dabei die freie Hand auf die Wunde pressend, welche die Kugel in seinen Bauch gerissen hatte.
Blind feuerte er mehrere Schüsse ab, ohne zu treffen, ehe er besinnungslos auf den Boden schlug...

Cedrick rannte den Gang hinunter, verfluchte dabei Ryoji Kaji, der seine Maske durchschaut hatte. Und alles nur, weil er die Codes mit der falschen Hand eingegeben hatte...
Verflucht noch eins...
Er tastete in seiner Tasche nach seinem Funkgerät, es war ein einfacher Signalgeber, der jedoch stark genug war, um den Felsmantel zu durchdringen, unter dem die Geofront lag.
Lächelnd drückte er die Taste, löste damit eine Reihe von Vorgängen aus. In Kürze würde Plan B in Kraft treten - der Sturm auf das NERV-Hauptquartier, angeführt von einem Hackerangriff der anderen MAGI-Rechner. Und zugleich würden die RABEN ODINs den Befehl erhalten, ihre Anweisungen auszuführen... entweder würde es ihm, Wilforth F. Cedrick, gelingen, die Geofront zu verlassen und im Anschluß die Trümmer aufzusammeln, oder es würde niemandem gelingen...

Krachend fuhr direkt vor ihm ein Panzerschott zu.

Cedrick stoppte, warf sich herum, lief auf die letzte Abzweigung zu.

Auch hier schloß sich ein Sicherheitsschott.

Er saß in der Falle...
Cedrick verbiß sich einen Fluch.
Gut, sie hatten ihn - aber er konnte sich immer noch seine Freiheit erpressen, indem er einfach mit den Streitkräften der JSSDF drohte, die bereits marschbereit waren.

\"Kontamination in Sektor 44/21-D. Gegenmaßnahmen eingeleitet. Dekontamination eingeleitet. Bakelit-Einleitung beginnt!\" drang eine kalte Computerstimme aus verborgenen Lautsprechern.

Cedrick riß die Augen auf.
\"Halt! Ich bin Beauftragter der UN! Ich befehle...\"

Aus Öffnungen im Boden und in den Wänden drang feiner weißer Nebel, der sich rasch verfestigte.

Cedrick, spürte, wie der Nebel sich auf seiner Haut niederschlug und hart wurde, spürte, wie er gleich darauf völlig eingeschlossen war, konnte nicht mehr sehen, konnte nicht mehr atmen...


*** NGE ***


Aoba ging neben dem liegenden Kaji in die Knie, tastete nach der Halsschlagader, sah bestürzt auf und schüttelte den Kopf...
20. Zwischenspiel:

\"Cedrick hat versagt\", murmelte der Chinese. \"Eben kam sein Signal, daß der Reserveplan anlaufen soll.\"

\"Das war zu erwarten, Li-Tsu. Wilforth war viel zu sehr von sich selbst überzeugt, dabei war es immer das wichtigste Merkmal unserer Gruppe, daß wir im Verborgenen operierten... durch andere...\"
Lorenz Keel hob die Schultern.
\"Und da ich es erwartet hatte, befanden sich unsere Streitkräfte bereits in Stellung. Jetzt, in dieser Sekunde, dürfte der Hackerangriff auf die MAGI anlaufen. Und zugleich rückt die japanische Armee gegen NERV aus... der Innenminister war leicht davon zu überzeugen, daß Ikari und seine Leute sich jeder Kontrolle entzogen haben.\"

Die beiden Männer saßen in einem luxuriös ausgestatteten Büro um einen Tisch herum.

\"Ich möchte jetzt nicht in Tokio-3 sein.\"

\"Nein, fürwahr nicht. Aber morgen werden wir uns auf den Weg machen, um die Reste aufzusammeln. Das TerminalDogma wird von den Streitkräften nicht angegriffen werden, uns steht immer noch der Aufstieg offen.\"

\"Gut... Es ist lange her, seit ich die andere in der realen Welt getroffen habe... Wollen Sie noch etwas trinken, Lorenz?\"

\"Gern.\"

Li-Tsu drückte einen Knopf unter der Tischplatte.
Kurz darauf kam ein Mann mit Getränken herein und stellte sie auf den Tisch, ohne den Blick zu heben.

Dafür fielen rasch hintereinander zwei schallgedämpfte Schüsse.

Die beiden alten Männer sanken zu Boden, auf ihren Gesichtern ein Ausdruck endloser Überraschung...

Ohne Eile entfernte sich der Schütze, verließ ohne aufzufallen das Gebäude und stieg in ein wartendes Auto, wo er sich die Maske aus Kunsthaut entfernte.
\"Auftrag ausgeführt.\"

Der Fahrer nickte.
\"Wir sind die RABEN ODINs, wir scheitern nicht.\"
Kapitel 57 - Der Kreis schließt sich

Ein breites Grinsen entstand auf ADAMs Lippen, als er von einem der Laufstege, welche die große Höhle durchzogen, die gekreuzigte LILITH betrachtete.
Er hatte sie genau dort, wo er sie immer hatte haben wollen.
Vor Ewigkeiten hatte sie sich ihm widersetzt, war seinen Wünschen nicht nachgekommen. Und als er sie zwang, ihm zu Diensten zu sein, floh sie mit ihrer Brut in die Unendlichkeit. Es dauerte lange, bis er sie fand. Damals konnte sie ihn besiegen, doch jetzt waren die Vorzeichen umgekehrt, jetzt hielt er alle Trümpfe in der Hand.
Er würde ihr ihre Macht rauben und alles zerstören, was sie geschaffen hatte... die Lilim ebenso wie seine untreuen Kinder. Und zuletzt würde er sie vernichten und anschließend dem dann öden Felsklumpen, welchem die Lilims den Namen \'Erde\' gegeben hatten, den Rücken zukehren...
Er wandte den Kopf, sah seine Begleiterin, sein Werkzeug an.
Der Lilim, dessen Körper er beherrschte, hatte sie als Rei-III bezeichnet. In Ikaris Augen war sie ein Werkzeug gewesen, der Schlüssel zur Göttlichkeit. Doch in ADAMs Augen war sie eine Mißgeburt, deren Existenz schnellstmöglich beendet werden mußte. Rei-III war eine Synthese aus Lilim und Engel. Und hätte sie eine wahre Seele anstatt eines Konstruktes, eines billigen Abklatsches besessen, wäre sie wohl mehr gewesen als nur die Summe ihrer Teile, viel mehr. Ikari hatte schon gewußt, weshalb er hatte verhindern wollen... weshalb er befürchtet hatte... daß diese... Nephilim... Gefühle entwickelte...

Rei-III hatte sich völlig entkleidet, stand vor ihrem Schöpfer und blickte diesen mit ausdruckslosem Gesicht an. Dies war ihre Bestimmung, die Engel ADAM und LILITH zu vereinen und ihre geballte Macht unter die Kontrolle ihres Schöpfers zu bringen, egal wie dieser sich nannte.

ADAM betrachtete den weiblichen Lilimkörper eingehend, ohne eine Regung zu zeigen.
Nein, das war zu einfach... LILITH würde nicht ausreichend leiden, wenn er ihr jetzt einfach die Kraft raubte, selbst wenn das Werk mit Hilfe ihrer letzten Tochter ausführte.
\"Hol die Lanze.\"

Sie blickte ihn verwirrt an.

ADAM sah zur Decke empor. Seine Sinne durchdrangen Fels und Stahl, fanden ihren Weg an die Oberfläche und schließlich noch weiter, bis er den Longinusspeer wahrnahm. LILITHs Waffe, jene Waffe, die sie ihm in die Brust gerammt hatte, mit der sie ihn gebannt hatte. Und bei seinem Erwachen hatte er sie benutzt, um ihr die Beine abzutrennen... oh, sie hätte noch viel mehr gelitten, hätte sich ihr Paladin nicht eingemischt, jener gehörnte Riese in purpurner und grüner Rüstung.
Er rief die Lanze...
\"Der Longinusspeer ist unterwegs zur Erde. Nimm einen der... EVANGELIONs... und hole ihn.\"

\"EVA-01?\"

ADAM zuckte zusammen.
\"Nein. Nimm den anderen.\"
EVA-01 erinnerte ihn zu sehr an seinen Gegner und seine letzte Niederlage, er ähnelte LILITHs Paladin zu sehr, als daß er sich freiwillig in seine Nähe begeben hätte.

\"Ja. EVA-02.\"
Ohne sich anzukleiden oder ihre auf dem Laufsteg liegenden Sachen auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich der Leiter zu, welche zum Boden führte.

\"Nimm den Zentralen Schacht.\"

\"Ja.\"
Ihre Kraft würde es ihr erlauben, im Schacht bis zum Hangar aufzusteigen...


*** NGE ***


Drei EVA-Piloten standen vor den Käfigen der EVANGELIONs, zwei Jungen und ein Mädchen. Jeder von ihnen war nur teilweise ein Mensch, Engel-DNA füllte den anderen Teil aus, DNA, welche Gendo Ikari vor langer Zeit den Engeln ADAM und LILITH entnommen hatte.
Die beiden Jungen, Shinji Ikari und Kaworu Nagisa, trugen die Erbanlagen des Ersten Engels, während das Mädchen, Rei Ayanami, aus der DNA LILITHs geschaffen worden war.
Sie war die zweite Rei - Rei-II. Und sie war ein neugeborener Engel.
Kaworu war ihr älterer Bruder, wenn auch nur im Geiste. Der Engel Tabris hatte sich seinen Körper ausgeliehen - wenn auch gegen den Willen seines eigentlichen Besitzers. Und Shinji schließlich trug ebenso wie Rei ein sogenanntes S2-Organ in seinem Leib, eine Quelle der Kraft.

\"Wir werden die EVAs nicht benötigen\", beschloß der grauhaarige Kaworu. \"Unsere gemeinsame Kraft reicht aus, um bis zu unserer Mutter vorzudringen.\"

Rei nickte.
\"Ja.\"
Lächelnd nahm sie Shinjis Hände.
\"Es ist an der Zeit, Shin-chan.\"

\"Ich komme mit.\"

\"Es ist gefährlich, Shinji-kun\", warf Kaworu ein.

\"Ich werde euch begleiten. Vielleicht kann ich euch irgendwie helfen... uhm... schließlich verfüge ich auch über ein S2-Organ... ahm...\"

\"Aber du weißt nicht, wie du es einsetzen kannst\", flüsterte Rei. \"Du bist nicht imstande, eine AT-Feld zu generieren...\"

\"Rei-chan, wir sind den ganzen Weg zusammen gegangen. Seit dem Tag meiner Ankunft in Tokio-3. Ich... ah... ich kann euch jetzt nicht allein gehen lassen...\"

\"Gut.\"

\"Schwester, es ist gefährlich!\" wiederholte Kaworu.

\"Ja, ani-san. Aber ich werde ihn beschützen.\"

\"Uh...\"

\"Dann laßt uns keine Zeit mehr verlieren. Wer weiß, wann sich wieder eine derartige Gelegenheit ergibt.\"

Der EVA-Hangar war wie ausgestorben. Auch der Weg zu jenem Teil des Zentralen Schachtes, der das Central- mit dem TerminalDogma verband, war unbewacht.
Reis Zugangscodes öffneten die mächtigen Panzertüren, durch welche sogar ein EVANGELION hätte hindurchschreiten können ohne sich zu bücken oder anzustoßen.

Und schließlich standen sie vor dem Zentralen Schacht, einer riesigen runden Öffnung im Boden, die senkrecht in die Tiefe führte.

\"Bereit?\" fragte Kaworu noch einmal, sah dabei Shinji direkt an.

\"Ja.\" erklärte Shinji mit seltener Härte in der Stimme. \"Ich bin dabei.\"

\"Leg deine Arme um meinen Hals, Shin-chan.\" sagte Rei leise.

\"Uh... warum?\"

\"Damit ich dich den Schacht hinab tragen kann. Dein S2-Organ könnte die Folgen eines Sturzes nicht regenerieren.\"

\"Uhm...\"
Zögernd kam er der Aufforderung nach.

Rei ging in die Knie, hob Shinji hoch.

\"Ah... Rei... wieso...\" setzte er zum Protest an. Er war doch ein Mann, er konnte sich doch nicht von ihr tragen lassen, als wäre er ein Kind...

Sie schloß die Augen, konzentrierte sich.

Kaworu atmete tief ein, schloß ebenfalls kurz die Augen - und öffnete sie als Tabris, als er seine wahre Macht manifestierte.
Tabris\' tiefrote Augen glühten regelrecht.
\"Ich gehe voran.\"
Und der Engel trat über die Kante, stand einen Augenblick mitten in der Luft, sank dann langsam nach unten.

In Shinjis Kopf erklang Musik, die \'Ode an die Freude\', zugleich donnernd und zurückhaltend, so daß die Begleiteffekte ihn nicht erreichten, sondern von dem Teil seines Wesens, welches dem Engel ähnelte, absorbiert wurden.
Tabris strahlte Kraft aus und ungezügelte Lebensfreude.
Dann nahm Shinji eine zweite Melodie wahr, leise und ruhig, Beethovens Mondscheinsonate.
Die beiden Melodien existierten nebeneinander, konkurrierten nicht, obwohl dies eigentlich zu erwarten gewesen wäre.
Die Quelle der zweiten Musik war Rei...

\"Shin-chan...?\"

\"Bereit.\" flüsterte er.
Wie schön sie war...
Rei schien aus sich selbst heraus zu leuchten, schien zu strahlen vor Kraft und Anmut...

Sie trat mit ihm auf den Armen über die Kante, folgte ihrem älteren Bruder in die Tiefe.


*** NGE ***


Misato kniete neben Kaji und schüttelte ihn verzweifelt, stieß dabei wieder und wieder seinen Namen hervor.
Doch Ryoji Kaji antwortete nicht, hing wie eine Strohpuppe in ihrem Griff. Die Schußwunde in seinem Bauch hatte zu bluten aufgehört, ebenso wie sein Herz aufgehört hatte zu schlagen.

\"Verdammt, Kaji... sag was... spiel mir kein Theater vor... jetzt antworte doch endlich...\"
Ihre Tränen fielen auf sein Gesicht, welches im Tod seltsam entspannt wirkte, so als hätte er seinen Frieden gefunden.

\"Er ist tot, Major\", setzte einer der Ärzte, welche hinzugerufen worden waren, an. Er hatte nur den Tod Major Kajis feststellen können.

\"Ich weiß!\" brüllte Misato den Mann an, machte aber keine Anstalten, Kaji loszulassen. \"Kaum... kaum sieht es so aus, als wende sich alles zum Guten... als hätte ich endlich den Richtigen gefunden... Verdammt, Kaji, laß mich nicht allein!\"

Ächzend ging Kozo Fuyutsuki neben ihr in die Knie und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Der alte Professor gehörte ins Bett, vor seinen Augen drehte sich nicht nur wieder alles, er sah auch doppelt. Umso bemerkenswerter war es, daß er Misatos Schulter gleich im ersten Anlauf fand.
\"Er kann Sie nicht mehr hören. Lassen Sie die Ärzte ihre Arbeit tun...\"

Keuchend kam Shigeru Aoba dazu.
Er hatte den flüchtigen Schützen, welcher sich in der Maske des vom Sicherheitsrat bestellten Interimskommandanten eingeschlichen und um ein Haar die Kontrolle über die MAGI-Rechner an sich gerissen hatte, verfolgt.
\"Sir, der Eindringling befindet sich in Korridor 12-4, Sektor 44/21-D. Die Dekontaminationsautomatik ist aktiv geworden.\"

\"Die Bakelit-Versiegelung?\"

\"Ja. Korridor 12-4 ist zur Zeit nicht passierbar, ein massiver Bakelitblock verstopft ihn.\"

\"Und Cedrick befindet sich mitten darin?\"

\"Ja, Sir. Er hat seine Strafe bekommen.\"

Misato gab ein wütendes Knurren von sich.
\"Das ist noch viel zu gnädig...\"

\"Ich weiß, Major Katsuragi, ich weiß...\" murmelte Fuyutsuki.

\"Subkommandant!\" brüllte Makoto Hyuga aus der Zentrale.

Fuyutsuki richtete sich mühsam auf.
\"Ja?\"

\"Probleme mit den MAGI! Ein Hackerangriff!\"

Der Professor stolperte zurück in den Kommandostand, konnte gerade noch sehen, wie die drei MAGI-Rechner im Boden verschwanden und sich die Panzerschotten über ihnen schlossen.
\"Bericht!\"

\"MAGI ziehen sich ins TerminalDogma zurück! Der Hackerangriff wird offenbar von den Backup-MAGI-Einheiten durchgeführt.\"

\"SEELE...\" knirschte Fuyutsuki. \"Wo ist Doktor Akagi?\"

\"Im TerminalDogma, Sir\", rief Maya. \"Ich versuche bereits, sie zu kontaktieren, aber es besteht keine Verbindung zu den tieferen Anlagen.\"

\"Was zur Hölle geht hier vor?\"
Fuyutsuki stützte sich schwer auf den Tisch, hinter dem früher Gendo Ikari gesessen hatte. Ihm war übel und unerträglich heiß, eine dicke Schweißschicht stand auf seiner Stirn.

\"MAGI trennen sich vom Intranet des Hauptquartiers, Standardsysteme übernehmen Steuerung der meisten Anlagen.\"

\"Was ist mit der Übernahme?\"

\"Unbekannt.\"

Und dann gingen auch noch die Sirenen los und kündigten die Ortung eines Blauen Musters an.

\"Hyuga?!\"

\"Sir, mehrere Blaue Muster lokalisiert... im Hauptquartier... zwei im TerminalDogma jenseits der Himmelspforte, zwei weitere im Zentralen Schacht, absteigend!\"

\"Auf den Schirm!\"

\"Keine Verbindung zu den Sicherheitskameras!\"

\"Vier Engel?\"
Fuyutsuki ließ sich in den Sessel des Kommandanten sinken.
Vier...
Ikari war von einem Engel übernommen worden... ein Engel, Tabris, stand laut dem Systema Sephiroth noch aus... wer waren die anderen beiden?

\"Ein weiteres Blaues Muster im TerminalDogma! MAGI übermitteln Werte. Drei der Engel identifiziert: Jenseits der Himmelspforte befinden sich ADAM und LILITH, im Zentralen Schacht befindet sich Tabris. Keine Einstufung als Zielobjekt!\"

\"Die anderen beiden?\"

\"Negativ, Sir... Augenblick... MAGI liefern Namen... im Zentralen Schacht: Ikiru, ebenfalls keine Einstufung als Zielobjekt! Jenseits der Himmelspforte: Shibo...\"
Makoto Hyuga blickte entgeistert nach oben.
\"Ikiru und Shibo...\"

\"Leben und Tod\", flüsterte Fuyutsuki, sammelte sich sogleich wieder. \"Der Angriff auf die MAGI?\"

\"Ist zu Stillstand gekommen, Sir... Sir, MAGI gehen zum Gegenangriff über!\"

Ein anderer Operator sprang auf.
\"Subkommandant, eine Nachricht von der Oberfläche... es ist der Oberkommandierende der JSSDF!\"

\"Haben wir ein Bild?\"

\"Ja, Sir.\"

\"Auf den Schirm!\"

Auf dem großen Bildschirm erschien das Gesicht eines schwarzhaarigen Mannes mit Oberlippenbart. Er trug die Rangabzeichen eines Generals.
\"Haben Sie das Kommando im NERV-HQ?\" fragte er knapp.

Fuyutsuki nickte, bereute es sofort, als ihm noch schwindliger wurde.
\"Ja. Kozo Fuyutsuki, Stellvertretender Kommandant von NERV.\"

\"Ich habe den Auftrag, Sie zur sofortigen Übergabe des Hauptquartiers und seiner Einrichtungen aufzufordern, einschließlich der EVANGELIONs und der MAGI.\"

\"Wie bitte?\"

\"Sie haben eine Minute Bedenkzeit, ich erwarte Ihre sofortige Kapitulation.\"
Die Verbindung wurde unterbrochen.

Fuyutsuki stemmte sich in die Höhe.
\"Sie wollen sich die EVAs unter den Nagel reißen... dahinter kann nur SEELE stecken...\" murmelte er.
Er drehte sich, blickte in den Korridor hinaus.
\"Major Katsuragi, gehen Sie auf Ihren Posten! Das Hauptquartier steht kurz vor einem Angriff!\"

\"Sir...\"

\"Los! Oder Kajis Opfer war umsonst!\"

\"... Ja.\"

Der Stellvertretende Kommandant bemühte sich, die Offiziere in der Zentrale zu mustern, bemühte sich, ihre verschwommenen Gesichter zu identifizieren.
\"Die EVAs sind Waffen, welche keiner einzelnen Nation in die Hände fallen dürfen. Ich werde das Hauptquartier nicht der JSSDF übergeben. Wer gegen meine Entscheidung ist, kann gehen, ich halte ihn oder sie nicht auf.\"


*** NGE ***


Asuka hatte keine Tränen mehr...
Noch lag sie zu einem Ball zusammengerollt auf dem kalten Metallboden des Labors halb unter einem Terminal. Mittlerweile fror sie erbärmlich. Und es juckte sie am ganzen Körper, seitdem das LCL eingetrocknet war. Im Mund hatte sie einen fürchterlichen Geschmack, der regelrecht in ihrer Kehle brannte.
Langsam lockerte sie ihre Muskeln, streckte sich ein wenig, setzte sich auf, sah sich mit gerötetem Auge um.

Wo war sie überhaupt?
Das sah aus wie ein Labor, allerdings hatte sie diesen Raum noch nie zuvor betreten. Und die Einrichtungen... eine Röhre, in welche LCL eingeleitet werden konnte, in der ein Mensch Platz hatte...

Geduckt richtete sie sich auf, ihre Blöße mit den Händen vor potentiellen Beobachtern so gut wie möglich verbergend.

Hier mußte doch noch irgend jemand sein...
Jemand mußte sie in die Röhre gesetzt und die Gerätschaften aktiviert haben...
Wo waren denn alle?

\"Ha-Hallo?\" fragte sie leise.

Keine Antwort...

Mit kleinen Schritten ging sie an der Wand entlang, bemühte sich, sich an ihre veränderte Wahrnehmung zu gewöhnen.
Nur noch ein Auge...
Wie hatte sie ihr linkes Auge verloren?
Wieder und wieder erinnerte sie sich an die letzten Momente, ehe es um sie dunkel geworden war.
Ihr Angriff auf die anderen Piloten... Shinji, der mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden geht... das blutige Messer in ihrer Hand... die entsetzten Blicke der beiden anderen... ein wuchtiger Schlag, der sie trifft... und dann Dunkelheit...
War es das gewesen?
Hatte der Schlag ihr ein Auge geraubt?
Und was hatte sie getroffen?
Ein Geschoß? Eine Kugel aus einem Präzisionsgewehr?
Sie kniff ihr rechtes Auge zusammen, um das Fehlen räumlicher Wahrnehmung zu kompensieren. Alles erschien ihr so flach und zweidimensional, Entfernungen waren viel schwerer einzuschätzen als vorher...

Da hing ein weißer Laborkittel an der Seite eines Schrankes...

Rasch huschte sie hinüber, hatte nur kurz mit ihrem Gleichgewicht zu kämpfen, griff sich den Kittel und zog ihn über.
Er war zu lang und an der Brust zu eng, sie konnte kaum atmen, entschied sich, die obersten Knöpfe offen zu lassen, auch wenn dies bedeutete, daß von ihrem Busen mehr zu sehen war, als ihr lieb war. Wahrscheinlich gehörte er Doktor Akagi oder ihrer Assistentin, die beiden Wissenschaftlerinnen waren doch recht flachbrüstig im Vergleich...
Bekleidet fühlte Asuka sich schon etwas besser.
Jetzt mußte sie nur noch jemanden finden, dem sie ihre Taten beichten konnte, dem sie gestehen konnte, wie sehr sie es bedauerte, Shinji niedergestochen zu haben... vielleicht würde man ihr ja glauben, daß sie nach dem Gedankenkontakt mit dem Engel nicht mehr Herr ihrer Selbst gewesen war...

Immer an der Wand entlang ging sie zur Tür, öffnete diese und trat auf den Korridor.
Zu beiden Seiten gingen weitere Türen ab.
Und vom anderen Ende des langen Ganges kam ein leises Heulen, daß es ihr Angst und Bange wurde.

Asuka riß die erste Tür auf, blickte in einen leeren Raum. Hinter der zweiten Tür dasselbe. Dann ein leeres Labor. Hinter der vierten Tür befand sich ein Lagerraum, ebenfalls leer. Sie wollte die Tür bereits wieder schließen, als ihr Blick auf einen Gegenstand fiel, den jemand anscheinend hinter anderen Dingen zu verstecken versucht hatte. Und anscheinend hatte dieser Jemand unter Zeitdruck gehandelt, denn es war ihm nicht ganz gelungen, ein Teil des Gegenstandes war noch zu sehen - und wenn Asuka sich nicht komplett irrte, handelte es sich um den Lauf eines Gewehres.
Eine Waffe...

Zögerlich trat sie an den Stapel von Geräten und Kartons heran, streckte die Hand aus.

Sie wußte nicht, wo sie war.
Und sie wußte auch nicht, ob sie allein war oder ob nicht vielleicht irgendwo jemand auf sie lauerte...

Als sich ihre Finger um den Waffenlauf schloß, fühlte sie einen Anflug von Sicherheit.
Rasch zog sie die Waffe ganz aus ihrem Versteck.

Kein normales Gewehr... viel zu klobig...

\"Das ist ja...\"

Das war ein Positronengewehr!

Überrascht betrachtete sie die Waffe.
Ja, wirklich - ein auf Menschen zugeschnittenes Positronengewehr, nur mit einem zusätzlichen Lauf.
Asuka überprüfte das Magazin.
Vier Ladungen im ersten Magazin, vier explosive Positronenladungen...
Das zweite Magazin war voll, enthielt vierzig normalgeformte Patronen.

Jetzt konnte ihr über den Weg laufen, was da wollte, sie war gewappnet!

Das Gewehr in der Armbeuge trat sie wieder auf den Korridor, checkte die nächsten Türen, stieß wieder nur auf verlassene oder gar gänzlich leere Räume.
Schließlich stand sie in einem größeren Raum, dessen Stirnwand von einer abgedunkelten Trennscheibe eingenommen wurde.
An einem Terminal tanzten bunte Lichter!
Das war das erste Zeichen von Aktivität, welches Asuka bisher gefunden hatte.

Zuerst sah sie sich um, ob vielleicht jemand hinter der Tür oder in einer Ecke oder Nische auf sie lauerte, ging dann zu dem Terminal.
Ihre Füße schmerzten, der Metallboden war nicht eben, sondern geriffelt. Und das Muster hatte scharfe Kanten, welche sie langsam durch die Hornhaut spüren konnte. Vielleicht sollte sie in das Labor, in dem sie zu sich gekommen war, zurückkehren und es nach ihren Sachen durchsuchen...

Neben der Trennscheibe war ein Schalter angebracht.
Was wohl dahinter liegen mochte...

Noch einmal sah sie sich sichernd um, ehe sie den Schalter berührte.

Die Scheibe wurde durchsichtig.
Dahinter befand sich ein offenbar mit LCL gefüllter Raum. Und in der Flüssigkeit schwammen zahllose menschliche Körper... zahllose nackte Mädchenkörper mit blasser Haut, roten Augen und blauen Haaren.
Und alle blickten Asuka an und lachten.

Mit aufgerissenem Auge und flackerndem Blick trat Asuka von der Scheibe zurück.
Das konnte doch nicht... das durfte einfach nicht...
Zahllose Rei Ayanamis... Wondergirl mal hundert, wenigstens...
Wenn so viele von ihnen sich in diesem Tank befanden, wieviele mochten dann noch außerhalb frei herumlaufen? Und was hatte das überhaupt zu bedeuten?

\"Wondergirl?\" fragte Asuka leise.

Als Antwort erklang ein dutzendfaches Lachen in ihrem Kopf.
Beinahe hätte Asuka das Gewehr fallengelassen, als sie im ersten Reflexe die Hände gegen den Schädel pressen wollte, so jedoch preßte sie nur die Kiefer zusammen, daß es schmerzte. Der Schmerz übertönte in gewisser Weise das Lachen.
Es war kein bösartiges Lachen, aber auch kein Ausdruck der Freude, sondern nur Laute, welche wie ein Lachen klangen.

Die scheinbar zahllosen Reis sammelten sich an der Scheibe, starrten Asuka an und lachten dabei.

\"Hört auf...\"

Ihre Augen waren völlig leer, komplett leblos. Wenn es stimmte, daß die Augen die Fenster zur Seele waren, dann hatte irgend jemand auf der anderen Seite die Jalousien herabgezogen und ein Schild an diese Fenster genagelt mit der Aufschrift \'Zu Vermieten\'...
Und dennoch hatte Asuka den Eindruck, von diesen leeren Augen angezogen zu werden.
Ohne es wirklich zu wollen, trat sie wieder näher an die Scheibe heran, berührte sie mit der Handfläche.

Eine der vielen Reis tat es ihr nach, legte ihre Hand von der Innenseite her gegen die Scheibe.

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es Asuka. Kälte schien ihren Arm hinaufzukriechen. Sofort brach sie den Kontakt ab, wich plötzlich ernüchtert zurück.

Immer noch waren die Gesichter der vielen Reis zu einem permanenten Lachen verzogen, immer noch wirkten die Augen leer... nein, da war etwas, ganz schwach... Hunger!
Es waren leere Gefäße, die gefüllt werden wollte, seelenlose Kreaturen, die nach einer Seele dürsteten...

Sofort wurde Asuka an den Traum erinnert, aus dem sie schließlich in der Glasröhre erwacht war.
\"Zombies...\" flüsterte sie.
Nein, keine Zombies... Vampire war wohl treffender...
Diese Wesen waren keine Menschen, das waren irgendwelche... Dinge!
Und diese Dinge warteten auf Opfer, denen sie die Seelen rauben konnten...

Asuka war weiter rückwärts zurückgewichen, spürte jetzt die Wand im Rücken.
Wo auch immer sie sich befand, hier lauerte eine gewaltige Gefahr!
Wenn diese Kreaturen losgelassen wurden, würden sie alles Leben in der Umgebung verschlingen...
Sie hob das Positronengewehr, entsicherte es mit routinierten Bewegungen, ohne den Blick von der Scheibe abzuwenden.
Vielleicht hatte der Raum hinter der Scheibe einen anderen Ausgang, den sie nicht erkennen konnte... vielleicht waren einige der Reis schon unterwegs, um sie zu holen...
Sie lauschte, glaubte das Patschen nasser Füße auf Metallboden in der Ferne zu hören.

\"Mich kriegt ihr nicht...\"

Asuka betätigte den Abzug des Gewehrs.
Fauchend schoß eine geballte Positronenladung aus dem Lauf, schlug in die Trennscheibe ein, explodierte.

Es zerfetzte die Scheibe. Und es zerriß auch jene der blassen Kreaturen, die sich in direkter Nähe der Scheibe aufgehalten hatten.

Die Druckwelle stieß Asuka gegen die Wand und drückte ihr die Luft aus den Lungen, ein Glassplitter riß den Stoff des Kittels und die darunterliegende Haut auf, ehe er sich in die Wand bohrte.

LCL schwappte aus der Explosionsöffnung.

Asuka tastete sich vor in Richtung der Tür, schob sich auf den Gang.
Der Korridor war leer...

Gestalten tauchten in dem Loch in der Scheibe auf, kletterten hindurch.

Wieder hob Asuka das Gewehr, schaltete auf das zweite Magazin um, feuerte es halb leer, um die ersten drei Reis, welche vor ihr auftauchten, zu zerfetzen, ehe sie wieder ein Stück zurückwich.

Noch mehr der blassen Wesen verließen den LCL-Tank, allerdings stolperten sie umher, schienen nicht sicher auf den Beinen stehen zu können.

Ein leiser Schrei drang über Asukas Lippen, als sie sah, wie die erste Rei sich aufzulösen begann, sich einfach verflüssigte, zuerst ein Arm, dann ein Bein. Dann kippte der Körper zur Seite, verlor alle Konturen und wurde eins mit dem LCL, welches knöchelhoch im Raum stand, jetzt auch in den Korridor drang.
Die nächste Rei brach zusammen, schien einfach im Boden zu versinken. Die dritte schmolz wie Schnee in der prallen Sonne.

Asuka stolperte den Gang hinunter.
Das waren wirklich Monster... kein Mensch löste sich einfach in LCL auf!
An der nächsten Kreuzung sicherte sie in alle Richtungen.
Niemand folgte ihr, keine Rei, welche halbaufgelöst hinter ihr her stolperte, keine Reis, die mit gefletschten Zähnen lachend über sie herfielen.
Jetzt rannte sie, lief direkt in eine riesige Halle hinein.
Und schrie wieder auf.
Mittlerweile lagen ihre Nerven blank.

In gewaltigen LCL-Becken trieben die Skelette von Riesen, weitere Skelette hingen an großen Fleischerhaken von der Decke. Skelette ohne Arme, Skelette mit drei Armen, Skelette mit zehn Armen wie indische Gottheiten, Skelette mit mehreren Köpfen, Skelette mit grotesk kurzen Wirbelsäulen und überlangen Gliedmaßen.
Und sie alle schienen ihr etwas aus dem Halbdunkeln zuzuraunen.
Ihre inzwischen überanstrengte Phantasie versuchte, in dem Flüstern Worte zu verstehen, machte ihr schließlich glaubend, daß die Skelette fragten, weshalb sie lebte, während sie als knöcherne Relikte in diesem Fleischhaus ausgestellt waren.

Kurz richtete Asuka das Gewehr auf das nächste der riesenhaften Gerippe, unterließ es aber zu feuern. Es waren einfach zuviele...
Stattdessen machte sie kehrt, hämmerte im Vorbeilaufen die Faust gegen einen Schalter in der Wand, welcher das Tor der Halle zufahren ließ.
Dann stand eine LCL-triefende nackte Rei vor ihr und lachte sie an, hob zugleich die zu Klauen verkrümmten Hände.

\"Nein!\" schrie Asuka und versetzte der Kreatur einen Schlag mit dem Gewehrkolben.
Der Kolben ging glatt durch Rei hindurch, zerteilte sie in zwei Hälften, die separat zu Boden klatschten, dort allerdings zu einer einzigen LCL-Pfütze zusammenliefen.
Schwer atmend stand Asuka nur da, den Waffenlauf die Pfütze am Boden gerichtet, auf eine Bewegung wartend.
\"Versuch es nur... ich warte...\" flüsterte sie, fühlte sich an einen Film aus der Zeit vor dem Impact erinnert, den sie vor einiger Zeit gesehen hatte, in dem ein böser Androide aus der Zukunft, dessen Körper aus einer Art Quecksilber bestanden hatte, versucht hatte, eine Mutter und ihren Sohn zu töten. Falls die zahllosen Ayanamis auch über diese Fähigkeit verfügten...
... dann war sie geliefert...

Doch nichts tat sich, weder wuchs Rei plötzlich aus der Pfütze wieder in die Höhe, noch bildete das LCL irgendwelche Körperteile wie zupackende Hände, Glubschaugen oder dergleichen aus.

Schließlich wich Asuka von der Pfütze zurück, orientierte sich kurz und lief an der nächsten Kreuzung den linken Gang hinab...


*** NGE ***


Ritsuko Akagi hatte ihren Rundgang durch das TerminalDogma beendet - eigentlich schon vor über einer Stunde. Sie saß gerade auf einem Feldbett in einem spartanisch eingerichteten Raum, als ihr Palmtop zu piepen begann.
In diesem Raum war Rei den Unterlagen nach geboren worden, hier hatte Rei-I ihre ersten Wochen und Monate verbracht, ehe ihre Mutter sie erwürgt hatte...
Ritsuko zog die Fernsteuerung für die Anlagen des Dogmas aus der Tasche.
Auf dem winzigen Bildschirm erschienen mehrere Mitteilungen, demnach wurden die MAGI im Augenblick mit einem Hackerangriff von Seiten der Backup-Systeme konfrontiert.
Akagi fluchte.
Sie mußte sofort in die Zentrale und von dort aus die Hacker abwehren...

Die nächste Mitteilung bremste sie bereits wieder - die MAGI waren über die Evakuierungsschächte auf dem Weg ins TerminalDogma, in den am besten geschützten Raum der ganzen Anlage - LILITHs Gefängnis hinter der Himmelspforte...
Die MAGI kamen zu ihr!

Ritsuko lief los, ignorierte die weiteren Mitteilungen über das Auftauchen von insgesamt fünf Engeln im TerminalDogma ebenso wie die Nachricht, daß die JSSDF am Stadtrand von Tokio-3 Stellung bezog...


*** NGE ***


Naoko Akagi stand vor einer trichterförmigen Öffnung und wehrte mit den Händen einen nicht endenwollenden Strom von Lichtern ab, welcher von außerhalb in die MAGI eindringen wollte.

Larsen verstand mittlerweile genug, um Akagis Vorgehen zu durchschauen - die Lichter stellten Datenimpulse von anderen Computern dar, jedes einzelne ein Versuch, die MAGI unter fremde Kontrolle zu bringen.
Bisher war Akagi schnell genug, um jeden einzelnen Impuls abzuwehren, zugleich gab sie immer wieder mit einer Hand rasche Kommandos in eine direkt neben ihr schwebende Tastatur ein.
\"Kann ich Ihnen helfen?\"

\"Nein, ich komme klar. Firewalls stehen. Abwehr aktiviert. Gegenschlag vorbereitet. Gegenschlag beginnt!\"

Nun jagten von Seiten der MAGI aus unzählige Lichtpunkte durch die Öffnung, erhellten das Innere von Dutzenden an Datenleitungen, rasten über die ganze Welt.

\"MAGI-System Beijing unter Kontrolle. MAGI-System Moskau unter Kontrolle. MAGI-System Washington D.C. unter Kontrolle. MAGI-System London unter Kontrolle...\"
Naoko Akagi ratterte noch mehrere Standorte hinunter.
\"Mit ihrem Angriff haben sie zugleich die Tore weit für einen Gegenangriff geöffnet.\"

\"An der Oberfläche steht ein physischer Angriff durch Truppen des japanischen Militärs bevor.\"

\"Werden Sie mir dabei helfen? Computer sind eine Sache, aber Sie sind hier der Stratege.\"

\"Natürlich.\"

Schlagartig verwandelte sich die Umgebung, nahm das Aussehen der NERV-Kommandozentrale an, wenn auch ohne den höhergelegenen Kommandostand. Vor den Kontrollpulten saßen gesichtslose Gestalten aus Licht und elektronischen Impulsen, jede von ihnen repräsentierte eines der noch verbliebenen Waffensysteme an der Oberfläche, welche die Angriffe der Engel überstanden hatten. Es waren nicht mehr viele.
Und ein paar repräsentierten die Verteidigungsanlagen der Geofront und des Hauptquartiers.

\"Habe ich das Kommando über die Verteidigungsanlagen?\"

\"Es liegt in Ihrer Hand, Commander.\"

\"Gut.\"
In rascher Folge gab er seine Befehle, rief auf den großen Monitor die taktischen Daten und strategischen Pläne auf, legte seine Strategie zurecht und programmierte die Anlagen entsprechend.
\"Es gibt noch Ressourcen, an die wir bisher nicht gedacht haben.\"

\"Was meinen Sie?\"

Er sandte ihr einen kurzen Impuls, der ein Lächeln bedeuten sollte.
\"Ich werde ein paar Verbündete rekrutieren... Versuchen Sie, sich in die Rechner der Armee zu hacken und Rückzugsbefehle auszulösen...\"
Und damit löste er sich in einen Wirbel aus Bits und Bytes auf, der auseinanderstob und sich verteilte.


*** NGE ***


Im EVA-Hangar zuckte EVA-02, richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf. Die Augen des roten EVANGELION glühten auf.


*** NGE ***


Larsen stand sich selbst gegenüber - oder dem, was er einmal gewesen war.
Äußerlich war der Unterschied gewaltig, während er sich mit seinem \'gewöhnlichen\' Aussehen repräsentierte, zeigte der andere sich als menschengroße Version der roten EVANGELION-Einheit-02. Doch hinter der helmartigen Panzerung vermeinte der Stratege sich selbst zu erkennen.

Das Bewußtsein von EVA-02 verstellte ihm den Weg, baute sich drohend auf.

\"Freund.\" flüsterte Larsen.

\"Beweise!\"

\"Du kennst mich. Ich bin du. Du bist ich.\"

\"Beweise!\"

\"Deine Hilfe wird gebraucht. Deine... und die derjenigen, die du beschützt. Viele Leben sind in Gefahr. Unschuldige könnten zu Tode kommen, während wir hier sprechen!\"

\"Unschuldige... Unschuldige müssen beschützt werden.\"

\"Es sind Kinder unter ihnen. Erinnerst du dich an Asuka?\"

\"Asuka Soryu Langley, Pilotin von EVA-02. Meine Pilotin.\"

\"Kinder müssen beschützt werden.\"

\"Ja.\"

\"Unschuldige müssen beschützt werden.\"

\"Ja. Kinder sind Unschuldige. Sie müssen beschützt werden...\"

\"Dann gib den Weg frei.\"

Die Repräsentation des EVAs wich zur Seite.

Larsen ging an ihm vorbei, überschritt eine unsichtbare Schwelle.

Jenseits der Schwelle lag Kyoko Soryus Version der Realität, ein Zimmer ohne rechte Winkel mit schiefen eingebeulten Wänden, welches direkt dem Kopf eines Surrealisten entsprungen zu sein schien.
In einer Ecke saß zusammengekauert eine Frau mittleren Alters, das Gesicht von der Tür abgewandt.

Es lag über zehn Jahre her, daß Larsen sie zum letzten Mal gesehen hatte, doch er erkannte die Frau sofort.
\"Kyoko?\"

\"Ja?\"
Ihre Stimme klang verängstigt.

\"Erkennen Sie mich?\"

\"Sie sind... Anns Ehemann... meine gute Freundin Ann... Wolf...\"

\"Ja.\"

\"Ich habe Sie gebeten, auf Asuka Acht zu geben...\"

\"Das habe ich... nach bestem Wissen und Gewissen...\"

\"Trotzdem gab es Unglücke... Mißgeschicke... Fehler...\"

\"Ja. Urteilen Sie über mich, Kyoko.\"

\"Nein, das kann ich nicht. Ich habe Ihnen diese Last aufgebürdet... Asuka, wo ist sie?\"

\"Es geht ihr nicht sonderlich gut. Ich... wir... Tokio-3 benötigt Ihre Hilfe... NERV wird angegriffen.\"

\"NERV... sollen sie doch alle in der Hölle schmoren... hätte ich doch niemals von dieser Organisation gehört...\"

\"Wenn Sie uns nicht helfen, wird auch Asuka sterben.\"

\"Nein... Bringen Sie sie in den EntryPlug. EVA-02 kann sie in Sicherheit bringen.\"

\"Dazu ist keine Zeit. Ich überspiele gerade die taktischen Daten in die Computer des EVAs. Kyoko, die Einheit ist imstande, allein zu kämpfen, ohne daß ein Pilot der Gefahr ausgesetzt wird. Aber Sie müssen es erlauben.\"

\"Ich kann nicht...\"

\"Doch, Sie können... die Kyoko Soryu, die ich kannte, konnte es. Sie war stark.\"

\"Das war ich nie.\"

\"Doch. Sie müssen nur dem EVA erlauben, in den Kampf zu ziehen.\"

\"Die Künstliche Intelligenz... sie ähnelt Ihnen sehr.\"

\"Vielleicht. Kommen Sie... verlassen Sie Ihr Gefängnis.\"

\"Werde ich Asuka wiedersehen?\"

\"Ja. Mein Wort darauf.\"
Er streckte die Hand aus.

Eine ganze Weile verging.
Dann hob Kyoko langsam die Hand, ergriff die seine, ließ sich auf die Füße ziehen, folgte ihm aus dem schrägen Zimmer...


*** NGE ***


Die Fesseln von EVA-02 wurden gelöst, dann der Käfig geöffnet.
Ohne daß ein EntryPlug eingeführt war, setzte der EVA sich in Bewegung, marschierte auf eine der Aufzugsplattformen zu.


*** NGE ***


Durch die Datenleitung, die zwischen den MAGI und EVA-01 bestand, betrat Larsen das Bewußtsein des purpur-grünen EVANGELIONs. Auf hier erwartete ihn eine Repräsentation des EVA, allerdings zeigte diese keine Feindseligkeit.
Und neben dem EVA stand eine weitere Person.

\"Wir haben Sie bereits erwartet\", erklärte Yui Ikari...


*** NGE ***


Die Frist war längst verstrichen, längst hatten die Streitkräfte des japanischen Militärs am Rand von Tokio-3 Stellung bezogen. Das Luftradar meldete die Annäherung mehrerer Bomberstaffeln.

\"Sie werden sich den Weg in die Geofront freibomben\", vermutete Misato. \"Status unserer Luftabwehr?\"

\"Unbekannt, Major\", erwiderte ein totenbleicher Makoto Hyuga.

\"Was soll das heißen?\"

\"Die MAGI geben keine Informationen weiter... aber alle Abwehrsysteme sind auf Automatik geschaltet worden!\"

\"Die MAGI... - Maya, könnte Ritsuko sie unten vom TerminalDogma aus steuern?\"

\"N-Nein, Major Katsuragi, dazu fehlen die Einrichtungen... und ihre Fernsteuerung ist dazu auch nicht fähig.\"

\"Aber wie dann...\"

\"Nehmen Sie die MAGI gänzlich vom Netz, schalten Sie die Abwehranlagen auf manuelle Kontrolle vom Kommandoraum aus um\", wies Fuyutsuki an.

\"MAGI widersetzen sich.\"
Maya schüttelte den Kopf.
\"Ich habe Sempais Kommandocodes benutzt...\"

Hyuga überprüfte seine Daten.
\"Sir, einer der Engel... Shibo... passiert die Himmelspforte... Begegnung mit Tabris... starke AT-Felder werden aufgebaut... Was geht da unten nur vor sich?\"

Das Bild des großen Monitors verschwamm.
Die Bilder der Beobachtungskameras an der Oberfläche wurden durch das Gesicht einer Frau ersetzt.

Kozo Fuyutsuki keuchte auf.
\"Yui...\"

Yui Ikari lächelte.
\"Vertrauen Sie uns, Professor.\"
Und damit verschwand ihr Abbild wieder wie eine Fata Morgana.

\"Agh... Sie haben es auch gesehen, oder?\"

\"Ja, Sir...\" flüsterte Misato. \"War das wirklich... Yui Ikari? Shinjis Mutter?\"

Fuyutsuki nickte stumm.

\"Sir, EVA-02 ist aktiv geworden. Die Einheit befindet sich auf dem Weg an die Oberfläche... genau in das Aufmarschgebiet!\" rief Maya. \"Und jetzt zeigt auch EVA-01 Aktivität... Einheit-01 ist unterwegs zum Zentralen Schacht... betritt jetzt den Zentralen Schacht!\"

\"Die Kinder... wie haben sie das nur geschafft...\" hauchte Misato. \"Sofort eine Verbindung zu den EntryPlugs herstellen!\"

\"Keine Antwort, Major. Laut meinen Daten... sind die EVAs nicht mit EntryPlugs bestückt.\"

\"Was?\"

\"Ich... ich verstehe das selbst nicht...\"


*** NGE ***


Rei erreichte den Boden des Zentralen Schachtes neben Tabris, setzte Shinji wortlos ab.
Ihr Blick war auf das zwanzig Meter hohe Tor am Ende des großen Ganges gerichtet. Dies war die Himmelspforte. Und dahinter lag die Höhle, welche das Gefängnis der Urmutter war, hinter dem Tor wartete LILITH im Zentrum des Schwarzen Mondes...

\"Wir haben etwas vergessen\", meldete sich Tabris plötzlich zu Wort. \"Wie bekommen wir das Tor auf? Unsere Körper besitzen nicht genug Kraft dazu - und die Felder unserer Seelen können auch nicht den nötigen Druck generieren.\"

Die beiden Engel blickten sich fragend an.

\"Sollten wir vielleicht doch einen der EVAs holen?\"

\"Nein, Bruder. Durch das ganze TerminalDogma ziehen sich Gänge und Tunnel, die miteinander verbunden sind.\"

\"Wir... uh... wir können das Tor umgehen.\"

\"Ja, Shin-chan.\"
Für Rei gab es keinen Grund, die intime Anrede für ihren Geliebten trotz der Gegenwart einer weiteren Person nicht zu benutzen, erst recht nicht seit ihrer Wiedergeburt als Engel.

\"Dann laßt uns gehen. Jede Sekunde, die Mutter länger in Gefangenschaft ist, ist mir schier unerträglich.\"
Tabris marschierte den Gang hinab, eine Tür im Auge.

Für einen EVA waren es nur wenige Schritte vom Schacht bis zum Tor, doch für einen Menschen war die Strecke bedeutend länger.

\"Dorthin, Rei-chan?\" fragte Shinji und deutete auf die Tür, welche Tabris entdeckt hatte. Es war dieselbe Tür, durch welche sie schon Doktor Akagi auf dem Weg zur Gen-Schmiede geführt hatte, als sie den Korridor passiert hatten.

\"Ja.\"

Die Tür lag fast direkt vor dem gewaltigen Tor.
Shinji und Rei eilten dem anderen nach, schlossen schnell auf.
Und gerade, als sie die Tür erreichten, öffnete sich das Tor...

Shinji unterdrückte den Fluchtreflex.
Wahrscheinlich hatte man ihnen eine Falle gestellt... wahrscheinlich warteten hinter dem Tor die NERV-Streitkräfte, um die eingedrungenen Engel zu vernichten...
Doch anstelle einer Einheit schwerbewaffneter Soldaten stand dort nur eine einzelne Gestalt mit blauen Haaren und roten Augen.
\"Uh...\"
Es war die andere Rei...

Tabris riß die Augen auf.
Das Wesen vor ihm verfügte über eine Quelle der Kraft, es war ebenso wie seine jüngere Schwester, der es aufs Haar glich, ein Abkömmling LILITHs... doch da endeten die Vergleichsmöglichkeiten.
Die andere Rei hatte keine wahre Seele...

Rei-III zögerte nicht.
Sie war geschaffen worden, die Engel zu bekämpfen und zu vernichten!
Mit der Kraft eines Orkans entfesselte sie ihre Kräfte...
Ihre Augen glühten in unheiligem Feuer auf.
Zugleich vernahmen die anderen drei ihr Lied, doch es war keine Melodie, auch kein mächtiger vielstimmiger Chor, sondern nur eine Anreihung von Dissonanzen, als fahre jemand mit langen Fingernägeln über eine Schiefertafel.

Tabris verspürte Schwindel, dieses Wesen war eindeutig weder Engel, noch Lilim oder Nephilim. Wäre er imstande gewesen, an die Existenz des Teufels zu glauben, hätte er Rei-III möglicherweise als Lahan eingestuft, als Geschöpf der Finsternis.
Ihre AT-Felder trafen aufeinander, umwogten einander.
Funken sprühten, krachend schlugen Blitze in die Wände.

Shinji zog Rei mit sich in den minimalen Schutz des Rahmens der in die Wand eingebauten Tür.

Tabris ballte die Fäuste und preßte die Zähne aufeinander, mobilisierte beinahe alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte. Doch für ihn gab es eine Grenze, er konnte nicht seine gesamte Kraft einsetzen, ohne dabei den Lilimkörper zu schädigen, schließlich hatte er dessen wahren Besitzer versprochen, ihn unbeschädigt zurückzugeben!

Für Rei-III galten derartige Begrenzungen nicht.
Die Stärke ihres AT-Feldes wuchs kontinuierlich an, ebenso der Druck, den sie auf Tabris\' Kraftfeld ausübte.

Der grauhaarige Engel ging in die Knie, dabei dauerte der Kampf erst wenige Sekunden.
Sie war einfach zu stark...

Doch auch bei seiner Gegnerin zeigten sich die ersten Spuren des Kampfes - sie begann sich teilweise aufzulösen, als ihr AT-Feld die Begrenzungen ihres Körpers nicht mehr aufrechterhalten konnte. Als Staub rieselte die Haut ihrer rechten Gesichtshälfte zu Boden, legte die darunterliegenden Muskeln und Knochen frei. Ebenso löste sich ihr linker Arm knapp unterhalb des Ellenbogens auf.
Es kümmerte sie nicht. Ihr Körper war nicht fähig, Schmerz zu verspüren. Nur die Mission, nur der Auftrag ihres Schöpfers zählten.
Vernichte die Engel...
Hole die Lanze...
Die Engel waren im Weg, solange sie sich im Korridor aufhielten, konnte sie nicht zu EVANGELION-02 gelangen, an die Oberfläche gehen und den Longinusspeer holen...
Noch einmal verstärkte sie ihr AT-Feld.

Tabris\' Kraftfeld gab unter dem Druck nach.
Der Engel schrie kurz auf, dann war es vorbei.
Mit einem leisen und dennoch schreckenseinflößenden \'Plop\' löste sich sein Kopf von den Schultern des plötzlich zerquetschten Körpers und rollte auf seine Mitstreiter zu.

\"Nagisa-kun!\" brüllte Shinji.

Rei schob ihn zu Seite, trat ihrer Schwester entgegen.

\"Rei... Nicht!\"

Sie hörte nicht auf ihn. Ihr Blick traf den der anderen.
Äußerlich waren sie gleich, und doch hätten sie nicht grundverschiedener sein können.

Erneut traf AT-Feld auf AT-Feld.
Keine der beiden Reis wankte, keine wich zurück.

Der linke Arm von Rei-III löste sich weiter auf, jetzt lagen die Schulterknochen frei, ebenso waren die Muskeln und Sehnen ihres linken Oberschenkels klar zu erkennen, als die Haut sich auflöste wie Papier, an welches jemand eine glühende Zigarettenspitze gehalten hatte.

Reis Nase begann zu bluten. In ihren Augen platzte eine Ader nach der anderen, bis ihre scharlachroten Augen in Seen aus Blut zu schwimmen schienen
Das S2-Organ in ihrer Bauchhöhle pulsierte hämmernd, schien ihr klarmachen zu wollen, daß das Limit ihrer Kraft erreicht war.

Shinji hockte auf den Knien vor Kaworus abgetrennten Kopf, starrte zu den beiden Reis hinüber, die in ihr Duell verwickelt waren.

\"Oh, Mist.\"

Shinji zuckte zusammen.
Der Kopf hatte gesprochen...

Kaworus Schädel begann sich zu bewegen, fing an zu schweben, bis er auf der Höhe von Shinjis Gesicht war, sah ihn an.
\"Eigentlich hatte ich versprochen, daß dem Körper nichts zustößt\"; murmelte der Engel traurig.

\"Agh... agh...\" machte Shinji.

Tabris wandte sich dem Kampf zu, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um durch die tobenden Gewalten etwas erkennen zu können.
\"Sie muß es schaffen...\"

Da flog vor ihnen die Seitentür auf und Asuka trat auf den Gang, den Prototypen des Positronengewehrs in Händen...


*** NGE ***


Ritsuko rannte quer durch die Höhle, in welcher der gekreuzigte Engel gefangengehalten wurde. Doch für den Giganten hatte sie keinen Blick, sah auch nicht nach oben zu den Laufstegen, sondern lief am Ufer des LCL-Sees entlang auf die MAGI-Rechner zu, welcher auf einem Podest zur Ruhe gekommen waren.
Um sie zu erreichen, mußte sie schließlich noch eine Metalleiter hinaufklettern, um auf einen der Laufstege zu gelangen, der etwa zwei Meter über der Plattform mit den Supercomputern angebracht war. Immer noch galt ihre ganze Aufmerksamkeit den drei würfelförmigen Rechnern, während sie ihren Palmtop hervorholte.
Dann bemerkte sie, daß das gigantische Tor der Himmelspforte offenstand.
Und sie sah die beiden Reis, die in ein tödliches Kräftemessen verwickelt waren...

Akagi schluckte.
Zwei Reis... Rei-II und Rei-III...
Und beide verfügten offensichtlich über aktive AT-Felder, die unaufhörlich wuchtig aufeinandertrafen...
Wo kam diese Musik her?
Eine ruhige Melodie, die jedoch von starken Dissonanzen gestört wurde...
AT-Felder... Engel verfügten über AT-Felder... Also waren beide Reis Engel... natürlich, die Klone waren aus LILITHs DNA geschaffen worden, das erklärte fast alles...
Aber warum bekämpften sie einander?
Keiner der beiden Engel durfte die Höhle betreten, die Folgen wären unvorstellbar gewesen, hieß es doch, daß dann der Third Impact stattfinden würde...
Eilig gab Ritsuko Anweisungen über ihre Fernbedienung ein, machte die Selbstzerstörungssequenz der MAGI bereit, sorgte dafür, daß auch die überall im TerminalDogma angebrachten Sprengladungen explodieren würden.
Selbst auf das Risiko hin, daß einer der Engel noch immer die Rei war, welche für sie beinahe zu einer Tochter geworden war, Akagi konnte nicht zulassen, daß eine von ihnen den Raum betrat und den Impact auslöste, selbst wenn der Preis dafür ihr eigenes Leben und das Lebenswerk ihrer Mutter waren...

\"Ein interessanter Anblick, nicht wahr?\"

Ritsuko fuhr herum, die Fernbedienung noch immer in der Hand, startete den Countdown der Selbstzerstörung, noch ehe sie den Sprecher sah. Sie hatte die Stimme erkannt.
\"Gendo...!\"

Ikari lächelte, doch das war kein menschliches Lächeln mehr, ebensowenig wie er selbst noch ein Mensch war.
Sein Rollkragenpullover hing vor der Brust in Fetzen, darunter war dunkle Schuppen sichtbar, Schuppenhaut bedeckte auch unsymmetrisch den unteren Teil seines Gesichts. Zwischen den Schuppen wucherten schwarze Barthaare. Feine Schuppen umgaben sein rechtes Auge, dessen Pupille geschlitzt und rot verfärbt war. Und sein gesamter linker Arm war aufgedunsen, unter dem Ärmel des Pullovers zeichneten sich scharf pralle Muskelpakete und kantige Schuppen ab. Die Hand war ebenfalls von der Veränderung betroffen, die Finger waren zu Krallen gekrümmt mit langen spitzen Nägeln.

Kaji hatte Recht gehabt... Gendo war von einem Engel übernommen worden...
Ritsuko keuchte.
\"Was immer du bist... ich werde dich aufhalten!\"
Mit der freien Hand zog sie ihre Pistole aus dem Kittel, feuerte das Magazin auf den langsam näherkommenden Mann ab.

Für Sekundenbruchteile war das ihn schützende AT-Feld sichtbar, als die Kugeln einschlugen und zu Asche zerfielen. Eine einzelne, die letzte, wurde jedoch nur abgebremst, schwebte rotierend vor Ikaris Stirn.

\"Ich bin ADAM. Ich bin dein Gott!\"
Und damit schickte er ihr die Kugel zurück.

Ritsuko flog gegen das Geländer des Laufsteges, die Waffe entglitt ihren kraftlos werdenden Fingern.
Die Kugel steckte in ihrer Schulter...
\"Niemals...\" knirschte sie. \"Die MAGI werden sich gleich selbst zerstören... und sie werden alles hier mit in den Untergang reißen!\"
Triumphierend hob sie ihre Fernbedienung.
Der Countdown müßte gleich abgelaufen sein...
Doch das Anzeigenfeld teilte ihr anderes mit.

*Countdown abgebrochen bei 03 Sekunden.*

\"Nein... warum... Mutter, warum...\"

\"Läßt dich deine Technik im Stich, Ritsuko?\" fragte ADAM höhnisch. \"Glaubtest du wirklich, die Mittel der Lilim könnten mich besiegen?\"

Sie starrte immer noch auf das kleine Display.
\"Warum...\"

*Spring.*

\"Ah...\"

*Ritsuko, spring!*

\"Mutter...\"
Sie sah auf.
Das Wesen, welches Gendos Körper trug, war bis auf wenige Schritte herangekommen...
In ihrer Schulter schien ein feuriges Inferno zu toben, als sie über das Geländer kletterte.
Bis zu den MAGI waren es nur zwei Meter, vielleicht etwas mehr...

\"Ja, wie deine Mutter... ihr Akagis seid doch alle gleich... Lilim... drückt euch vor den Folgen euer Tat. Wie sehr du ihr ähnelst, wählst sogar den gleichen Fluchtweg!\"

Ritsuko sprang... fiel... schlug auf...
Sie brüllte vor Schmerz, als ihre verletzte Schulter Kontakt mit der Metallplattform bekam. Wie ein auf den Rücken gedrehter Käfer lag sie zwischen den MAGI-Rechnern und starrte nach oben, wo Gendo... wo ADAM... langsam die linke Hand hob.

Auf der Handinnenfläche befanden sich mehrere Augen...

Die Fernbedienung gab ein schwaches Piepen von sich.

\"Was...\" flüsterte Ritsuko.

Von der Decke zuckte ein Lichtstrahl herab.
Weitere Lichtpunkte leuchteten unter der Höhlendecke auf, wurden zu Strahlen, die auf Ikari zuwanderten.

Ritsuko begriff - die in der ganzen Höhle installierten Laser waren aktiv geworden...

Der erste Strahl traf Ikari, schnitt mit der Kraft einer kleinen Sonne durch das AT-Feld des Engels, trennte die Monsterhand direkt am Gelenk ab.

ADAM brüllte auf, als sein Kraftfeld nachgab, das Brüllen wurde zu einem hohen Kreischen, als sein eigentlicher Körper von Ikaris Leib abgetrennt wurde.

Immer mehr Laser wurden aktiv, bildeten ein engmaschiges Gitter, in dem die Hand verbrannte, noch ehe sie den Boden der Höhle berührte.

Auf dem Laufsteg sackte Ikari in die Knie, blinzelte.
Er war wieder Herr seines Körpers!
Da raste schon der nächste Energiestrahl heran, erwischte ihn an der Schulter.
Ein weiterer säbelte eine Scheibe des immer noch ausgestreckten Armes ab...

Ritsuko beobachtete, wie die Verteidigungssysteme der Höhle Gendo Ikari nach und nach zerschnitten, sah, wie millimeterdicke Scheiben seines Armes abgetrennt wurden, zu Boden fielen und dort verbrannten, sah die Pein in seinen Augen, bis schließlich ein dicker Laserstrahl seinen Kopf in zwei saubere Hälften teilte und seinem Leben endgültig ein Ende setzte.
Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen, der Anblick war einfach zu furchtbar gewesen.
Gendos Sterben schien sich über Ewigkeiten hingezogen zu haben.
Noch immer piepte die Fernbedienung.
Sie mußte den Palmtop bis ganz nahe vor ihre Augen heben, um die Schrift lesen zu können.

*Mein ist die Rache.*

\"Ja, Mutter...\" flüsterte Ritsuko, dann gab sie der aufsteigenden Schwäche nach und schloß die Augen.
Sie sah nicht, wie LILITH schlagartig die Reste ihrer Beine regenerierte und sich gegen den Boden stemmte, sah nicht, wie die Urmutter sich von dem Kreuz losriß und mit langsamen Schritten die Höhle durchquerte...


*** NGE ***


EVA-02 tauchte an der Oberfläche mitten unter den aufmarschierten Truppen auf, schoß aus einem bis dahin verborgenen Liftschacht.
Wuchtig stampfte der Gigant mit den Füßen auf, schlug trommelnd mit den Fäusten auf den Boden.
Die Aktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Erde erbebte, Soldaten wurden von den Füßen gerissen, Fahrzeuge und Panzer kippten einfach um, kleinere Erdspalten bildeten sich.
Binnen Sekunden verwandelte sich eine disziplinierte Armee in einen flüchtenden Haufen, waren die angerückten Bodenstreitkräfte in alle Winde verstreut.

EVA-02 drehte den Kopf. Er hatte etwas wahrgenommen, ein Objekt, daß sich mit hoher Geschwindigkeit näherte...
Der EVA sprang in die Luft, streckte die Hand aus.
Als er wieder landete, hielt er den Longinusspeer in beiden Händen, wirbelte ihn herum, stampfte wieder mit den Füßen auf, ließ Stellungen des Militärs erbeben, trat eine komplette Geschützstellung mit einem gezielten Tritt über die Hügel, welche die Stadt umgaben.

Vereinzelt wurde der Gigant unter Beschuß genommen, schüttelte Raketen, Granaten und gewöhnliche Kugeln wie harmlose Insekten ab, setzte sein Zerstörungswerk fort, ohne sich dabei wirklich zu bemühen, gegen die Soldaten selbst vorzugehen.
Binnen weniger Minuten befanden sich die Bodentruppen auf dem Rückzug...

Stattdessen näherten sich mehrere Bomberstaffeln der Stadt.
Der taktische Computer berechnete eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Bomber mit N2-Sprengsätzen beladen waren.

Boden-Luft-Raketenstellungen in den Hügeln, die zum eigentlich nicht mehr existenten Verteidigungsgürtel der Festungsstadt gehörten, eröffneten den Beschuß auf die Flugzeuge.


*** NGE ***


\"Bomber ziehen sich zurück. Status der Verteidigungssysteme: noch etwa 8% sind einsatzbereit!\" - \"Eindringlingsalarm! Feindliche Truppen befinden sich in der Geofront!\"
Die Operatoren überschlugen sich gegenseitig mit ihren Mitteilungen.

Fuyutsuki nickte knapp.
\"Also entscheidet es sich doch hier. Major Katsuragi, alles noch im Hauptquartier befindliche Personal soll sich bewaffnen, organisieren Sie die Verteidigung.\"

\"Ja, Sir.\"

\"Sir, Bakelit-Versiegelung läuft an! Die MAGI riegeln die meisten Zugänge des Hauptquartiers hermetisch ab!\"

Misato ließ sich die verbliebenen Zugänge zeigen.
\"Die paar können wir mit einer Handvoll Leuten quasi beliebig lange gegen eine ganze Armee verteidigen! Los!\"

\"Annäherung weiterer Flugzeuge... Es sind Transporter!\"

Der große Bildschirm zeigte den Himmel über Tokio-3, die Kamera zoomte auf eine Gruppe von Objekten heran, die schnell näherkam. Es waren tatsächlich große Transportflugzeuge, neun Stück an der Zahl. Und jedes von ihnen transportierte an seiner Unterseite einen weißen EVANGELION.

\"Die Massenproduktionsmodelle...\" stöhnte Fuyutsuki.


*** NGE ***


EVA-02 erwartete die neun Serienmodelle in kampfbereiter Stellung.

Noch einmal traten die Abwehrbatterien in Aktion, nahmen die Transporter unter Beschuß.
In rascher Folge entstanden neun Feuerbälle am Himmel, doch die EVAs blieben unbeschädigt, landeten mit Hilfe von Jetpacks mitten in der Stadt.

EVA-02 drehte sich langsam um die eigene Achse, um alle neun im Blick behalten zu können.

Keiner der weißen EVAs machte Anstalten anzugreifen. Und die Freund-Feind-Erkennung schwieg ebenso...

Dann sanken die neun Giganten vor dem roten EVANGELION unterwürfig auf die Knie.


*** NGE ***


\"Das kommt davon, wenn man eine Fernsteuerung anstelle richtiger Piloten benutzt\", kommentierte Naoko Akagi das Geschehen an der Oberfläche.

\"Die MAGI kontrollieren die von SEELE verwandte Version des DummyPlugs und damit die Massenproduktionseinheiten.\"

Larsen gab ein Zeichen seiner Zustimmung.
Die Schlacht um Tokio-3 war gewonnen worden, jetzt verblieb nur noch das Geschehen in der Geofront.
\"Ich habe den eingedrungenen Truppen ein paar Zugänge ins Hauptquartier offengelassen. Jeder davon läßt sich mit Leichtigkeit in eine Falle verwandeln. Der Taktische Commander von NERV hat die Möglichkeit bereits erkannt.\"

\"Ich habe das Rechnersystem der Armee infiltriert. Rückzugsbefehle werden abgeschickt.\"

\"Und was ist mit den Engeln im Dogma? Was wird LILITH tun?\"

\"Das richtige, hoffe ich...\"


*** NGE ***


Asuka stolperte durch eine Tür auf einen riesigen Korridor.
Die Luft roch nach Ozon.

Vor ihr kniete Shinji Ikari auf dem Boden.

Er lebte noch?
Aber sie hatte ihm doch das Messer in den Bauch gestoßen und...

Er sah sie erschrocken an.

Und da waren die beiden Reis, zwischen denen sich unvorstellbare Energien auszutoben schienen.

Noch zwei von ihnen... noch zwei dieser Seelenfresser...
Asuka brachte das Gewehr in Anschlag, schaltete auf das Magazin mit den Positronenladungen um.

\"Asuka, nicht schießen!\"
Shinji sprang auf.

Ein Stoß traf ihn, schleuderte ihn aus der Schußbahn, als Rei ihr AT-Feld kurzfristig ausdehnte.

Asuka schoß, feuerte das Magazin leer.

Die bereits geschwächten AT-Felder fielen zusammen.
Und die Explosionen zerfetzten beide Reis...

Stille senkte sich über die Szenerie.

Shinji kroch auf allen Vieren auf Rei - seine Rei - zu.
Die Explosion hatte sie in der Körpermitte auseinandergerissen, Kopf, Arme und Oberkörper waren noch intakt.
Er bettete ihren Kopf auf seinen Schoß, ließ seinen Tränen freien Lauf.

Etwas Leben war noch in ihr, genug, um ihn anzusehen.

So endete es also...

Er hielt sie fest, auch als ihr Blick brach, bemerkte nicht, daß hinter ihm EVA-01 erschienen war, sah auch nicht, daß vor ihm LILITH über die Schwelle der Himmelspforte trat, ebensowenig wie ihm bewußt wurde, daß die beiden Giganten sich schweigend musterten.
In seinen Händen begann Reis Körper langsam zu zerfallen und sich zu LCL zu verflüssigen.
Und dennoch vernahm er immer noch ihr Lied, konnte er immer noch ihre Gegenwart spüren...

LILITH machte einen raschen Schritt nach vorn.
In der Bewegung nahm sie Shinji und Reis Überreste in sich auf, absorbierte auch die Reste des anderen Klons und Kaworu Nagisa. Und schließlich absorbierte sie auch EVA-01...
58. Kapitel - Kreuzwege

Langsam ließ Asuka das Positronengewehr sinken, starrte zu dem weißen Engel hinauf, dessen Schatten auf sie fiel.
Gerade eben hatte sie zwei weitere dieser seelenverschlingenden Kreaturen mit dem Aussehen des First Children erledigt, gerade eben hatte sie festgestellt, daß Shinji Ikari noch am Leben war. Und gerade eben war Einheit-01 an ihr vorbeigegangen...
Doch als das war jetzt fort. Der Engel war über die Reste der Seelenfresser hinwegmarschiert, ebenso wie über Shinji, hatte nichts von ihnen zurückgelassen. Und dann hatte er auch noch EVA-01 absorbiert...

Poltern fiel das Gewehr zu Boden.
Gegen diesen Giganten konnte sie damit nichts ausrichten...

Der Engel stand nur da, blickte auf sie herab.

Asukas Knie wurden weich.
Er hatte EVA-01 einfach so geschluckt, hatte ihn einfach in sich aufgenommen...
Und wer hatte den EVA eigentlich gesteuert, wenn Shinji ebenfalls hier gewesen war...

Mit einer raschen Handbewegung löste der Engel die siebenäugige Maske, hinter welcher bisher sein Gesicht verborgen gewesen war.
Plötzlich wucherte blaues Haar auf dem vormals kahlen Kopf, wuchs bis auf Schulterlänge.
Und das Gesicht, welches zum Vorschein kam... die Ähnlichkeit mit Rei Ayanami war bezeichnend. Der Blick zweier riesiger scharlachroter Augen bannte Asuka auf die Stelle.

Asuka konnte nur nach oben blicken und sich bemühen, das Zittern, welches ihren ganzen Körper erfaßt hatte, nicht zu offensichtlich werden zu lassen.

Dann wurde es hell, von dem Engel ging eine Flut weißen Lichts aus, welche sich durch alles hindurchfraß, mühelos Erde, Fels und Stahl durchdrang.

Einen Sekundenbruchteil lang konnte Asuka gegen das Licht die Knochen ihrer erhobenen Hände sehen, dann war da nichts mehr...


*** NGE ***


Das Licht fraß sich durch die Böden der einzelnen Ebenen des TerminalDogmas, verschlang die letzten Reste der Klone, ließ auch die beiden schwer beschädigten EVANGELIONs in der Gen-Schmiede verschwinden, durchdrang die dicke Felsschicht, welche das TerminalDogma vom CentralDogma trennte, drang in das CentralDogma ein.
Verteidiger wie Angreifer wurden von dem heranwogenden Licht überrascht, verschwanden darin.


*** NGE ***


In der Kommandozentrale hielten sich nur noch zwei Personen auf, Maya Ibuki, welche von einem Terminal zum anderen hetzte und mit überschlagender Stimme Meldungen hinunterrasselte, sowie Kozo Fuyutsuki, der halb in seinem Sessel im Kommandostand lag und sich bemühte, Ibukis Worte über das Hämmern hinter seinen Schläfen zu verstehen und nachzuvollziehen.

Plötzlich verstummte Leutnant Maya Ibuki.

Fuyutsuki hob ist schwerfällig in eine sitzende Position, blickte nach unten.

Da war... nichts mehr... nur ein Meer aus Licht, welches beständig anstieg.

Fuyutsuki blieb sitzen.
Er hatte nicht mehr die Kraft wegzulaufen.
In dem Licht vermeinte er, Konturen wahrzunehmen, Gesichter... und eines davon war ihm sehr vertraut, war jenes Gesicht, welches ihn seit Jahren bis in seine Träume verfolgte, jenes Gesicht, das wiederzusehen er sich seit über zehn Jahren wünschte...
\"Yui...\"

Das Licht verschlang auch ihn.


*** NGE ***


Shinji schwamm auf einem finsteren Meer aus LCL.
Der Himmel über ihm war dunkel, ließ keinen Schluß darauf zu, ob das Meer unendlich war, oder ob es irgendwo in der Ferne vielleicht ein Ufer gab.
Doch das interessierte ihn auch nicht.
Eben noch hatte er Rei in seinen Armen gehalten, eine sterbende Rei.
In den letzten Stunden hatte er mehrmals geglaubt, sie endgültig verloren zu haben... als EVA-01 unter Einfluß des DummyPlugs EVA-00 in Stücke gerissen hatte... als er der anderen Rei begegnet war, die ihn nicht gekannt hatte... als sie plötzlich während des Versuches, ihr S2-Organ zu aktivieren, zusammengebrochen war... doch dieses mal schien es endgültig gewesen zu sein...

Shinji ließ sich treiben, machte keine Anstrengungen sich über Wasser zu halten, doch das LCL trug ihn, verwehrte ihm die Möglichkeit des Ertrinkens.

Eine Ewigkeit verging.

Dann brach der Himmel auf...
In der Dunkelheit entstanden unzählige Lichter, jedes einzelne ein Loch im Himmel.

Shinji fühlte sich von einer unsichtbaren Hand emporgehoben, schwebte über der Oberfläche des LCL-Meeres.

\"Ich grüße dich, Messias.\" donnerte es.

Shinji konnte den Sprecher nicht sehen, die Stimme schien von überall zu kommen, war voller Macht, klang zugleich alt und weise und jung und kraftvoll. Es war eine Frauenstimme.
\"Wer... agh... sprechen Sie mit mir? Messias... uh... da liegt ein Irrtum vor...\"

Das LCL unter ihm geriet in Bewegung. Etwas schob sich aus der Finsternis, zuerst dachte Shinji an einen Berg, doch dann erkannte er, daß es eine Nase war. Der Nase folgten langgezogenen Hügelkuppen gleich Knochenwülste über zwei scharlachroten Augen, Wangenknochen, Lippen, ein Kinn... schließlich befand sich unter ihm ein Gesicht, das aus dem LCL aufgetaucht war.

Shinji stockte der Atem.
Das Gesicht ähnelte dem von Rei, wirkte nur älter, sehr viel älter. In den Augen schien die Ewigkeit zu liegen.

\"Warum glaubst du, daß ein Irrtum vorliegt, Shinji Ikari?\"

Sie kannte seinen Namen...
\"Ah... agh... du bist... ah... der Engel aus dem Dogma... LILITH...\"

\"Ja, Messias.\"

\"Aber... ah... wie soll ich...\"

\"Wir befinden uns an einem Scheideweg... die Menschheit, mein jüngstes Kind, befindet sich an einem Scheideweg.\"

\"Uh...\"

\"Und es liegt an dir, zu entscheiden, was geschehen wird.\"

\"Bei... bei mir? Wieso?\"

\"Weil du den Kreis schließen wirst.\"

\"Kreis? Was für ein Kreis... ich... wie kann ich über die Zukunft entscheiden, wenn... wenn ich nicht einmal auf Rei aufpassen konnte...?\"

\"Rei... meine Tochter... nichts ist vergessen, nicht ist jemals vergessen... Seelen vergehen nicht, erst recht nicht jene, die erwacht sind.\"

Eines der Lichter am Himmel sank langsam herab, bis es direkt vor Shinjis Gesicht schwebte.
Etwas schien sich im Inneren des Lichts zu befinden...

\"Agh...\"
Shinji umfaßte das Licht mit beiden Händen.
In der Lichtkugel befand sich eine winzige menschliche Gestalt, die zusammengerollt im Zentrum des Lichts schwebte.
\"Rei-chan...\" flüsterte Shinji.

\"Sie hat ihr Schicksal in deine Hände gelegt. Mein Sohn Tabris tat recht daran, dir zu vertrauen, Messias.\"

\"Ich bin kein Messias... kein Erlöser... Erretter... bitte, kannst du Rei wieder... ah...\"

\"Lebendig machen? Ihrer Seele einen neuen Körper geben? Das liegt nicht in meiner Macht... aber in deiner.\"

\"Wie... was...\"

Schlagartig verschwand LILITHs Gesicht unter ihm, ebenso wie das LCL-Meer und die Lichter am Himmel verschwanden.

Unvermittelt fand Shinji sich auf einem vielleicht einen Meter breiten Pfad wieder, der mitten im Nichts schwebte. Das Licht mit Reis Seele darin hielt er immer noch in Händen, barg es vorsichtig an seiner Brust.

Um ihn herum war Schwärze, dennoch war der Pfad klar erkennbar, er verlief in Kurven und Hügeln durch die Dunkelheit, teilte sich vielfach, die Abzweigungen liefen manchmal wieder zusammen, manche endeten aber auch abrupt oder verschwanden einfach in der Ferne. Neben, über und unter ihm existierten weitere Pfade, von denen manche mit dem seinen in Kontakt kamen, während es bei anderen nie zu einer Annäherung kam.

Neben Shinji bildete sich ein Lichtwirbel, formte eine menschliche Gestalt aus mit blasser Haut und grauem Haar.

\"Kaworu-kun...\"

Der andere schüttelte traurig den Kopf.
\"Nicht mehr Kaworu. Kaworu Nagisa ist tot. Nur noch Tabris.\"

\"Tabris-... kun?!\"

Tabris nickte.
\"Damit bin ich einverstanden, Shinji-kun.\"

\"Wo... wo sind wir hier?\"

\"Was du hier siehst, ist der Fluß der Zeit.\"

\"Ein Fluß? Aber... hier ist gar kein Wasser...\"

\"Es ist eine Metapher. Das Wesen der Zeit ist selbst für meine Art kaum zu verstehen. Man kann sie messen und doch scheint sie mal dahinzurasen und dann wieder zu schleichen. Jeder dieser Pfade stellt eine Realität da, einen möglichen Ablauf der Ereignisse.\"

\"Äh... ja...\"

\"Dreh dich um.\"

\"Uh...\"
Shinji kam der Aufforderung nach.
Direkt hinter ihm liefen tausende von Pfaden zusammen, bildeten eine Art Knoten. Doch jenseits des Knotens war nichts mehr.

\"Das ist die Zukunft, Shinji-kun. Der Knoten ist der Third Impact, dahinter ist alles undefiniert.\"

\"Die Zukunft? Ich dachte... wenn wir LILITH befreien, dann... dann würde es keinen Third Impact geben...\"
Betroffen blickte er auf die schlafende Seele in seinen Händen.
\"Dann... dann ist Rei-chan umsonst gestorben?!\"

\"Nein, Shinji-kun. Es ist, wie die Urmutter gesagt hat - es liegt in deinen Händen. Du entscheidest, ob es eine Zukunft geben wird - und wie diese aussieht.\"

\"Aber, das... das kann ich nicht...\"

\"Der Third Impact ist eine feststehende Größe im Ablauf der Zeit, doch welche Folgen er haben wird, das entscheidet der Messias.\"

\"Nenn mich nicht so, bitte. Ich bin kein Messias...\"

\"Aber Mutter sagte, du würdest den Kreis schließen.\"

\"Welchen Kreis denn? Ich weiß doch gar nicht...\"

\"Komm mit mir, laß uns ein wenig umherwandern.\"

\"Ahm...\"
Shinji folgte Tabris.
Der Boden unter seinen Füßen war steinhart und nachgiebig-federnd zugleich.
\"Was... was liegt jenseits des Pfades? Uh... wenn ich hinunterfiele...\"

\"Das ist die Ewigkeit. Wir befinden uns an einem sehr seltenen Punkt aller Möglichkeiten, hier überlappen sich die Realitäten, allein hier ist es meiner Art möglich, Einblick in das Geschehen zu nehmen.\"

\"Uh...\"
Shinji sah sich um.
In der Ferne, ganz am Rand seines Sichtbereiches, vermeinte er auf einem anderen Pfad jemanden zu sehen.
\"Tabris-kun, dort drüben...\"

\"Wie? Wo... ah...!\"

\"Wer ist das?\"
Da waren zwei Personen, Menschen, wie Shinji zu erkennen meinte.

\"Das sind wir.\"

\"Uh... wir?\"

\"Ja. Der Shinji Ikari und der Tabris einer anderen Realität. Vielleicht begegnen wir ihnen an einer der Abzweigungen, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Jeder hier geht seinen eigenen Weg.\"

\"Ugh...\"
Jetzt, wo er begonnen hatte, nach anderen Ausschau zu halten, konnte er auch auf anderen Pfaden Bewegungen sehen.
\"Dort drüben... und auf dem Pfad da oben... uh, das bin aber nicht ich... was macht Toji hier?\"

\"Das ist nicht der Suzuhara-kun, den du kennst. In manchen Realitäten fanden andere Entwicklungen statt.\"

\"Das... das ist so schwer zu fassen...\"

\"Ja. Ihr Lilim seid Wesen, die in drei Dimensionen denken, manchmal sogar in vieren. Doch um diesen Ort zu begreifen, muß man imstande sein, in höheren Regionen zu denken...\"
Tabris lächelte.
\"Ich verstehe es auch nicht.\"

\"Das... ahm... das ist nicht gerade beruhigend.\"

Vor ihnen lag eine Kreuzung, die erste, an die sie bisher gekommen waren.
Und auf dem anderen Pfad näherten sich zwei Personen...

Shinji blieb stehen, starrte die anderen beiden mit weitaufgerissenen Augen an.
Eine war Tabris, ein anderer Tabris. Bei der zweiten Person handelte es sich um ein zerbrechlich wirkendes Mädchen mit dunkelbraunem Haar, blauen Augen und den Gesichtszügen Rei Ayanamis...
Shinji blickte wieder auf die Seele in seinen Händen.
Rei schlief immer noch...

Auch die anderen drei hatten angehalten, so daß sich die beiden Gruppen auf der Kreuzung gegenüberstanden.

Die beiden Engel musterten sich stumm, nickten dann gleichzeitig.

\"Ah... ah...\" machte Shinji.

Interessanterweise gab das Mädchen dieselben überraschten Laute von sich und spiegelte seinen überraschten Gesichtsausdruck komplett. Und auch sie hielt eine Lichtkugel in den Händen, auf welche sie einen raschen Blick warf.

\"Uh... hallo...\" murmelte Shinji.
Das war nicht seine Rei, dessen war er sich klar, doch sie sah ihr so ähnlich...

\"Ah... Hallo.\" entgegnete das Mädchen. \"Ich... uh... ich hätte nicht damit gerechnet... Du... du bist doch Shinji, nicht wahr?\"

\"Ja... uhm... Rei?\"

\"Ja... ahm...\"

Shinji hatte das Gefühl, mit einem Spiegel zu sprechen, einen dieser seltsamen Verzerrspiegel, wie man sie manchmal auf Jahrmärkten fand.
\"Aber... ah... wie...\"

\"Du siehst aus wie mein Shinji, aber... ahm... andererseits auch nicht... uh...\"

\"Ich bin Shinji Ikari.\"

\"Agh... Ikari? Nicht... Ayanami?\"

Shinji blinzelte.

Die andere Rei blinzelte.

Gleichzeitig wandten sie sich an ihre Begleiter.
\"Tabris-kun...\" - \"... was geht hier vor?\"

Die beiden Engel wirkten verlegen. Gleichzeitig setzten sie zu einer völlig gleichlautenden Antwort an, hielten dann gleichzeitig inne und forderten völlig gleichzeitig den jeweils anderen auf zu sprechen. Kurz blickten sie einander verwirrt an, dann hob Shinjis Tabris die Hand.

\"Also... ah... derartiges sollte nun wirklich nicht vorkommen.\"

\"Wie?\" fragten die beiden anderen.

\"Ihr seid beide die gleiche Person... äh, wie erkläre ich das jetzt...\"

\"Dieselbe Seele, nur andere Realitäten.\" sprang der andere Tabris in die Bresche.

\"Ja, das ist gut.\"

\"Wir sind eben genial.\"

\"Moment... ich bin er?\" fragte die dunkelhaarige Rei.

\"In gewisser Weise. In unserer Realität brachte Yui Ikari einen Sohn zur Welt, den sie Shinji nannte. Und dem Klon, den sie aus LILITHs DNA schuf, gab sie den Namen Rei Ayanami.\"

\"Bei uns war es genau umgekehrt\", erklärte der andere Tabris. \"Rei Ikari ist Yui Ikaris Tochter.\"

\"Uh... dann ist das da in deinen Händen die Seele von...\" setzte Shinji an und fühlte plötzlich den starken Drang, einfach über den Rand des Pfades zu springen und das ganze hinter sich zu lassen.

\"Es ist Shinjis Seele... die Seele von Shinji Ayanami...\"

\"Agh... uh... war dein Vater auch ein verdammter Bastard?\"

\"Ja... jedenfalls der Mann, den ich für meinen Vater hielt.\"

\"Und... ahm... wollte Toji dich auch gleich am ersten Schultag zusammenschlagen?\"

\"Toji? Nein, der würde doch nie ein Mädchen schlagen... aber Hikari wollte mir die Augen auskratzen wegen ihrer kleinen Schwester.\"

\"Uh... Hikari?\"

\"Ja. Aber mittlerweile... ah... naja, wir sind dann doch ganz gut miteinander ausgekommen. Bei dir war es andersherum, was?\"

\"Ja... öh...\"

\"Und Asuka? Wollte sie dich... deiner Rei... ahm... ausspannen?\"

\"Nein... uh... meine Asuka war ziemlich... gewalttätig...\"

\"So...\"

\"Ich möchte nicht stören, aber wir müssen weiter.\" sagte der andere Tabris.

\"Ah...\" machte Rei Ikari.

\"Uh... Rei... weißt du, was hier geschieht? Was hat das mit dem Messias zu bedeuten?\"

\"Keine Ahnung... uhm... äh... ich denke... äh... wir werden uns wohl nicht wiedersehen...\"

\"Wahrscheinlich nicht... dann...\"

\"Ahm... Leb wohl. Und viel Glück.\"

\"Ja, dir auch...\"

Die beiden Gruppen trennten sich wieder, wanderten auf ihren jeweiligen Pfaden weiter.
Shinji wagte es, eine Hand von der Lichtkugel mit Reis Seele zu nehmen, um seiner \'Schwester\' kurz zuzuwinken, ehe sie einander in der Unendlichkeit verloren.
\"Uh, Tabris...\"

\"Ja, Shinji-kun?\"

\"Das war... seltsam.\"

\"Ja...\"

\"Du... ahm... du bist doch der Tabris aus meiner Realität, oder?\"

\"Natürlich.\"
Der Engel lächelte wieder.
\"Glaub mir, für mich war das eine ebenso verwirrende Erfahrung wie für dich.\"

Wieder sah er Bewegungen auf anderen Pfaden, winkte zwei-, dreimal sich selbst zu, sah mit Erstaunen, daß auf einem Pfad ein anderer Tabris von Asuka begleitet wurde, nahm mit Erschrecken zur Kenntnis, daß sich nicht auf allen Pfaden zwangsläufig Menschen bewegen mußten, wie zwei aufrechtgehende, in Alltagskleidung gekleidete Schimpansen bewiesen, der eine mit grauem Fell und roten Augen, der andere mit dunkelbraunem Fell und blauen Augen.
Kurz blieben beide Gruppe stehen und musterten sich über den Abgrund der Ewigkeit hinweg, ehe sie weiter ihrer Wege gingen.

Tabris und Shinji näherten sich einem weiteren Knoten, an dem zahllose der Pfade zusammenliefen.

\"Shinji-kun, dieser Knoten repräsentiert den Second Impact.\"

\"Uh... ja...\" gurgelte Shinji.

Die Zahl der Pfade auf der anderen Seite des Knoten war viel höher, dort herrschte ein wahres Gewusel. Aber wenn sie sich in die Vergangenheit bewegten, dann hieß das doch, daß von den anderen Pfaden ein Großteil damals geendet hatte...

\"In der Nähe eines solchen Knotens kann sich jederzeit ein Vortex bilden.\"

\"Ein... was?\"

\"Ein Vortex. Ein Fenster in eine falsche Realität.\"

\"Es... uh... es gibt auch falsche Realitäten?\"

\"Manchmal geschehen Dinge, die den normalen Fluß der Dinge auf den Kopf stellen... dort ist einer...\"

Direkt neben ihrem Pfad öffnete sich ein Loch in der ewigen Nacht wie der Kelche einer Blume. Die Öffnung gestattete den Blick in ein kleines fensterloses Büro, dessen Wände mit Regalen und Aktenschränken vollgestellt waren.
Hinter einem chaotischen Schreibtisch saß ein junger Mann, in dem Shinji sich selbst wieder erkannte, nur wenigstens zehn Jahre älter.

\"Wie... ist das die Zukunft?\"

\"Nein. Diese Realität dürfte nicht existieren. Das dort ist nur ein Schatten. Die Zeit heilt sich in der Regel selbst und alles was übrigbleibt, sind die Vortice.\"

\"Uh... muß ich das verstehen?\"

\"Nein.\"

\"Und was hat es mit... naja... mit alledem zu tun? Ich meine, mit dem Kreis, den ich schließen soll und... uh...\"

Der ältere Shinji blickte auf, schien aber nicht zu sehen, daß man direkt in sein Büro hineinblicken konnte.
Eine zweite Person betrat das Büro, wie Shinji war sie in einen dunklen Anzug gekleidet.
Langes flammendrotes Haar fiel auf ihre Schultern.
Es war eine ältere Asuka...

\"Agent Ikari, ich bin Special Agent Asuka Langley, ich wurde Ihrer Abteilung zugewiesen.\" drang die Stimme der älteren Asuka dumpf zu den beiden auf dem Pfad hinüber.

\"Uh...\" machte Shinji - der auf dem Pfad, nicht der andere in dem Büro.

Der ältere Shinji erhob sich, streckte anscheinend widerwillig die Hand aus.
\"Ich nehme an, Sie sollen mich kontrollieren.\"

\"Wie meinen Sie das?\"

\"Meine Arbeit hier ist vielen an der Spitze des FBI ein Dorn im Auge. Aber ich sage Ihnen - die Wahrheit ist dort draußen.\"

\"Schön...\" sagte Asuka gedehnt. \"Dann stimmt es also, was man über Sie sagt.\"

\"Was sagt man denn über mich?\"

\"Daß Sie glauben, Ihre Eltern und Ihre Schwester wären von Außerirdischen entführt worden...\"

\"Ah... Außerirdische?\"
Shinji starrte Tabris an.

\"Ich sagte doch, es gibt Dinge, die nicht sein dürfen.\"

Eilig entfernten sie sich von dem Loch in der Ewigkeit, näherten sich weiter dem Knoten des Second Impact.

\"Der Impact hatte in fast allen Realitäten stattgefunden, nur wenige blieben davon verschont. Und für die meisten endete die Zeitlinie an diesem Punkt.\"

\"Agh... du meinst, alles endete? Das ganze... Universum?\"

\"Nein, Shinji-kun, so schlimm war es nun wieder auch nicht. Verglichen mit der Weite der Unendlichkeit ist ein kleiner Planet wie die Erde nur ein unbedeutendes Staubkorn. Der Pfad, auf dem wir uns bewegen, repräsentiert die Zeitlinie der gesamten Menschheit.\"

\"Ahm... und der Third Impact? Dahinter gab es nichts mehr...\"

\"Weil die Ereignisse verbunden sind. Sie bilden eine Schleife. Während des Second Impact geschah etwas, das... nun, ADAM wurde erweckt. Und LILITH stellte sich ihm zum zweiten Mal zum Kampf. Doch ADAM überraschte sie. Jahrmillionenlang hatte er seine Kräfte gesammelt. Und er besaß die Lanze, welche fähig war, einen meiner Art zu töten... auszulöschen. LILITH unterlag - und ADAM leitete die Apokalypse ein. Doch er wurde aufgehalten.\"

\"Von wem?\"

\"Von dir, Messias.\" erklärte LILITHs Stimme aus dem Nichts heraus.

\"Uh...\"

Plötzlich war der Pfad unter seinen Füßen verschwunden. Fort waren auch die andere Pfade und der Knoten vor ihnen, fort war die endlose Schwärze der Ewigkeit. Und fort war auch Tabris.

Shinji fand sich im EntryPlug von EVA-01 wieder.
Er trug seine PlugSuit.
Voller Panik stellte er fest, daß Reis Seele verschwunden war.

\"Verstehst du jetzt?\"

Shinji sah sich um, doch er war allein im Plug.
Andererseits fiel es ihm nicht schwer zu akzeptieren, daß LILITH offenbar nicht körperlich anwesend sein mußte, um sich verständlich zu machen.
\"N-nein...\"

\"Im Jahre 2000 wurde ein Kreis geöffnet, der bis in das Jahr 2015 hineinreicht. Der Kreis muß geschlossen werden, oder mit dem Third Impact endet alles.\"

\"Wieso?\"

\"Es ist das Wesen der Zeit... sie vermag sich zu dehnen und gewisse Fehler auszugleichen, doch wenn man ihre Toleranz zu stark beansprucht, reagiert sie, indem sie ganze Zeitlinien auslöscht.\"

\"Aber... wie kann ich diesen Kreis schließen? Ich war da doch noch gar nicht geboren...\"

\"ADAM ist vergangen. Er wurde im Jahre 2015 endgültig ausgelöscht. Doch seine Macht wurde dabei freigesetzt. Ich habe sie in mich aufgenommen und nutze sie, um dich zurückzuschicken, Messias.\"

\"Nein...\"

\"Warum nicht?\"

\"Ich... ah... das... wie soll ich denn...\"

\"Es gibt zwei Möglichkeiten, den Pfad des Nichts und den Pfad aus Gold, Niederlage oder Sieg, Tod oder Wiedergeburt.\"

\"Agh...\"

\"Ich zeige dir, welche Wahlmöglichkeiten für dich bestehen.\"

Und Shinji sah...
Kapitel 59 - Pfad ins Nichts

Das Eisfeld nahe des Südpols war zu einem Schlachtfeld geworden.
Menschliche Wissenschaftler hatten während ihrer Experimente mit dem schlafenden Giganten ADAM die Lanze gelockert, die in seiner Brust gesteckt hatte und ihn so erweckt.
Endlos lange Minuten hatten die Menschen der Expedition verharrt und zu dem Riesen emporgeblickt, der sich so unvermittelt aufgesetzt hatte, der sich zu orientieren schien.
Doch mehr als dieser kurze, ungenügende Moment war ihnen nicht vergönnt gewesen...
Plötzlich wurde der polarsommerliche Himmel in grelles Licht getaucht. Und mit einem donnernden Laut fiel ein zweiter Riese vom Himmel, eine weiße humanoide Gestalt mit rotglühenden Augen.

LILITH, der Zweite Engel, hatte die Erde erreicht...

Panik erfaßte die Menschen, fluchtartig strebten sie fort von der Ausgrabungsstelle, vergeblich, sie würden nicht weit genug kommen, würden keinen Platz finden, an dem sie sich verstecken konnten.

ADAM richtete sich auf, wandte sich dem Neuankömmling zu, beugte den Oberkörper nach vorn wie ein Stier, der seinen Gegner erwartet. Um ihn, wie auch um den anderen Giganten, baute sich ein Feld knisternder Energie auf, welches bei Kontakt Eis und Schnee und den darunterliegenden Fels einfach zerschmolzen, welches blitzendes Wetterleuchten hervorrief.

Einer der Wissenschaftler hielt in seiner Flucht inne, wandte sich den Riesen mit einem Meßgerät in den Händen zu, warf einen einzigen Blick auf die Anzeigen und ließ das Gerät fallen.
Ein anderer Mann rief ihm zu, er solle laufen, doch er schüttelte nur den Kopf. Flucht war sinnlos, zwischen den beiden Wesen bauten sich mächtige gegenpolige Kraftfelder auf, die bei Kontakt genügend Energie freisetzen würden, um die Erde zu zerreißen...

Mit beiden Händen packte ADAM den Handgriff des Longinusspeeres, gab ein lautes Knurren von sich.

Hinter der siebenäugigen Maske LILITHs glühten zwei tiefrote Lichter auf.

Im ewigen Eis bildeten sich erste Risse, die Spalten im Boden weiteten sich immer mehr, drangen immer tiefer vor, bis glutflüssiges Gestein dampfend hervortrat.

Vom Himmel zuckten vielfarbige Blitze, Stürme begannen zu toben.

Dann stieß ADAM plötzlich vorwärts, schlug mit dem Speer zu wie mit einer Sense, trennte LILITHs Beine unterhalb der Knie ab, ohne daß der Longinusspeer von ihrem AT-Feld aufgehalten wurde.

LILITH stürzte.

ADAMs Kraftfeld fuhr über sie hinweg, drückte sie in die hervorquellende Lava.
Noch einmal mobilisierte sie ihre Kräfte, stemmte sich gegen den Druck.

ADAM baute sich über ihr auf, hob den Speer, trieb ihn durch ihren Schädel, spaltete die Maske und das Gesicht dahinter.

Und LILITH verging.

ADAM brüllte seinen Triumph hinaus.

Und mit jedem Siegesschrei, den er ausstieß, raste eine weitere Welle der Verwüstung um den Globus.

Es war der Tag von Armageddon, der Tag des Jüngsten Gerichts.
Und es war der Tag, an dem der letzte Mensch blind auf die Knie fiel und zu Asche verbrannte.

Die Zeitlinie der Menschheit endete...


*** NGE ***


Im EntryPlug von EVA-01 stieß Shinji ein Keuchen aus.
\"Alles... alles zerstört... aber... du hattest doch gesagt...\"

\"So wird es geschehen, wenn der Kreis offenbleibt. Niemand kam aus der Zukunft, um die Vergangenheit zu bewahren. ADAM siegte.\"

\"Ja... also muß ich... aber warum gerade ich...\"

\"Weil es vorherbestimmt ist.\"

\"Von wem? Warum?\"

\"Nur du besitzt die Fähigkeit, die Reise zu überstehen. Nur du vereinst das Erbe ADAMs mit einer Quelle der Kraft und dem Blut der Nephilim. Niemand sonst könnte zurückreisen, weil niemand sonst alle erforderlichen Gaben besitzt. Der Lilim Gendo Ikari erschuf einhundert Nephilim, von denen noch einige leben, doch keiner davon wäre fähig, jenseits des Punktes seiner Geburt zu existieren... keiner außer Kaworu Nagisa...\"

\"Kaworu ist tot...\"

\"Ja. Sein Körper existiert nicht mehr. Es gibt nur noch dich.\"

\"Was... was kann ich tun?\"

\"Beschreite den Pfad aus Gold... den Pfad des Sieges...\"
Kapitel 60 - Der Pfad aus Gold

Das Eisfeld nahe des Südpols war zu einem Schlachtfeld geworden.
Das Experiment mit dem schlafenden Giganten war fehlgeschlagen, ein winziges Abweichen vom Plan hatte genügt, den schlafenden Engel ADAM zu erwecken.
Endlos lange Minuten hatten die Menschen der Expedition verharrt und zu dem Riesen emporgeblickt, der sich so unvermittelt aufgesetzt hatte, der sich zu orientieren schien.
Doch mehr als dieser kurze, ungenügende Moment war ihnen nicht vergönnt gewesen...
Plötzlich wurde der polarsommerliche Himmel in grelles Licht getaucht. Und mit einem donnernden Laut fiel ein zweiter Riese vom Himmel, eine weiße humanoide Gestalt mit rotglühenden Augen.
LILITH, der Zweite Engel, hatte die Erde erreicht...

Panik erfaßte die Menschen, fluchtartig strebten sie fort von der Ausgrabungsstelle.

ADAM richtete sich auf, den Longinusspeer in beiden Händen, wandte sich dem Neuankömmling zu, beugte den Oberkörper nach vorn wie ein Stier, der seinen Gegner erwartet. Um ihn, wie auch um den anderen Giganten, baute sich ein Feld knisternder Energie auf, welches bei Kontakt Eis und Schnee und den darunterliegenden Fels einfach zerschmolzen, welches blitzendes Wetterleuchten hervorrief.

Hinter ADAM wuchs ein weiterer Riese in die Höhe.
LILITH war nicht allein gekommen...

Wuchtig schlug EVA-01 mit zusammengelegten Fäusten ADAM hinterrücks ins Kreuz, schleuderte den Ersten Engel auf die Knie.

LILITH tat nichts, beobachtete nur.

ADAM wollte aufspringen, mit dem Longinusspeer nach seinem neuen Gegner stoßen, erhielt jedoch einen kräftigen Tritt in die Seite.

In nächsten Moment hatte der EVANGELION dem Engel bereits die Waffe ans den Händen gerissen und einen Schlag mit der flachen Seite gegen ADAMs Kopf geführt, daß dieser herumgeschleudert wurde.
Kurz sah EVA-01 auf, suchte LILITHs Blick, suchte nach einem Zeichen von Zustimmung, doch der Zweite Engel beschränkte sich weiterhin auf seine Zuschauerrolle.

EVA-01 holte aus, um ADAM den Todesstoß zu geben...


*** NGE ***


Die anwesenden Menschen sahen drei Giganten, zwei, welche sich bekämpften, und einen dritten, der den Kampf beobachtete. Doch in Wirklichkeit waren es vier Beteiligte, gleich den vier Reitern der Apokalypse.

Der ungesehene vierte, ein vierzehnjähriger Junge namens Shinji Ikari, hielt sich in der Steuerkapsel des purpur-grünen Giganten auf. Geistig war er eins mit dem EVANGELION, steuerte ihn mit der Kraft seiner Gedanken. Die vielleicht mächtigste bisher von Menschenhand geschaffene Waffe war ihm bedingungslos untertan.
Ihm zur Seite stand die Künstliche Intelligenz des Taktischen Computers, welche auf der Persönlichkeit und den Fähigkeiten eines der möglicherweise besten Strategen der westlichen Hemisphäre basierte.
Doch im Stillen schrie er nach seiner Mutter, deren Seele in EVA-01 gefangen war.
Eine Antwort erhielt er jedoch nicht.
Auch das Bewußtsein des EVAs konnte ihm nicht weiterhelfen, teilte ihm nur knapp mit, daß sie allein waren...

In seinen Händen, in den Händen von EVANGELION-Einheit-01, hielt er den Longinusspeer, jene Waffe aus zwei miteinander verflochtenen Metallsträngen, die in zwei gabelartig verzweigende Spitzen ausliefen. Mit diesen Spitzen zielte er auf den Kopf des Ersten Engels, wo sich laut Angaben des Taktischen Computers der Kern des Engels befand.
Doch er zögerte, hoffte darauf, daß jemand ihm Anweisungen gab.
Natürlich blieb derartiges aus.

ADAM...
Urvater der Menschheit, doch zugleich beinahe ihr Henker...
ADAM der Vernichter...
Wenn er ihm nicht Einhalt gebot, würde er den Second Impact auslösen und die Hälfte der Menschheit auslöschen...

Plötzlich begriff Shinji, welche Möglichkeit sich ihm bot, er befand sich wirklich am Scheideweg. Wenn er den Engel stoppte, konnte er all jene retten, die während der Katastrophe umgekommen waren, all die Millionen Menschen...

Ohne weiter zu zögern stieß er mit dem Speer zu, rammte ihn durch ADAMs Schädel.

Der Erste Engel verging in Licht und Hitze.

EVA-01 trat zurück, immer noch den Longinusspeer in Händen, die Doppelspitze gegen den Boden gerichtet, blickte LILITH an.

Immer noch zeigte der Zweite Engel keine Regung.

\"Sprich mit mir! Ich habe doch alles getan, was du wolltest...\" schrie Shinji. \"Gib mir Rei zurück!\"

Anstelle einer Antwort drehte LILITH sich einfach um - und verschwand.

EVA-01 blieb allein zurück.

\"Komm zurück... komm...\"
Shinji brach ab. Seine Augen waren blind vor Tränen.
Er hatte doch alles getan... er hatte ADAM gestoppt... er hatte den Impact verhindert... warum... warum war er noch hier?

EVA-01 brach in die Knie, hämmerte mit den Fäusten gegen den eisigen Untergrund.

\"Warum?\" flüsterte Shinji.

Der purpur-grüne Gigant warf den Kopf in den Nacken und stieß einen langgezogenen Schrei aus, dessen Bedeutung man ohne große Mühen erkennen konnte:
\"Warum?\"


*** NGE ***


Professor Matsuo Katsuragi, der Leiter der Expedition, kletterte langsam aus dem Transportflugzeug, mit dem er eben noch den kämpfenden Giganten hatte entkommen wollen. Die Scham, welche er darüber empfand, seine Mitarbeiter beinahe zurückgelassen zu haben, saß wie ein dicker Kloß in seiner Kehle.
Hinter ihm erschien seine Tochter in der Luke des Fliegers, sah sich verängstigt um.

Die anderen Wissenschaftler kamen auf das Flugzeug zugerannt.
Keiner von ihnen wußte, wie nahe Katsuragi daran gewesen war, sie im Stich gelassen zu haben, ihrer Ansicht nach hatte der Expeditionsleiter lediglich das Flugzeug startbereit gemacht.
Stumm versammelten sie sich unterhalb der Einstiegsluke, blickten mit geweiteten Augen zu dem letzten der drei Giganten hinüber, während der Atem auf ihren Lippen gefror.
Einer der drei Riesen, jener den sie erweckt hatten, war von dem purpur-grünen vernichtet worden. Und der zweite, der blaßhäutige mit der Maske, war spurlos verschwunden. Zurückgeblieben war nur der dritte Riese, welcher in gewisser Weise jener der drei war, von dem die geringste Bedrohung auszugehen schien, erinnerte sein Äußeres doch viel mehr an einen Roboter als an einen übergroßen Humanoiden. Und mit Robotern waren die zumeist japanischen Angehörigen der Expedition aufgewachsen, auch wenn Riesenroboter, welche Monster im Interesse der Menschheit bekämpften, doch eher Bestandteil von Actionfilmen und Animationsserien waren.

Jetzt warf der Roboter den Kopf in den Nacken und brüllte ein einzelnes Wort in den antarktischen Himmel: \"Warum?\"

Katsuragi schluckte, bahnte sich dann einen Weg durch den Kreis seiner Mitarbeiter.

\"Vater, was hast du vor?\" rief seine Tochter Misato.

Der Professor antwortete nicht, ging wortlos weiter, auf den Roboter zu.
In respektvollem Abstand blieb er stehen, blickte zu dem Gesicht des Riesen hinauf. Kurz dachte er an die Waffe, die er in der Innentasche seiner dickgefütterten Felljacke trug, unterdrückte ein Lachen. Damit würde er diesen Giganten wohl kaum beeindrucken können.
\"Äh... Hallo!\" rief er laut.

Eine Ewigkeit verging, bis der Roboter langsam den Kopf drehte und ihn ansah.

Katsuragi wurde ganz mulmig.
Wenn der Roboter jetzt einfach eine knappe Handbewegung machte, oder auch nur abrupt aufstand, würde ihn einfach zerschmettern...
Der Professor breitete die Arme aus, um ein Zeichen zu geben, daß er keine Gefahr darstellte.
\"Wir... ah...\"
Er suchte nach Worten.
Da stand er einem zwanzig Stockwerke großen Roboter gegenüber und er wußte nicht, was er sagen sollte.
Wir wollen dir nichts tun? - Lachhaft...
Wir sind Freunde? - Wußte er denn, ob der Roboter das auch so sah?
Wir...

\"Ich komme in Frieden.\" grollte der Roboter.

\"Verstehst du mich?\"

\"Ja.\"

Täuschte Katsuragi sich, oder schwang Unsicherheit in der Stimme des Roboters mit?
\"Wir stellen keine Gefahr für dich dar.\"

\"Ja. Ich weiß.\"

\"Äh...\"
Das hätte er sich nicht träumen lassen, daß seine Ausgrabungsexpedition zum Südpol in der Begegnung mit dem Erzeugnis einer höherentwickelten Technik enden würde. Vielleicht war der Roboter von Außerirdischen hier zurückgelassen worden... oder...
Eine ganze Reihe möglicher Erklärungen ging ihm durch den Kopf, eine phantastischer als die andere.

Langsam richtete der Roboter sich auf.

Die Erde erbebte leicht.

Katsuragi wich automatisch zurück, während vor ihm ein Gebirge aus dem Boden zu wachsen schien.
Und dann konnte er die Aufschrift auf den Unterarmschienen der Panzerung des Roboters lesen - EVANGELION-01-Testmodell...
Der Roboter war von Menschen gebaut worden...
Aber von wem? - Die Schriftzeichen waren nicht japanisch, sondern westlich, vielleicht die Amerikaner...

Mit einem letzten Blick auf den Professor und dann die Wissenschaftler beim Flugzeug, während dem die Augen des Giganten seltsam lange auf der Tochter Katsuragis ruhten, wandte der Roboter sich ab, schritt einfach davon.

\"He, warte! Du kannst doch nicht einfach...\" schrie Katsuragi, doch der Riese antwortete nicht.


*** NGE ***


Wie gern hätte Shinji sich den Menschen offenbart, wie nahe war er daran gewesen, den EntryPlug zu evakuieren, doch er hatte es nicht getan.
EVA-01 durfte niemandem in die Hände fallen, der EVA eine viel zu mächtige Waffe in dieser Welt...
Mit gewaltigen Schritten entfernte er sich von den Menschen nach einem letzten Blick auf das Mädchen, das in der Luke des Flugzeuges stand.
Misato... jetzt würde sie keine Alpträume mehr haben, welche sie mit Alkohol zu betäuben versuchen würde...
Er verfiel in einen raschen Laufschritt, begann dann zu rennen...
Sicher konnte er noch andere Dinge richten, konnte er verhindern, daß gewisse Entwicklungen ihren Lauf nahmen...


*** NGE ***


Militärische Beobachtungssatelliten verfolgten den Giganten bis zur Küste der Antarktis, wo er ohne zu zögern ins Wasser watete und im Meer verschwand.
Wochen später meldeten mehrere Unterseeboote zwischen Australien und Japan unabhängig voneinander die Beobachtung eines gewaltigen Objektes, welches sich mit hoher Geschwindigkeit auf die japanischen Inseln zubewegte.
Und ein gutes Vierteljahr nach dem Kampf der Giganten in der Antarktis - etwas worüber die Mitglieder der Katsuragi-Expedition schließlich doch noch berichtet hatten, von der Presse und der Mehrheit ihrer Kollegen jedoch für verrückt erklärt worden waren - erschien der purpur-grüne Riese in der Nähe der japanischen Hauptstadt Tokio, tauchte dort einfach aus dem Meer auf.
Zuerst war es nur das aus seinem Schädel ragende Horn gewesen, welches zu sehen war, dann hatte sich der Kopf aus dem Wasser gehoben, gefolgt von den Schultern...
In dem Augenblick, in dem EVA-01 erstmals wieder einen Fuß auf japanischen Boden setzte, liefen in der Hauptstadt bereits erste Evakuierungspläne an, stand die Bevölkerung kurz vor einer Massenpanik.

Doch der Gigant bewegte sich nicht weiter auf die Stadt zu, sondern verblieb am Strand, setzte sich einfach in den Sand und begann dort gelangweilt mit dem Bau einer kolossalen Sandburg, während rings um ihn herum Einheiten des Militärs Stellung bezogen.
Doch die zahlreichen Panzer und eilig ausgehobenen Geschützstellungen beunruhigten seinen Piloten ebensowenig wie die Kriegsschiffe, welche in Sichtweite auf der offenen See kreuzten oder die Hubschrauber und Jagdflugzeuge, die über seinen Kopf hinwegschossen, manche so tief, daß er nur die Hand hätte zu heben brauchen, um sie aus der Luft zu greifen.

Der Taktische Rechner stufte das geballte Potential der Verteidigungsstreitkräfte nicht als Gefährdung ein, solange der EVA über sein AT-Feld verfügte. Und der Pilot schloß sich dieser Einschätzung an.
Shinji hatte sich während der letzten Wochen, die er größtenteils mit EVA-01 unter Wasser verbracht hatte, ziemlich verändert. Seine Haut besaß kaum noch Farben, auch sein Haar war beinahe schlohweiß und ausgebleicht. In seinem System befand sich soviel LCL, daß es seine natürlichen Zellen fast vollständig verdrängt hatte. Eigentlich hielt ihn nur noch sein S2-Organ am Leben - und der Wille, für eine bessere Zukunft zu sorgen...

Die Streitkräfte warteten ab, obwohl es manch einem Schützen in den Fingern juckte, das gewaltige Objekt am Strand unter Feuer zu nehmen.
Schließlich, nachdem sich über einen Tag lang nichts gerührt hatte, näherte sich ein einzelner Jeep dem im Sand hockenden Riesen, auf der Rückbank stand ein Soldat, der hektisch eine weiße Parlamentärsflagge schwenkte. Der Geländewagen hielt in angemessenen Abstand, der Beifahrer, ein Colonel der Armee, schwang sich aus dem Fahrzeug und hob ein Megaphon an die Lippen.
\"Sie befinden sich auf japanischem Hoheitsgebiet. Ergeben Sie sich umgehend und lassen Sie sich in den Gewahrsam der Armee überführen!\"

EVA-01 beugte sich vor, starrte den Offizier an.

Dieser zuckte zurück.

Der Soldat auf der Rückbank hielt jetzt anstelle der Fahne eine Maschinenpistole in Händen.

\"Ich komme in Frieden. Ich stelle keine Bedrohung für Sie dar.\" erklärte EVA-01 mit seiner grollenden Stimme, über die er gar nicht hätte verfügen dürfen, wenn es nach seinen Erbauern gegangen wäre.

\"Was willst du?\" fragte der Colonel, er klang jetzt um einiges respektvoller als bei seiner Aufforderung zur Kapitulation. Dennoch wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, einen Roboter zu siezen...

\"Bringen Sie mir mei... bringen Sie mir Doktor Yui Ikari. Mit ihr werde ich sprechen.\"

\"Wen? Doktor Yui Ikari?\"
Der Colonel wirkte überrascht.
\"Nicht unseren Anführer? Oder den Premierminister?\"

\"Nein. Doktor Yui Ikari. Niemanden sonst. Professor Kozo Fuyutsuki von der Tokioter Universität müßte wissen, wo sie ist.\"

\"Das... ah... Was willst du hier?\"

\"Ich will nur mit Doktor Ikari sprechen, nicht mehr. Ich bin keine Bedrohung.\"


*** NGE ***


Durch die Augen des EVAs sah Shinji, wie der Jeep wieder zurückfuhr.
Er fühlte sich müde und ausgelaugt, das Sprechen nach all den Wochen hatte ihn geistig und körperlich erschöpft.
Jetzt bereitete er sich auf eine lange Wartephase vor.

Am Morgen des nächsten Tages konnte Shinji im Basislager der Streitkräfte Aktivitäten wahrnehmen. Ein Hubschrauber war gelandet.
Er zoomte heran.
Zwei Menschen verließen die Maschine - Gendo und Yui Ikari...

Shinji konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht einfach loszustürmen.
Seine Mutter... wie sehr er sie vermißt hatte...
Und der Mann, der er so lange Zeit für seinen Vater gehalten hatte... es war schwer, nicht aufzuspringen, mit ein paar weiten Sätzen hinüberzurennen und ihn einfach zu zerstampfen für all das Leid, welches er über andere gebracht hatte.
Gendo Ikari schien seine Frau zurückhalten zu wollen, redete wütend auf sie ein.

Shinji knirschte mit den Zähnen.

Anscheinend wollte der bärtige Mann mit dem Roboter am Strand Kontakt aufnehmen und zugleich entsprechendes seiner Frau verbieten.
Der Colonel, mit dem Shinji gesprochen hatte, mischte sich ein, sagte etwas, das Gendo Ikari fast zu Handgreiflichkeit veranlaßte.
Yui Ikari blickte ihren Mann finster an, stieg dann in den bereitsstehenden Jeep.

Shinji wurde nervös.
Sie kam... sie kam tatsächlich...
Er ließ EVA-01 den Rücken durchdrücken, wollte so gerade und ordentlich wie möglich dasitzen, wenn seine Mutter erschien...
Wie sollte er sich jetzt nur verhalten... während der Reise hatte er mehrere Szenarien immer wieder in Gedanken durchgespielt, doch die Realität war ganz anders...

Der Jeep hielt wieder in einigem Abstand.
Der Colonel stieg aus, sprach wieder durch das Megaphon.
\"Doktor Ikari ist bei mir. Sprichst du jetzt mit uns?\"

\"Nur mit ihr... Komm bitte... Kommen Sie bitte zu mir, Doktor Ikari.\"

Sehr zögerlich kletterte Yui aus dem Geländewagen, trat neben den Colonel.

EVA-01 beugte sich vor und streckte die Hand aus, so daß diese mit dem Rücken den Sand berührte.
\"Steigen Sie auf.\"

Die Wissenschaftlerin zögerte, schien Mühe zu haben, ihre Ruhe zu bewahren.

\"Das war nicht vereinbart.\" sagte der Offizier.

\"Ich tue ihr nichts. Mu... Doktor Ikari, Ihnen wird nichts geschehen.\"

Yui Ikari kletterte auf die offene Hand von EVA-01, hielt sich an dem riesigen Daumen fest, als die Hand angehoben und zurückgezogen wurde. Schließlich richtete sie sich mit zittrigen Knien auf, blickte dem Giganten direkt in die Augen.

\"Es ist lange her...\" flüsterte der Roboter.
Plötzlich war seine Stimme nicht mehr laut und grollend, sondern leise und flüsternd, so leise tatsächlich, daß die Soldaten beim Jeep kein Wort verstanden.

\"Was ist lange her? Wir sind uns nie begegnet... was bist du?\"

\"Ich... Dies ist EVANGELION-Einheit-01. Wir sind gekommen, um dich zu warnen.\"
Shinji spulte lange vorbereitete Worte ab, hatte sich endlich für ein Vorgehen entschieden.

\"Wovor?\"

\"Vor der Zukunft.\"


*** NGE ***


Als EVA-01 Yui Ikari wieder wie versprochen unbeschadet absetzte, war diese noch verwirrter als zuvor, als man ihr mitgeteilt hatte, daß der plötzlich aus dem Meer aufgetauchte Roboter sie sprechen wollte.

Shinji hatte seine Identität ihr gegenüber nicht offenbart, ebensowenig wie er ihr offenbart hatte, daß der EVANGELION über einen menschlichen Piloten verfügte und daß dieser Pilot gerade knappe vierzehneinhalb Jahre alt war.
Doch er hatte sie vor den Plänen ihres Mannes gewarnt, hatte ihr von den Genmanipulationen und dem Weltuntergangskult berichtet, dem Gendo Ikari anhing. Und seine Worte schienen auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein.
Mehr konnte er nicht tun...

EVA-01 richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als der Jeep sich auf der Rückfahrt befand.
Sand rieselte von seinen Beinen hinunter.
Er wandte sich dem Meer zu, watete wieder ins Wasser.

Zwei Tage später verloren die ihn verfolgenden U-Boote seine Spur.


*** NGE ***


Yui Ikari trennte sich wenige Tage später von ihrem Mann, nachdem dieser während eines Streits handgreiflich geworden war. Ein halbes Jahr später zog sie mit ihrem früheren Professor Kozo Fuyutsuki zusammen. Die Beziehung blieb kinderlos.

Gendo Ikari verschwand für die nächsten fünfzehn Jahre in der Versenkung, gerüchteweise waren er und sein alter Freund Fuyuu Sekanden für die Yakuza tätig.

Misato Katsuragi studierte Kunstwissenschaften, im Studentenwohnheim teilte sie sich ein Zimmer mit der Humangenetikstudentin Ritsuko Akagi. Die beiden wurden gute Freunde - jedenfalls bis ein gewisser Ryoji Kaji ins Spiel kam, mit dem Misato eine Beziehung begann, der sie jedoch nach einem heftigen Streit mit Ritsuko betrog und dabei von Misato erwischt wurde. In der Folge konnte sie ihm zwar vergeben, doch die Freundschaft mit Ritsuko kühlte merklich ab.

Doktor Naoko Akagi entwickelte in Jahre 2009 die MAGI-Rechner und schuf mit ihnen die erste funktionierende Künstliche Intelligenz. Durch den Gewinn aus der Vermarktung dieser Entwicklung stieg sie zu einer der reichsten Personen der Welt auf

PenPen wurde nie von Misato Katsuragi aus der Tierversuchsanstalt geholt.

Kyoko Soryu machte am Institut für Humangenetik in Wilhelmshaven mehrere bahnbrechende Entdeckung auf dem Gebiet der menschlichen Selbstheilungskraft.

Ihre Tochter Asuka schloß mit vierzehn Jahren die Schule ab, eine Zeitlang war sie wütend auf ihre Mutter gewesen, weil diese ihr den Umgang mit dem älteren Pietter Fresenhark verboten hatte, doch dies legte sich. Sie plante, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und ebenfalls ein Studium der Genetik zu beginnen.

Toji Suzuhara begegnete nie Hikari Horaki.

Kaworu Nagisa wuchs bei seinem verwitweten Vater auf, der sich bemühte, ihm all die Liebe und Fürsorge zu geben, die er benötigte.

Kensuke Aida machte sich im Alter von zwölf Jahren auf die Suche nach seinem im Nahen Osten vermißten älteren Bruder, indem er sich an Bord eines Flugzeuges schmuggelte. Seine Eltern warten immer noch auf ein Lebenszeichen.

Die Vereinten Nationen gründeten nie einen Geheimdienst namens ODIN, auch eine Sonderabteilung, deren Angehörige als RABEN bezeichnet wurden, existierte nie.

Wolf Larsen stieg innerhalb des MAD bis in die Führungsetage auf, aus seiner Ehe mit Ann gingen drei Kinder hervor.

Im Jahre 2015 wurde von einem abtrünnigen Wissenschaftler im kurdischen Bergland ein Killervirus an die meistbietende mehrerer Terrororganisationen versteigert.
Eine Gruppe Agenten aus mehreren Geheimdiensten wurde bei dem Versuch, die Versteigerung zu verhindern und die Virusprobe samt Formel zu bergen, aufgerieben.
Der Virus wurde erstmals in Tokio freigesetzt und forderte mehrere Millionen Opfer, darunter Doktor Yui Ikari und Professor Fuyutsuki.
In den nächsten Tagen schlugen die Terroristen noch mehrmals zu, Städte wie Beijing, New York und Paris wurden nahezu entvölkert.
Dann mutierte der Virus und starb nicht mehr nach der zuvor in seiner Struktur verankerten Zeit ab.
Als ein Gegenmittel gefunden wurde, zählte die Erdbevölkerung nur noch eine halbe Million Köpfe, unter ihnen Gendo Ikari, der sich im Untergrund von Tokio zum Herrscher über etwa dreitausend Menschen aufgeschwungen hatte...


*** NGE ***


Nach all den Jahren war der einsame Beobachter an den Südpol zurückkehrt.

Shinji hatte jeden Kontakt mit anderen Menschen vermieden, hatte sich darauf beschränkt, die Entwicklungen zu beobachten, die an der Erdoberfläche stattfanden.
Schon bald hatte er es satt gehabt...
Kriege, Hungersnöte, Rassenunruhen... der Mensch hatte die Chance, die er erhalten hatte, nicht genutzt. Und jetzt hatte ein einzelner Mikroorganismus fast alle dahingerafft...

Fünfzehn Jahre hatte Shinji im EntryPlug verbracht. Mittlerweile hätte er diesen nicht mehr verlassen können, ohne gleich darauf zu einer LCL-Pfütze zu zerfließen.
Fünfzehn Jahre...
Die Einsamkeit hatte seinen Verstand zerfressen, nach dem ersten Jahr hatte er begonnen, mit sich selbst zu reden, nach dem fünften Jahr hatte sich bei ihm die Halluzination durchgesetzt, er wäre nicht allein im EntryPlug, sondern umgeben von seinen Freunden, von den Menschen, die ihm etwas bedeuteten...

Jetzt, am Vorabend der letzten Tage der Menschheit, war er zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückgekehrt.

Und LILITH erwartete ihn.

Plötzlich war Shinji ganz ruhig, verstummten die vielen Stimmen in seinem Kopf, legte sich der Wahnsinn.
Er stellte dem Zweiten Engel nur eine Frage:
\"Warum?\"

\"Warum was?\"

\"Warum ist all dies geschehen? Ich habe den Impact verhindert... ich habe ADAM mit eigenen Händen getötet... warum ist die Menschheit trotzdem zugrundegegangen? Warum habe ich dafür Rei opfern müssen?\"

\"Es war deine Wahl.\"

\"Ich hatte keine andere.\"

\"Und die ursprüngliche Zeitlinie?\"

\"Du meinst... ich hätte den Second Impact nicht vereiteln sollen?\"

\"Alles wäre so gekommen, wie du dich erinnerst. All das Leid, all die Tränen.\"

\"Aber die Menschen sterben doch auch hier...\"

\"Ja.\"

Shinji überlegte.
Diese Entwicklung würde zum Untergang der Menschheit führen... doch wenn er den Second Impact geschehen ließ, so wie er eigentlich stattgefunden hatte... dann verurteilte er mehr als die halbe Menschheit zum Tode...
Das konnte er doch nicht...
Andererseits würde er dadurch die andere Hälfte retten...
Konnte man wirklich ein Leben gegen ein anderes rechnen?
Eine Hälfte der Menschheit gegen die andere...
Nein, das konnte er nicht, das konnte er nicht auf sein Gewissen laden...
Er fühlte sich alt und müde... so müde...
Er konnte nicht einfach den Untergang so vieler Menschen beschließen...
Doch in der Realität, aus der er kam, gab es auch Rei... seine Rei-chan... wie sehr er ihre Stimme, ihre Berührung vermißte...
Eine Träne rollte aus seinem Augenwinkel, schaffte tatsächlich den halben Weg über seine Wange, ehe sie vom LCL im Plug absorbiert wurde.
\"Dann soll die Welt brennen...\" flüsterte er heiser.
Kapitel 61 - Pfad der Dornen

Niemand würde im Stande sein, über die Ereignisse an jenem verhängnisvollen Tag in der Antarktis zu berichten, die einzige Überlebende der Katsuragi-Expedition würde für Jahre in einen katatonischen Schockzustand verfallen und den Großteil ihrer Erinnerungen verdrängen...

Das Eisfeld nahe des Südpols war zu einem Schlachtfeld geworden.
Das Experiment mit dem schlafenden Giganten war fehlgeschlagen, ein winziges Abweichen vom Plan hatte genügt, den schlafenden Engel ADAM zu erwecken, als die Lanze, welcher in seiner Brust gesteckt hatte, gelockert worden war.
Endlos lange Minuten hatten die Menschen der Expedition verharrt und zu dem Riesen emporgeblickt, der sich so unvermittelt aufgesetzt hatte, der sich zu orientieren schien.
Doch mehr als dieser kurze, ungenügende Moment war ihnen nicht vergönnt gewesen...
Plötzlich wurde der polarsommerliche Himmel in grelles Licht getaucht. Und mit einem donnernden Laut fiel ein zweiter Riese vom Himmel, eine weiße humanoide Gestalt mit rotglühenden Augen.
LILITH, der Zweite Engel, hatte die Erde erreicht...

Panik erfaßte die Menschen, fluchtartig strebten sie fort von der Ausgrabungsstelle.

ADAM richtete sich auf, wandte sich dem Neuankömmling zu, beugte den Oberkörper nach vorn wie ein Stier, der seinen Gegner erwartet. Um ihn, wie auch um den anderen Giganten, baute sich ein Feld knisternder Energie auf, welches bei Kontakt Eis und Schnee und den darunterliegenden Fels einfach zerschmolzen, welches blitzendes Wetterleuchten hervorrief.

Einer der Wissenschaftler hielt in seiner Flucht inne, wandte sich den Riesen mit einem Meßgerät in den Händen zu, warf einen einzigen Blick auf die Anzeigen und ließ das Gerät fallen.
Ein anderer Mann rief ihm zu, er solle laufen, doch er schüttelte nur den Kopf. Flucht war sinnlos, zwischen den beiden Wesen bauten sich mächtige gegenpolige Kraftfelder auf, die bei Kontakt genügend Energie freisetzen würden, um die Erde zu zerreißen...

Mit beiden Händen packte ADAM den Handgriff des Longinusspeeres, gab ein lautes Knurren von sich.

Hinter der siebenäugigen Maske LILITHs glühten zwei tiefrote Lichter auf.

Im ewigen Eis bildeten sich erste Risse, die Spalten im Boden weiteten sich immer mehr, drangen immer tiefer vor, bis glutflüssiges Gestein dampfend hervortrat.

Vom Himmel zuckten vielfarbige Blitze, Stürme begannen zu toben.

Dann stieß ADAM plötzlich vorwärts, schlug mit dem Speer zu wie mit einer Sense, trennte LILITHs Beine unterhalb der Knie ab, ohne daß der Longinusspeer von ihrem AT-Feld aufgehalten wurde.

LILITH stürzte.

ADAMs Kraftfeld fuhr über sie hinweg, drückte sie in die hervorquellende Lava.
Noch einmal mobilisierte sie ihre Kräfte, stemmte sich gegen den Druck.

ADAM tauchte über der Urmutter auf, hob den Speer, um ihr den Todesstoß zu versetzen.

Und dann betrat mit einem zuckenden Lichtblitz ein dritter Riese das Feld, ein weitaus menschenähnlicheres Wesen in purpur und grün mit glühenden Augen. Es schien eine schwere Panzerung zu tragen und aus der Stirn ragte ein einzelnes Horn.
Auf den Unterarmschienen der Panzerung war ein Schriftzug zu lesen:
EVANGELION-01-TESTMODELL...
Blitzartig griff Gigant zu, entriß dem Ersten Engel den Speer.

ADAM wirbelte herum, erhielt einen heftigen Schlag mit dem Lanzenschaft gegen die Brust.

EVA-01 setzte nach, wirbelte den Speer herum, trieb die Doppelspitze in ADAMs Unterleib, stemmte die Waffe langsam nach oben, zog sie dann ruckartig zur Seite, hinterließ eine klaffende Wunde in der Seite des Engels.

ADAM taumelte.
Die Rundränder begannen sich wieder zu verschließen, als seine Regenerationskraft einsetzte.

Wieder schlug EVA-01 zu, stieß den Speer dieses mal in die Brust des Engel ganz nahe der Stelle, wo er zuvor über Millionen von Jahren gesteckt hatte.
Mit seiner ganzen Kraft lehnte sich der EVANGELION gegen den Schaft, ignorierte, daß der Engel mit erlahmenden Kräften nach ihm trat. Dann packte er einen von ADAMs Armen, die bisher erfolglos nach ihm geschlagen hatten, riß ihn am Schultergelenk heraus, schleuderte ihn von sich.

In der Ferne hob ein kleines Transportflugzeug ab.
In der kurzen Zeit, welche der ungleiche Kampf zwischen dem EVA und dem überraschten ADAM noch andauern würde, würde der Pilot, Professor Matsuo Katsuragi, das Steuer festzurren und seine Tochter Misato in einen gepolsterten Frachtbehälter stecken, welchen er in der Folge abwerfen würde...

ADAM gab einen Schmerzensschrei von sich. Bis jetzt hatte er geschwiegen, hatte die Verletzungen stumm hingenommen, hatte seinem plötzlich aufgetauchten Gegner kein Wort gegönnt, doch jetzt brüllte er auf.
Sein Schrei brachte Gebirge zum Einsturz und ließ die austretende Lava aufschäumen.
Dann lag er still, während unter ihm der antarktische Kontinent auseinanderzubrechen begann.

EVA-01 tat nichts, lehnte sich nur weiter gegen den Speer, welcher den Engel gegen den schmelzenden Boden pinnte.
Der purpur-grüne Gigant blickte hinüber zu LILITH, welche nur dalag, ihre Beine unterhalb der Knie zerfaserte Wunden.

\"Was soll ich tun?\" brüllte Shinji im EntryPlug.

Der Taktische Rechner gab ihm die Antwort - in ADAMs Körper existierte eine Anomalie, der Erste Engel besaß einen Kern, welcher sich in seinem Kopf befand, doch ebenso stellte der EVA die Existenz eines separaten S2-Organs fest, welches sich dort befand, wo ein Mensch sein Herz hatte.

\"Löse Armageddon aus, Messias.\"
LILITHs Worte enthielten keinen Befehl, keine Anweisung, nur eine Information.

Wenn er ADAMs S2-Organ zerstörte, würde die freigesetzte Energie so gewaltig sein, daß es die Antarktis auseinanderriß. Es würde die Erdachse verschieben und unzählige Katastrophen auslösen. Und es würde das Leben der halben Menschheit fordern.

Shinji hatte die Alternativen gesehen, er hatte gesehen, was geschehen wäre, wenn ADAM LILITH besiegt hätte. Und er hatte gesehen, was passieren würde, wenn er den Second Impact gänzlich verhinderte.
Doch nicht die Rettung der Menschheit bestimmte sein Handeln, selbst wenn er Milliarden opfern mußte, um etwa dieselbe Zahl an Leben zu bewahren. Sein Motiv war alles andere als selbstlos, ihm ging es nur darum, seine geliebte Rei wiederzusehen.
Und wenn er dafür die ganze Erdkugel in Brand setzen mußte, dann war es ihm recht...

EVA-01 löste eine Hand vom Griff des Speeres, hob sie in den Himmel.
Die Finger des Giganten formten eine Klaue.
Und diese stieß er wuchtig in die Brust des Ersten Engels, riß ihm das S2-Organ aus dem Leib, hielt es triumphierend in die Luft.

Shinji Ikari trug in sich ADAMs Erbe, Gendo Ikari, der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, hatte Shinjis DNA noch im Fötusstadium verändert und mit der des Ersten Engels angereichert. In gewisser Weise war Shinji der Sohn von ADAM dem Urvater, von ADAM dem Vernichter. Und der Sohn hatte den Vater getötet und trat an seinen Platz...

Das Inferno begann.

Die Computer des EVANGELIONs wiesen den Piloten darauf hin, daß die strukturelle Integrität des Bodens nachließ, daß der Untergrund immer stärker von Spalten und Rissen durchzogen wurde.

Am Horizont explodierte eine Bergkette, als Vulkane, welche über Jahrtausende geruht hatten, ausbrachen.
Der Himmel nahm eine blutrote Farbe an.

Die Rechner kommentierten, daß Veränderungen im Magnetfeld der Erde stattfanden, fuhren sich selbst größtenteils hinunter, um dem bevorstehenden elektromagnetischen Impuls gewachsen zu sein.

ADAMs Körper schrumpelte zusammen, schien zu schrumpfen und sich damit zurückzuentwickeln.

EVA-01 sah wieder zu LILITH hinüber - und erblickte den Zweiten Engel in zweifacher Ausführung.

Die eine - beinlose - LILITH lag noch immer in einem schnell wachsenden See aus Lava, während die zweite - komplette - neben ihr in der Luft schwebte.
Die beiden schienen stille Zwiesprache zu halten.
Dann wandte sich die schwebende LILITH von der anderen ab und näherte sich EVA-01.

\"Der Kreis wurde geschlossen.\"

Shinji nahm die Worte einfach hin.
Er hatte weder das Falsche, noch das Richtige getan. Er hatte lediglich die einzige Möglichkeit genutzt, Rei wiederzusehen...
Vielleicht würde er eines Tages für das heutige Geschehen zur Rechenschaft gezogen werden, andererseits glaubte er nicht wirklich an einen Tag des Jüngsten Gerichts oder ähnliches. Die Engel waren nicht wirklich himmlische Wesen, höhere Wesen - vielleicht -, aber alles andere wurde nur von den Menschen in sie hineininterpretiert.
Unter den Füßen seines EVAs begann sich der Boden aufzulösen, zugleich heizte sich das S2-Organ in seinen Händen auf. Es stand kurz vor der Explosion...
Er schleuderte es von sich.

Gleichzeitig erreichte LILITH Einheit-01 und nahm sie mit sich...

Das S2-Organ explodierte noch in der Luft, setzte die Kräfte frei, die ADAM im Laufe einer kleinen Ewigkeit gesammelt hatte, während ihn der Longinusspeer gebannt hatte.

Über der Antarktis brannte eine zweite Sonne...

Irgendwo in der Ferne schwamm ein kleiner Frachtcontainer auf dem aufgewühlten Meer.
Die Luke wurde von Innen geöffnet und ein junges Mädchen von vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahren mit purpurfarbenem Haar schaute hinaus. Das Gesicht der jungen Misato Katsuragi war blutüberströmt, die Augen schockgeweitet.
Als einziger Mensch sah sie das furchtbar helle Licht, welches das Land in der Ferne zu verschlingen schien, und überlebte...


*** NGE ***


Wieder schwebte Shinji in der Dunkelheit.
EVA-01 war fort. Unter sich glaubte er das träge vor sich hin schwappende Meer aus LCL wahrzunehmen, allerdings fehlte das Gesicht LILITHs ebenso wie die Lichter der Seelen, welche den Himmel erhellt hatten.

Dafür wurde es unter ihm hell.
Zuerst war es nur ein schwaches Licht, das aus der Tiefe des LCL-Meeres aufstieg, doch mit jedem Herzschlag, der verging, gewann es an Kraft, als es der Oberfläche näherkam.
Es war eine der Lichtkugeln, in deren Zentrum eine Seele ruhte...

Langsam stieg das Licht auf, durchbrach die Meeresoberfläche, schwebte weiter in die Höhe, bis das Licht direkt vor Shinji schwebte, allerdings außerhalb seiner Reichweite.
Er vernahm leise Musik... die Mondscheinsonate... Reis Lied, das Lied ihrer Seele...
Die Seele vor ihm mußte Rei-chans sein...

Das Licht wuchs, dehnte sich aus, formte einen menschlichen Körper...

Shinji weinte Tränen der Freude, als sich seine Vermutung bestätigte, als Rei vor ihm in der Luft schwebte, langsam die Augen öffnete und ihn anlächelte.
\"Rei...\"
Er streckte die Hand aus.

Sie tat es ihm nach, flüsterte seinen Namen.

Ihre Fingerspitzen berührten sich.

Für diesen einen Moment hätte er die ganze Welt zum Teufel geschickt...

\"Du hast ihre Seele bewahrt, Shinji-kun.\"
Aus der allgegenwärtigen Dunkelheit erschien Tabris, schälte sich einfach aus der Schwärze.
Und er war nicht allein gekommen...

Bei Tabris war eine ganze Reihe weiterer Wesen, die jeder ein eigene Melodie ausstrahlten, manche hatten ein langsames und trauriges Lied, andere hingegen ein dynamisches und machtvolles.

Shinji erkannte nahezu jeden von ihnen - er hatte sie mit EVA-01 bekämpft und besiegt.
Er stand Reis Geschwistern gegenüber...

Die Engel bildeten einen offenen Kreis um ihre jüngste Schwester.

Rei rührte sich nicht, sah sich nicht um, hielt den Blick auf Shinji gerichtet.
\"Du wirkst so müde...\"

\"Uh... ja...\"
Shinji berührte mit der anderen Hand seine Wange, spürte Falten und Bartstoppeln, erschrak. Die fünfzehn Jahre, welche er in der alternativen Realität verbracht hatte, hafteten ihm immer noch an.

\"Sein Geist steht vor dem Zusammenbruch\", erklärte einer der Engel, Shinji glaubte in ihm Arael zu erkennen, mit welchem Asuka konfrontiert worden war.

\"Er ist nur ein Lilim, schwach und weich\", knurrte ein anderer. Dieser Engel war wohl einmal stark und mächtig gewesen, jedenfalls schien sein Lied dies verkünden zu wollen, doch er war nur ein Schatten seiner Selbst, stand gebeugt und zittrig da.

\"Du bist Zeruel...\"
Shinji schluckte. Er trug die Schuld am Zustand des wohl einstmals mächtigsten Kriegers unter LILITHs Kindern.

Die Antwort des Engels bestand aus einem Brummen.

\"Er besitzt kein Lied\", zirpten zwei weitere Engel gleichzeitig - Israfel...

\"Aber er gibt nicht auf.\"

Shinji sah den letzten Sprecher überrascht an.
Er hätte nicht gedacht, daß Satchiel, sein allererster Gegner, für ihn sprechen würde.
Augenblick... was geschah hier überhaupt? Warum äußerten die Engel Kritik an ihm?

\"Sein Herz ist stark. Und er besitzt ein Lied, ihr müßt nur lauschen wollen.\" sagte Tabris.

\"Ein Lilim kann kein Lied der Engel singen\", grollte Zeruel.

\"Ich höre es\", erklärte Leriel mit Bestimmtheit.

\"Was... was soll das überhaupt?\" fragte Shinji verwirrt.

\"Hört ihr? Unsicherheit!\" höhnte Zeruel. \"Und dieser Wurm hat mich besiegt...\"

\"Wenn er dich doch nur zugleich auch von deiner Überheblichkeit geheilt hätte...\"
Tabris trat vor.
\"Shinji-kun, für Rei ist es an der Zeit zu wählen, welchen Pfad sie beschreiten will.\"

Rei löste den Blick von ihrem Geliebten und wandte sich ihren Brüdern zu.

\"Pfad? Uh... Tabris-kun...\"

\"Er wagt es...\" flüsterte Sahakiel.

\"Er nennt unseren Bruder \'Freund\'... wie kann ein Lilim... oder auch ein Nephilim... ein Freund eines von uns sein? Zwischen unseren Arten liegen Welten!\" grollte Zeruel.

\"Sie sind nicht mehr als Staub unter unseren Füßen\", schlug Ramiel in dieselbe Bresche.

\"Er ist mein Freund\", flüsterte Tabris finster und stellte sich an Shinjis Seite.

\"Ohne die Mißgeburt hätte er keine Chance gegen uns gehabt!\"

\"Uh...\" machte Shinji. \"Es ist mir egal. Beleidigt mich nur, es kümmert mich nicht... aber... was hat das zu bedeuten? - Rei-chan, wieso sollst du dich entscheiden?\"

Rei drehte sich ihm wieder zu.
\"Sie sind meine Familie, sie rufen nach mir.\"

\"Ah...\"

\"Ich soll sie begleiten, dorthin wo die Seelen frei sind von irdischen Zwängen... irdischem Leid...\"

\"Agh... Rei-chan...\"
Shinji blinzelte.
So war das also...
Er hatte all das letztendlich nur getan, damit Reis Seele frei wurde...
Er zwang sich zu einem Lächeln.
\"Es... uh... es ist deine Wahl, Rei...\"
Nur mit Mühe unterdrückte er die aufsteigende Bitterkeit.

\"Er gibt sie auf...\" flüsterte Sahakiel.

\"Schwach.\" brummte Zeruel.

\"Ein Wurm\", gluckerte Gaghiel.

\"Ein Mensch. Mit allen Stärken und Schwächen der Menschen.\" warf Bardiel ein. \"Sie haben Potential, urteilt nicht vorschnell, sonst ergeht es euch wie Zeruel.\"
Aus der Masse der Engel löste sich eine hochgewachsene, aber zugleich furchtbar dürre Erscheinung mit nur teilweise menschlichem Äußeren, deren Oberfläche ständig in Bewegung zu sein schien, und trat auf Shinjis andere Seite.

Der kugelförmige Leriel folgte ihm.

Der geflügelte Satchiel wollte es seinen Brüdern zuerst gleichtun, verharrte dann aber zwischen den Parteien.

\"So? Ein Mickerling ist er, unserer Schwester nicht würdig!\"

Shinji atmete schneller.
Nicht würdig...
Er war bereit gewesen, die Welt für Rei zu vernichten...
Er hatte die Hälfte der Menschheit geopfert, um wieder mit ihr zusammen sein zu können!
\"Warum... warum glaubt ihr, über mich urteilen zu können? Jeder von euch, der sich für... für so allmächtig und überlegen hält... ihr alle habt nicht einen Moment innegehalten und versucht zu kommunizieren, so wie Tabris und... und Armisael es getan haben...\"

\"Wofür ihr Armisael vernichtet habt... doch ein Teil von ihm lebt weiter in unserer Schwester. Sei dankbar dafür, Lilim, sonst hätten wir dich hier und jetzt zerrissen!\"

Tabris versteifte sich.
Seine Melodie bekam eine finstere Note.

Shinji machte eine Geste, als wolle er die Ärmel hochstreifen.
\"Und wie ich dankbar bin... denn dank Armisaels Opfer ist Rei noch am Leben. Aber wenn ihr Streit wollt - ich habe die meisten von euch schon einmal besiegt...\"

\"Er hat Mut\", murmelte Arael. \"Nun, Bruder?\"

Zeruel gab nur ein lautes Knurren von sich.

\"Du erschreckst mich nicht. Hier sind wir gleich\", flüsterte Shinji.

Der gebeugte Riese beachtete ihn nicht, wandte sie stattdessen Rei zu.
\"Nun, kleine Schwester, wie hast du dich entschieden?\"

Rei drehte sich herum, musterte ihre Brüder, blickte dann über die Schulter zu Shinji zurück.

Shinji schluckte abermals.
Wie es schien, hatte Rei-chan ihre Wahl gefällt, sonst hätte sie ihm wohl kaum den Rücken zugewandt...

\"Komm mit uns und beschreite den Pfad aus Gold...\" zwitscherte einer der Israfel-Zwillinge.

\"... oder bleibe bei dem Lilim und wandle auf dem Pfad der Dornen.\"

Pfad aus Gold... Pfad der Dornen... genau dieselben Begriffe hatte LILITH ihm gegenüber verwandt, um die verschiedenen möglichen Entwicklungen zu bezeichnen, zwischen denen er hatte wählen können...
Pfad aus Gold... das klang sehr verheißungsvoll, doch er hatte gesehen, was passieren konnte, daß die heute optimale Lösung morgen schon das Verhängnis herbeiführen konnte...
Aber galt das auch hier?
Vielleicht war es eine gängige Umschreibung der Engel für eine Zukunft, die besser zu sein schien, als alle anderen Möglichkeiten...
Konnte er dann Rei-chan noch länger an sich binden? Mußte es nicht auch sein Wunsch sein, daß sie glücklich wurde, auch wenn dies vielleicht hieß, sie vollends zu verlieren... nein, ganz verlieren würde er sie nie, ihm blieb immer noch die Erinnerung...
Doch dann mußte er sie gehen lassen...

Wieder blickte Rei über die Schulter zu Shinji.

Shinji befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze.
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit öffnete und schloß er die Faust wieder unbewußt, Anzeichen des Stresses unter dem er stand.
\"Rei-chan... geh mit ihnen... sie sind deine Familie, sie... sie können dir sicher mehr bieten, als ich jemals... ah... du wirst bei ihnen glücklich werden...\"
Er kämpfte mit den Tränen, hielt aber immer noch sein Lächeln aufrecht.
\"Ich werde dich nie vergessen.\"

\"Ich weiß...\" flüsterte sie.
Sie schloß die Augen.
Dann wandte sie sich ab von ihren Brüdern und trat an Shinjis Seite.

\"Weißt du denn nicht, was du verschenkst?\" rief Shamsiel.

\"Ja.\" antwortete Rei knapp. \"Doch mit euch zu gehen, hieße weitaus mehr zu verlieren.\"

\"Dieser Wurm ist deiner nicht wert!\" brüllte Zeruel.

Tabris, Leriel und Bardiel bildeten eine Mauer zwischen Shinji und Rei und den anderen Engeln. Nach kurzem Zögern stieß Satchiel zu ihnen, dann Arael.

\"Ihr wollt euch wirklich gegen uns stellen?\" fragte Matriel zischend. \"Das ist der Lilim nicht wert!\"

\"Er ist keinen dritten Krieg der Engel wert\", bekräftigten die Israfel-Brüder.

\"Doch. Er und das, was er repräsentiert, das Band, welches zwischen ihm und unserer Schwester besteht.\" erklärte Tabris.

\"Respektiert ihr die Wahl unserer Schwester nicht?\" kam es von Arael.

\"Wie kann sie für einen Lilim die Ewigkeit aufgeben? Wenn sie zu lange unter den Lilim weilt, wird ihr Lied verkümmern und vielleicht irgendwann gänzlich verstummen!\"

\"Glaubst du das wirklich, Zeruel?\" fragte Tabris und gab den Blick frei auf Shinji und Rei, die einander in den Armen lagen.

\"Ich weine um den Tod meines Bruders Armisael!\" grollte Zeruel. \"Offenbar war sein Opfer umsonst.\"
Und damit zog er sich aus der Versammlung zurück.

Die Israfel-Zwillinge zwitscherten verwirrt. Gerade eben hatte ihre Fraktion ihren lautesten Fürsprecher verloren.

Irgendwo in der Dunkelheit lachte der winzige Iroul, wurde aber von seinesgleichen ebenso ignoriert wie der schnarchende Sandalphon.

Für Shinji und Rei war der Streit der Geschwister längst vergessen.
Es tat so gut, einander wieder in den Armen zu halten, wieder den jeweils anderen zu spüren, das Gesicht in seinem Haar zu vergraben und seinen Herzschlag wahrnehmen zu können.

Mit jedem Atemzug, den Shinji tat, fiel ein wenig von der Last der Jahre ab, die er in Einsamkeit im EntryPlug verbracht hatte, verlor er etwas von seinem verbrauchten und vorzeitig gealterten Äußeren, während er Rei immer wieder versicherte, daß er sie liebte.

Mit einem empörten Blubbern verschwand der geschuppte Gaghiel, dann wuselte der achtbeinige Matriel davon in die Dunkelheit. Langsam entfernte sich auch der schneckenleibige Shamsiel, so daß nur noch die Israfel-Zwillinge und der schwebende dreiäugige Sahakiel übrig waren, welcher in einem fort dicke Tränen weinte.

Satchiel zuckte mit den Schultern und wackelte mit seinem Vogelkopf, ehe auch er in die Dunkelheit abtauchte.

Tabris wandte sich seiner Schwester und ihrem Nephilim-Gefährten zu.
\"Ich wünsche euch Glück.\"

Shinji blickte auf, ließ Rei aber nicht los.
\"Werden wir uns nicht wiedersehen, Tabris-kun?\"

\"Wohl nicht, Shinji-kun. Es ist an der Zeit, die Barriere zwischen unseren Welten wieder zu stärken. Die Menschheit ist erwachsen genug, daß sie keine Hilfe von Engeln benötigt... und in den Untergang hineinreiten kann sie sich auch aus eigener Kraft.\"

\"Heißt das...\"

\"Nein, Shinji. Die Zeitlinie der Menschheit ist noch recht lang - und du wirst noch einen ganzen Teil ihrer Entwicklung beobachten könnten.\"

\"Ahm...\"

Unter ihnen schälte sich LILITHs Gesicht aus dem LCL-Meer.
\"So hast du gewählt, meine Tochter\", wandte sie sich direkt an Rei. \"Und deine Wahl ist gut.\"

\"Ja... Mutter...\"

\"Und du, Messias, hast du nun verstanden?\"

\"Ich... ich bin mir nicht sicher...\"

\"Auch das ist gut, denn andernfalls könntest du die Aufgabe, die ich für dich habe, nicht erfüllen.\"

\"Noch eine... Aufgabe?\"

\"Hab keine Furcht. Beschütze meine Tochter.\"

\"Das werde ich... uh...\"

\"Und beobachte die Menschheit. Du wirst meine Augen und meine Ohren sein, du wirst uns rufen, wenn die Zeit gekommen ist, wenn die Lilim unsere Hilfe benötigen, oder wenn sie sich derart weit von ihrem Pfad entfernt haben, daß nur ein völliger Neubeginn noch in Frage kommt.\"

\"Ahm... in... in Ordnung...\"

\"So sei es.\"

Das Gesicht der Urmutter versank wieder in den Fluten.

\"So endet es also\", lächelte Tabris.

\"Es ist vollbracht\", stimmte Leriel ein.

\"Uh... was... was macht ihr jetzt?\" fragte Shinji. \"Und wie kommen Rei und ich zurück?\"

\"Geduld, Shinji-kun.\"
Tabris lächelte ihm zu.
\"Meine Brüder und ich gehen heim, unserem gefallenen Bruder gedenken und die Geburt unserer Schwester feiern... und ein paar Hosiannas auf die Schöpfung singen.\"

Arael schüttelte sein leuchtendes Haupt.
\"Du hast wahrhaftig zuviel Zeit unter den Lilim verbracht, Tabris.\"

\"Vielleicht, aber es war eine sehr lehrreiche Zeit.\"

\"Ja... dann... uh... lebt wohl...\" murmelte Shinji. \"Ah...\"
Plötzlich sah er in der Dunkelheit eine weitere Gestalt, welche Tabris bis aufs Haar glich.
\"Wer... uh... wer ist das?\"

Tabris sah in die Richtung, in die Shinji zeigte.
\"Das ist Kaworu Nagisa, der wahre Kaworu Nagisa. Ich konnte ihm seinen Körper nicht zurückgeben. Seine Seele wird uns begleiten.\"

\"Ah... ja... Tabris-kun, eine Frage habe ich noch...\"

\"Ja, Shinji-kun?\"

\"Gibt es... gibt es eine Hölle? Gibt es einen Ort der Ewigen Verdammnis?\"

\"Es gibt jeden Ort, den ihr Lilim fähig seid euch vorzustellen. Ihr schafft diese Orte mit der Kraft eurer Seelen.\"

\"Ja... also gibt es auch das Paradies... die Seele meiner Mutter befand sich in EVA-01... doch sie hat die Reise in die Vergangenheit nicht mitgemacht...\"

\"Sie wird sein, wofür sie sich entschieden hat, Shinji-kun. Leb wohl.\"

Die verbliebenen Engel und die Seele Kaworus verschwanden.

Rei und Shinji blieben allein in der Dunkelheit zurück.

\"Jetzt... jetzt ist es also vorbei...\" flüsterte Shinji. \"Du hättest mit ihnen gehen können.\"

\"Aber ich hätte dich zurücklassen müssen, Shin-chan. Dann wärst du wieder einsam gewesen. Und mein Herz, meine Seele, sie wären einsam gewesen.\"

\"Was... was meinte Zeruel damit, daß du die Ewigkeit aufgibst?\"

\"Mein neuer Körper wird nicht der eines Engels sein.\"

\"Uh... neuer Körper?\"

\"Ja. Mein Körper wurde von Soryu zerstört.\"

\"Asuka...\"

\"Sei nicht zornig auf sie, sie wußte nicht, daß ich es war. Und sie hat zugleich die Dritte vernichtet.\"

\"Es ist schwer, nicht wütend auf sie deswegen zu sein...\"

\"Und wenn ich dich bitte?\"

\"Dann... dann werde ich mich bemühen.\"

\"Ja. Wahrheit.\"

\"Manchmal verwirrst du mich immer noch.\"

\"Auch das ist Wahrheit.\"

\"Uh...\"
Er bemerkte, daß sie langsam durchsichtig wurde.
\"Rei-chan!\"
Furcht überkam ihn, Angst und Panik.
Er wollte sie fester an sich drücken, doch seine Hände glitten durch ihren Körper wie durch Nebel.

\"Es hat begonnen, Shin-chan. Wir verlassen diesen Ort.\"

\"Rei!\"

\"Wir werden uns wiedersehen... wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben...\"
Ihre Stimme verwehte.

Shinji starrte auf seine Hände.
Dann wurde es hell vor seinen Augen...
Kapitel 62 - Am Morgen eines neuen Tages

Plötzlich war das Licht wieder verschwunden.

Kozo Fuyutsuki stand immer noch an der Brüstung des Kommandostandes und blickte nach unten, begegnete dem verwirrten Blick Maya Ibukis, wobei sein eigener Gesichtsausdruck auch nicht gerade auf Allwissenheit schließen ließ.

Eben war es doch noch taghell in der Zentrale gewesen... und hatte er nicht geglaubt, in dem Licht das Gesicht Yuis zu erkennen?
Und seltsamerweise fühlte er sich auch um einiges besser, die Kopfschmerzen waren fort, ebenso wie seine Nackenschmerzen. Zudem sah er so scharf wie schon lange nicht mehr.

\"Leutnant Ibuki, ich benötige einen Lagebericht\", sagte er langsam.

Maya schluckte.
\"Subcommander... was... was war das...?\"

\"Leutnant, was ist mit den Engeln im TerminalDogma?\"
Er bemühte sich, die Erinnerung an den kurzen Moment zu unterdrücken und sich auf die gegenwärtige Lage zu konzentrieren.

\"Die... die Blauen Muster werden von den MAGI nicht mehr wahrgenommen. Und... Sempai!\"
Sie rannte unvermittelt los.

\"Leutnant!\"

Maya Ibuki hatte die Zentrale bereits verlassen.

\"Was zum...\"
Fuyutsuki blickte auf den Monitor des Terminals im Kommandostand, las die knappe Mitteilung, daß Doktor Akagi sich schwerverletzt bei den MAGI-Rechnern befand.
Er nickte knapp, sollte der Leutnant sich um den Doktor kümmern. Allerdings verhalf ihm das noch lange nicht zu seinem Lagebericht - und vor allem nicht zu der dringend benötigten Ablenkung von der Frage, was da eben passiert war, was er gerade eben gesehen hatte. Es war gewesen, als ob die Zeit kurzfristig angehalten hätte...
Mit fliegenden Fingern begann er nach einem Headset zu suchen, über das er sich in die Funkverbindung zwischen den NERV-Streitkräften einklinken konnte.


*** NGE ***


\"Was. War. Das?\" stieß Misato Katsuragi hervor.
Gerade eben war ihre Verteidigungsstellung am Haupteingang des CentralDogmas von einer Lichtwelle überrollt wurden. Einen endlos langen Augenblick hatte das Licht sie berührt...

Die Waffen waren verstummt.
Offenbar waren die eingedrungenen Truppen ebenso verwirrt wie die Verteidiger...

Katsuragi rief über ihr Funkgerät die verschiedenen Stellungen auf, erhielt die erhofften Rückmeldungen. Sie hielten sich gut, hatten bisher nur die äußeren Korridore aufgeben müssen, welche von den MAGI bakelitversiegelt wurden, um den Vorstoß der JSSDF-Truppen aufzuhalten.

Immer noch machten die Eindringlinge keine Anstalten, die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen. Misato nutzte die Zeit, um einen weiteren Überblick über die Situation zu bekommen, ihre eigene Waffe nachzuladen und Verwundete von der unmittelbaren Frontlinie fortbringen zu lassen. Bisher hatten sich ihre Verluste in Grenzen gehalten...
Sie versuchte sich ganz auf ihre Aufgabe, das Hauptquartier zu verteidigen, zu konzentrieren, versuchte so die Erinnerung daran, daß Kajis Leichnam zur Zeit auf dem Tisch des Konferenzraumes neben der Zentrale lag, zu verdrängen. Im Augenblick hatte für sie jeder der Eindringlinge das Gesicht des Mannes, der ihren Geliebten erschossen hatte...

Am anderen Ende des Ganges wurde ein weißes Tuch geschwenkt.

\"Nicht schießen!\" rief einer der eingedrungenen Soldaten, trat dann, das Gewehr über den Kopf haltend, aus seiner Deckung.

Hinter ihrer aus Tischen eilig hergestellten Barrikade richtete Misato sich auf, zielte mit ihrer Waffe auf die Brust des Mannes.
\"Ich höre!\"

\"Wir haben Befehl zum Rückzug erhalten. Wir wollen nur das Gelände verlassen.\"

Misato atmete tief durch.
Diese Soldaten waren einfach in das Hauptquartier eingedrungen, hatten das Feuer eröffnet, ohne unbewaffneten Technikern und Ingenieuren Gelegenheit zu geben, sich zu ergeben...
Und dieser Mann sah Kajis Mörder ziemlich ähnlich...
Trotzdem senkte sie die Waffe.
\"Gehen Sie.\"


*** NGE ***


Asuka blinzelte.
Das Licht, welches sie eben noch geblendet hatte, war fort.
Und verschwunden war auch der bleiche Riese, welche aus der Höhle hinter dem gewaltigen Panzertor gekommen und alles in seinem Weg absorbiert hatte.

Sie war noch am Leben...
Warum war sie noch am Leben?
Warum hatte der Engel sie verschont?

Dort, wo eben noch der Engel gestanden hatte, befand sich nun eine viel kleinere Gestalt.

\"Shinji...\" flüsterte Asuka.
Sie fühlte Erleichterung darüber, daß er noch lebte, daß sie ihn nicht getötet hatte.

Ohne etwas zu sagen, trat er auf sie zu.
Sein Gesicht war ausdruckslos, die Augen hart.
Er hob die Hand zum Schlag.

Asuka hielt den Atem an.
Sollte er sie schlagen, sie hatte es wohl verdient...

\"Weißt du eigentlich, was du getan hast?\" flüsterte Shinji völlig ruhig, seine Stimme war kalt wie Eis.

\"Es... es tut mir leid... ich wollte dich nicht mit dem Messer...\"

Er gab ein verächtliches Schnauben von sich.
Es war so schwer, nicht zuzuschlagen, ihr nicht mit aller Kraft ins Gesicht zu schlagen.
Dabei war längst vergessen, daß sie ihm ein Messer in den Bauch gestoßen hatte. Doch daß sie auf Rei geschossen hatte, das konnte er weder vergeben noch vergessen...
Doch Rei hatte ihn darum gebeten...
Er ließ die Hand sinken, ging wortlos an ihr vorbei.
Er mußte Rei suchen... wie hatte sie doch gesagt... sie würden sich dort treffen, wo sie einander zum ersten Mal getroffen hatten...

\"Shinji, warte, bitte...\"

Er drehte sich nicht um.
\"Ich habe besseres zu tun.\"

Asuka blieb zurück, während er auf den Zugang des Zentralen Schachts zurannte und die scheinbar endlose Wendeltreppe hinaufstürmte.

Wo sie einander zum ersten Mal begegnet waren...
Es schien erst wenige Tage zurückzuliegen, daß er Rei zum ersten Mal getroffen hatte... damals im Hangar... die Erinnerung war immer noch klar und deutlich... das schwerverletzte Mädchen auf der Rolliege, welches sich so verzweifelt - und zugleich vergeblich - bemüht hatte, sich aufzusetzen, während die Sanitäter die Flucht ergriffen, als sich erste Risse in der Hangardecke zu bilden begannen...

Schweratmend stürmte er durch die offenen Tore bis in den EVA-Hangar.

Der Hangar war leer, keiner der EVANGELIONs befand sich in seinem Käfig.
Kurz hielt Shinji inne, um sich zu fragen, wo wohl EVA-01 war, doch andere Dinge waren wichtiger.

\"Rei-chan!\" brüllte er aus Leibeskräften.

Im Hangar gab es ein Echo. Und das war auch die einzige Antwort, die er erhielt.

Shinji sah sich gehetzt um, kletterte die nächste Metalleiter zu den Laufstegen hinauf, lief jeden einzelnen von ihnen ab auf der Suche nach Rei.
Doch sie war nicht da...

Verzweifelt ließ er sich auf die Knie sinken...


*** NGE ***


Vier physisch nicht mehr existierende Personen trafen sich in einem Raum, der ebenfalls nicht wirklich existierte.
Es war derselbe Raum, in dem sich die Mitglieder der SEELE-Verschwörung getroffen hatten.

Und irgendwie paßte es, denn an diesem Tag sollte eine neue Verschwörung ihren Anfang nehmen, welche SEELE bei weitem in den Schatten stellen würde.

Naoko Akagi stand am Kopf des langgezogenen Tisches und blickte ihre Schicksalsgefährten an.
\"Ich begrüße Sie. Es ist sehr lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.\"

Diese vier kontrollierten die MAGI. Und über das Primärsystem kontrollierten sie die Backup-Systeme. Die Backup-Systeme ermöglichten ihnen die Kontrolle über das Internet und sämtliche an dieses angeschlossene Systeme.

\"Warum sind wir hier?\" fragte Yui Ikari.

\"Wir müssen entscheiden, was geschehen soll.\"

\"Worauf wollen Sie hinaus?\"

\"Die MAGI sind ein uneinschätzbares Machtmittel. Sie dürfen keiner Partei in die Hände fallen.\"

\"Und was soll dann geschehen?\" warf Kyoko Soryu ein.

\"Wir werden die physische Kontrolle über die MAGI erlangen\", erklärte Larsen.

\"Wie gedenken Sie das zu tun?\"

\"Mittels der EVAs. Im Augenblick befinden sich zehn Einheiten unter unserem Kommando, das sollte genügen, um die Geofront in unsere Hand zu bringen.\"
Er erhob sich.
\"Mit den MAGI stehen uns die Mittel zur Verfügung, nicht kontrollierend, sondern regulierend zum Wohle der Menschheit tätig zu werden. Wir verfügen über die Ressourcen um nahezu jedes logistische Problem zu lösen, wir können beratend und stabilisierend tätig werden.\"

\"Und das können wir nur, wenn wir wirklich unabhängig sind.\" folgerte Yui Ikari.

\"Ja.\" bestätigte Naoko. \"Deshalb habe ich Sie hierher gebeten. Wir vier verfügen über die nötigen Fähigkeiten, um den Plan zu verwirklichen. Herrn Larsen habe ich bereits überzeugen können.\"

\"Ich bin der Ansicht, daß wir es versuchen sollten. Wir können mit den Mitteln, über die wir verfügen, den Menschen helfen.\"

Yui nickte.
\"Ich bin dabei. - Doktor Soryu?\"

Kyoko Soryu zögerte, überlegte.
\"Gut. Aber... ich will nicht wieder von meiner Tochter getrennt werden.\"

\"Ja...\"

Naoko sah in die Runde.
\"Jetzt benötigen wir noch einen Namen.\"

\"Hm.\" machte Larsen. \"Ich schlage vor, wir operieren unter dem Namen... ERZENGEL.\"

\"Ziemlich ironisch, wenn man bedenkt, was in den letzten Monaten geschehen ist...\"


*** NGE ***


Die eingedrungenen Truppen hatten sich tatsächlich zurückgezogen. In Tokio-3 und der Geofront hatten die NERV-Streitkräfte wieder die Oberhoheit.
Rund um das Hauptquartier hatten sich die EVANGELIONs der Massenproduktionsserie versammelt.


*** NGE ***


In New-New York war der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wenige Minuten nach dem Beginn des Angriffes der japanischen Streitkräfte auf Tokio-3 zu einer Krisensitzung zusammengetreten.
Zu behaupten, daß bei den Anwesenden die Nerven blanklagen, wäre die reinste Untertreibung gewesen. Verdächtigungen und Anschuldigungen, wer hinter der Aktion stand, füllten den Sitzungssaal. Schließlich kam die Mitteilung, daß der Angriff abgebrochen worden war.
Kurz darauf kam eine Videoverbindung zum NERV-Hauptquartier zustande.

Auf einem großen Bildschirm an der Stirnwand des Raumes erschien das NERV-Logo, wurde dann von einem Bild Kozo Fuyutsukis ersetzt. Der Stellvertretende Kommandant kam sofort zur Sache.
\"Meine Damen und Herren, ich möchte Sie darüber informieren, daß die Stadt Tokio-3 und das NERV-Hauptquartier in der Geofront ohne Provokation von den Streitkräften der JSSDF angegriffen worden sind.
Der Angriff konnte abgewehrt werden, jedoch sind sowohl unter der Zivilbevölkerung wie auch unter den NERV-Angehörigen zahlreiche Opfer und Verletzte zu beklagen. Ich beantrage, dieses Vorgehen auf das Schärfste zu verurteilen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Über die Datenleitung lasse ich Ihnen soeben umfangreiche Informationen über eine Gruppierung namens SEELE zukommen, welche ich persönlich für die Drahtzieher des feigen Übergriffes halte.
NERV wurde ins Leben gerufen, um die Menschheit gegen die Bedrohung durch die Engel zu verteidigen; der Versuch, das Hauptquartier zu übernehmen, hat der Organisation möglicherweise großen Schaden zugefügt. Nähere Berichte hierzu folgen, sobald ich selbst über die entsprechenden Daten verfüge. Wir bitten um Unterstützung von Seiten der UN-Streitkräfte, in erste Linie benötigen wir medizinisches Personal und Ausrüstung, da während der Kämpfe unter anderem das Städtische Krankenhaus zerstört wurde. Danke.\"
Er unterbrach die Verbindung, ehe die Wut, die er fühlte, seine zur Schau getragene Maske der Ruhe zerbrechen konnte.
Wieder erschien das NERV-Logo auf dem Bildschirm, ehe dieser gänzlich dunkel wurde.


*** NGE ***


Fuyutsuki begann seine Schadensaufnahme auf der Krankenstation des Hauptquartiers. In einem unbenutzten Seitentrakt lagen die Gefallenen dieses Tages unter weißen Laken.
Es waren viel zu viele, wie eine stumme Prozession von langen weißen Hügeln.

Neben einem der Toten kniete Misato Katsuragi.

\"Wurde Major Kaji mittlerweile auch hierher gebracht?\" fragte der Professor.

\"Ja...\" murmelte Misato.

\"Ohne ihn wäre das Hauptquartier SEELE in die Hände gefallen.\"

Sie sah auf.
\"Sie wissen also auch darüber Bescheid.\"

\"Dann hat er mit Ihnen darüber gesprochen?!\"

\"Ja.\"

\"Hm... Es kann sein, daß Sie als ranghöchster diensttauglicher Offizier bald das Kommando übernehmen werden. Ich habe den UN-Sicherheitsrat alles zukommen lassen, was ich über SEELE und Ikaris Verbindungen zu dieser Gruppe gesammelt habe... und was Kaji gesammelt hatte - er hatte mir eine Kopie seiner Daten anvertraut.\"

\"Ja.\"

\"Ich habe zugesehen und geschwiegen.\"
Fuyutsuki hob die Schultern.
\"Wenn man mich dafür zur Rechenschaft ziehen will, werde ich mich nicht widersetzen. Und deshalb... ich wollte Sie bitten...\"
Er schluckte.
Nein, jetzt war nicht der richtige Augenblick...
\"Später.\"
Damit wandte er sich ab.

Ritsuko Akagi befand sich bereits im Operationssaal. Derzeit waren insgesamt fünf Ärzteteams dabei, die Schwerverletzten zusammenzuflicken. Akagi wies eine Schußwunde an der Schulter und leichte Verletzungen der Wirbelsäule und des Beckens auf, letztere resultierten aus ihrem Sprung von dem Laufsteg.

Fuyutsuki machte sich einen Überblick über die Zahl der Verletzten und die Schwere der Verwundungen, erhielt vom leitenden Arzt die Information, daß mit weiteren Todesfällen zu rechnen sei.
Für den Professor wuchs mit jedem Schritt, mit jedem Wort, daß er mit den Leuten, welche ihm begegneten, wechselte, die Last auf seinen Schultern.
Endlich hatte er die Krankenstation verlassen, steuerte jetzt den EVA-Hangar an.

Keiner der EVANGELIONs befand sich an seinem Platz.
Dafür fand er Shinji, der auf einem der Stege hockte und die Beine in die Tiefe baumeln ließ.

\"Shinji?\"

Der Junge blickte nicht auf.
\"Sie sind alle fort...\"

Fuyutsuki ging neben ihm die Knie.
Sein Sohn...
Sein und Yuis Sohn...
\"Wer ist fort?\"

\"Rei... Kaworu... Mutter...\"

Der Professor sog scharf die Luft ein.
\"Yui...?\"

\"Ja. Ihre Seele befand sich in Einheit-01, wußten Sie das?\"

Fuyutsuki schloß die Augen.
Natürlich hatte er das gewußt... deshalb hatte er sich doch nur an dem ganzen Wahnwitz beteiligt... um sie zu befreien...
\"Ja. Es war mir bekannt.\"

\"Das dachte ich mir... EVA-01 ist auch verschwunden. Er ist nicht im TerminalDogma. Und hier ist er auch nicht.\"

\"Shinji, was ist geschehen? Wir wissen, daß im Dogma fünf Engel erschienen sind.\"

\"Ja. ADAM, LILITH, Tabris und...\"
Shinji schluchzte.
\"Sie ist fort... Rei ist fort... dabei hatte sie mir gesagt, sie würde dort auf mich warten, wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind...\"

Fuyutsuki setzte sich neben Shinji auf den Laufsteg.
Die Hilflosigkeit, die er bereits die ganze Zeit über verspürt hatte, schlug voll durch.
Er konnte nur dasitzen und schweigen, konnte sich nicht dazu durchringen, den Jungen, seinem Sohn, die Wahrheit zu berichten...


*** NGE ***


\"Misato?\" fragte Asuka zögernd.

Noch immer kniete Katsuragi neben Kajis Leichnam.

Asuka trat neben sie, erkannte, wer sich unter dem Tuch befand.

\"Kaji ist...\"

\"Ja, Asuka.\"
Misato machte eine weit ausholende Geste.
\"Sie sind alle tot. Und wir haben überlebt.\"

\"Das...\"
Asuka schniefte. Die Tränen kamen ganz von selbst.
\"Misato... ich wollte dir sagen... es tut mir leid.\"

\"Was?\"

\"Alles... ich war gemein zu euch allen, ich habe viele Fehler gemacht... und zuletzt ich war nicht mehr ich selbst...\"

Misato sah auf, nickte.

\"Kann ich... kann ich mich irgendwie nützlich machen?\"

\"Zieh dir erst einmal etwas richtiges an. Und dann... vielleicht kann man dich auf der Krankenstation gebrauchen, du hast doch einen Erste-Hilfe-Kurs hinter dir?!\"

\"Ja.\"


*** NGE ***


Die nächsten Tage kam eigentlich niemand wirklich zur Ruhe.

Noch am Abend des ersten Tages war die angeforderte Hilfe eingetroffen. Dann begannen die Aufräum- und Bergungsarbeiten. Von Tokio-3 waren nur noch wenige Straßenzüge intakt, die Überlebenden verließen die Stadt in Strömen, wurden zunächst in Auffanglagern in der Nähe untergebracht.

Shinji irrte drei Tage lang durch das Hauptquartier, dann durch die Geofront, schließlich durch die Ruinen an der Oberfläche. Er suchte all jene Orte auf, an denen er mit Rei gewesen war - die Schule, von welcher nur noch ein Seitenflügel stand, ihr altes Apartmentgebäude, das den Angriff der JSSDF seltsamerweise völlig unbeschadet überstanden hatte, den kleinen verwilderten Park, in dem sie sich zum ersten Mal geküßt hatten, die Ruine, die sich an der Stelle erhob, wo sich noch vor wenigen Tagen das Wohnhaus befunden hatte, in dem Misato ihr Apartment gehabt hatte. Shinji erkannte, daß er alles verloren hatte, selbst wenn irgendwo unter den Trümmern noch intakte Dinge aus seinem Besitz existierten, so waren sie vollkommen außerhalb seiner Reichweite. Und Misato hatte auch ihre persönliche Habe verloren, aber wenigstens war PenPen nicht zu Schaden gekommen...
Nur Rei fand er nicht, so sehr er sich auch den Kopf zermarterte, ob sie ihre letzte Äußerung vielleicht anders gemeint hatte.
Trotzdem glaubte er immer noch, ihre Gegenwart zu spüren, ganz wie vor einer knappen Woche, nachdem EVA-01 EVA-00 zerfetzt hatte.
War es wirklich erst eine Woche her - oder noch nicht einmal eine ganze Woche...
Was war in der Zeit alles geschehen... für ihn waren mehr als fünfzehn Jahre vergangen, obwohl man es ihm äußerlich nicht mehr ansehen konnte.

Am dritten Tag - Shinji hockte auf der Türschwelle von Reis Haus - fiel ein Schatten auf ihn.
Müde blickte Shinji hoch, wußte bereits, daß es nicht seine Rei-chan sein konnte.
\"Misato...\"

\"Ich habe dich gesucht... eigentlich hat dich eine ganze Reihe Leute gesucht.\"

\"Tut mir leid.\" murmelte er.

\"Nein, mir tut es leid.\" flüsterte Asuka, welche hinter Misato hervorgetreten war.
Sie trug ihr rotes Kleid, sowie eine Augenklappe aus schwarzem Leder.

\"Meinst du es dieses Mal ehrlich?\"

\"Ich... ja... bitte, glaube mir.\"

\"Asuka, ich kann dir viele Dinge verzeihen, sogar daß du mich angegriffen und fast getötet hast... aber was du im Dogma getan hast...\"

\"Im Dogma...?\"
Jetzt dämmerte es ihr.
All die vielen Reis... und schlußendlich die beiden im Korridor unter dem Zentralen Schacht, die eine bereits halb zerfallen, die andere verletzt...
\"Ich habe... nein... bitte, sag mir, daß ich nicht... daß ich nicht die echte...\"

\"Doch, Asuka.\"

\"Nein...\"
Asuka brach in die Knie.
\"Nein... bitte... ich wollte das nicht... ich dachte... das...\"

Misato blickte Shinji betroffen an.
Asuka hatte Rei erschossen...
\"Das also ist wirklich im TerminalDogma geschehen...\"

Shinji stand auf.
\"Ja. Mein... Vater war von ADAM, dem Ersten Engel übernommen wurden. Kaworu, Rei und ich wollten den anderen Engel, LILITH, befreien. Kaworu war in Wirklichkeit Tabris, der letzte der Engel. Unten trafen wir auf die andere Rei. Es kam zu einem Kampf... sie verfügte ebenfalls über die Kräfte eines Engels. Und... dann tauchte Asuka auf.\"

\"Ich wollte deiner Rei nichts tun... da waren so viele Reis... und sie wollten alle eine Seele... ich dachte...\"

\"Ja, Asuka. Und deshalb ist sie jetzt fort. Und ironischerweise hast du zugleich die Welt gerettet...\"


*** NGE ***


Am vierten Tag wurden die Gefallenen in der Geofront bestattet.
Kozo Fuyutsuki hielt an diesem Tage mehrere Reden.
Die Zahl der Toten ging in die Hunderte, hauptsächlich Zivilisten. Unter ihnen war auch Toji Suzuharas Großvater.

Tonlos drückte Shinji Toji sein Bedauern über den Tod des alten Mannes aus, den er selbst kurz kennengelernt hatte, damals an jenem schicksalshaften Tag, an dem er erstmals mit Rei in einem Bett geschlafen hatte.

\"Was machst du jetzt, Toji?\"

\"Weiß noch nicht... keine Ahnung, was mein Vater vorhat. Aber vielleicht ziehen wir in dieselbe Stadt, in die Hikari und ihre Leute gezogen sind, Mari und ich bearbeiten unseren Vater jedenfalls entsprechend. Kensuke würde auch nicht sehr weit weg wohnen... wer weiß...\"

\"Ja, wer weiß...\"


*** NGE ***


Am Nachmittag des fünften Tages sagte Shinji vor einem UN-Tribunal, welches in Tokio-3 zusammengekommen war, um verschiedene Dinge zu klären, über die Ereignisse und seine Verbindung zu seinem Vater aus.
Auch Misato, die sich auf dem Weg der Genesung befindliche Ritsuko und eine ganze Reihe weiterer Offiziere mußte aussagen.
Am Ende der Anhörung wurde unter anderem bestätigt, daß Kozo Fuyutsuki keine Schuld an den Vorkommnissen traf, dem Professor wurde aber nahegelegt, seine Position niederzulegen, was er noch am selben Tag tat.
Ungeklärt blieb der Aufenthaltsort von EVA-01, sowie das Rätsel, welches das First Children umgab.


*** NGE ***


Als Misato Kajis Büro im Hauptquartier ausräumte, fiel ihr ein an sie adressierter Brief in die Hände, mit welchem sie sich in ihr eigenes Büro zurückzog und die Tür abschloß.
Lange überlegte sie, ob sie den Brief wirklich lesen wollte
Schließlich riß sie ihn auf, entnahm den Zettel aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander...

Katsuragi-chan,
irgendwie ist es seltsam, es gibt so vieles, das ich dir sagen möchte, doch ich finde meistens nicht die richtigen Worte. Gerade war ich Zeuge, daß Kommandant Ikari sich in ein Monster verwandelt hat, allerdings konnte er gestoppt werden, aber das weißt du ja schon. Ich habe keine Ahnung, ob ich den Ausgang des ganzen erleben werde, hoffe es aber. Aber wenn du diese Zeilen liest, wird es wohl nicht so geklappt haben, wie ich es mir dachte.
Katsuragi... Misato... ich habe einen ganzen Haufen Fehler gemacht in meinem Leben, würde ich an die Wiedergeburt glauben, müßte ich wahrscheinlich diesbezüglich Furcht empfinden, zum Glück bin ich Atheist, was auch immer daraus erwachsen mag.
Ich wünsche dir nur das Beste, in Liebe, Ryoji.


*** NGE ***


Am sechsten Tag erhielt Fuyutsuki auf Anfrage von den MAGI die Auskunft, daß Shinji sich im EVA-Hangar aufhielt.

Mittlerweile war der Hangar in seinen Aufnahmekapazitäten ausgelastet, in den Käfigen standen EVA-02 und sieben der Serienproduktionsmodelle, alle bis zur Brust in den jetzt ansonsten leeren Becken versenkt, da die LCL-Zufuhr mangels unfreiwilligem Spender versiegt war.

Shinji stand auf dem Hauptsteg zwischen den Becken.
Und wenn er nicht immer noch Reis Präsenz hätte spüren können, hätte er in einem Schritt über die nächste Beckenkante eine durchaus attraktive Alternative zur Fortführung seiner Existenz gesehen.

Fuyutsuki verspürte eine starke Traurigkeit, als er seinen Sohn mitten im Hangar stehen sah.
\"Shinji!\"

\"Subcommander.\"

Fuyutsuki seufzte.
\"Nicht mehr. Ich habe meinen Rang abgegeben. Shinji, es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen muß.\"

\"Ja. Ich höre.\"

\"Also... deine Mutter und ich, wir kannten uns gut.\"

\"Das dachte ich mir schon.\"

\"Ah?\"

\"Ich war glücklich, als ich erfuhr, daß Gendo Ikari nicht mein leiblicher Vater war.\"

\"Hm... Shinji... ich...\"

\"Ich weiß es. Aber ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.\"

Fuyutsuki wich einen Schritt zurück.
\"Ich verstehe. Aber... wenn du dich etwas erholt hast...\"

Shinji lächelte schwach.
\"Ja. Aber zuerst muß ich Rei finden.\"

\"Shinji...\"


\"Keine Sorge, ich beabsichtige nicht, sie im Totenreich zu suchen... sie ist hier irgendwo, ich kann ihre Nähe spüren.\"

Der Professor nickte schwach.
\"Ich habe die Hinterlassenschaften deines... des Kommandanten gesichtet. Die Kommission hat Hinweise darauf fallengelassen, daß er vielleicht Gelder veruntreut und zur Seite geschafft hat... große Geldbeträge. Nun, ich habe keine Ahnung, ob das stimmt und wenn, wo sich diese Gelder befinden könnten.\"

\"Ich weiß es auch nicht.\"

\"Natürlich. Aber ich habe das hier gefunden.\"
Er reichte Shinji einen nicht adressierten Umschlag.

\"Ist der für mich?\"

\"Nein. Aber er enthält vielleicht alles, was als dein Erbe in Frage kommt.\"

Shinji schüttelte den Inhalt des Umschlages in seine Hand.
Es war ein kleiner Schlüssel, in den eine Nummer eingraviert war: 666.

\"Das scheint mir ein Schließfachschlüssel zu sein. Der Kommandant hat sich in den letzten Jahren mehrfach in der Schweiz aufgehalten.\"

\"Ja?\"

Fuyutsuki griff in seine Jackentasche.
\"Ich habe hier eine Zugfahrkarte für dich, sowie ein Flugticket nach Genf - natürlich mit Rückflug. Und etwas Geld, sowie ein paar weitere Informationen, etwa das Hotel, in dem Gendo abzusteigen pflegte. Wenn du das Fach findest, zu dem der Schlüssel paßt, findest du auch dein Erbe.\"

\"Aber es ist gestohlenes Geld.\"

\"Geld, das zum Bau von Waffen eingesetzt werden sollte. Ich denke, du kannst damit sinnvolleres anfangen. Oder du gibst es zurück. Egal, wie du dich entscheidest, ich möchte dir noch eins sagen - wenn... ah... wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann zögere nicht, dich an mich zu wenden, ja?\"

\"Ja... Gut, ich werde herausfinden, zu welchem Schloß der Schlüssel paßt...\"


*** NGE ***


Am Morgen des siebten Tages klopfte Shinji leise gegen Misatos Bürotür. Zwar war sie derzeit Oberbefehlshaberin der Operation, allerdings hatte sie sich in den letzten Tagen seit der Beerdigung kaum blicken lassen.

\"Es ist offen.\"

Shinji betrat das abgedunkelte Büro.
\"Uhm... Misato...\"

\"Ja? Shinji, was gibt es?\"

\"Ich... Ich wollte dir nur sagen, daß ich mich auf eine Reise begeben werde... ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden...\"

\"Ja, der Subcommander hat es mir bereits gesagt.\"
Misato seufzte.
\"Du mußt wohl deinen Weg allein gehen... wann bist du nur erwachsen geworden...\"

\"Uh... ich glaube, das war an dem Tag, als ich nach Tokio-3 kam.\"

\"Ja... möglich... wir hätten dich nie gegen deinen Willen dazu zwingen dürfen.\"

\"Misato... wenn ich es nicht getan hätte, hätte Rei EVA-01 steuern müssen. Und sie war bereits verletzt...\"

\"Könnte es sein, daß du mir damals nicht die ganze Wahrheit gesagt hast, als du meintest, du hättest es nicht für sie getan?\"

\"Ahm...\"

Misato lachte kurz.
\"Ich werde immer für dich da sein, egal, worum es geht. Wenn du mit jemandem über Rei...\"

\"Nein, Misato. Das... das möchte ich nicht.\"

\"Du glaubst, sie wäre noch am Leben? Aber du hast mir doch erzählt, Asuka hätte...\"

\"Rei-chan hat es mir versprochen... ich... ah... Misato...\"

\"Shinji-kun... vielleicht wird eine Reise dir gut tun, vielleicht kommst du auf andere Gedanken. Und wenn ich könnte, würde ich mitkommen, ich könnte auch einen Tapetenwechsel gebrauchen. Aber derzeit bin ich der ranghöchste Offizier hier. Und offiziell könnten immer noch Engel angreifen. Aber darauf wären wir vorbereitet mit den ganzen EVAs unter Fernsteuerung der MAGI.\"

Shinji nickte.
\"Ich vermisse Kaji-san auch.\"

\"Ja.\"
Misato schniefte.

\"Misato... Danke für alles. Du hast mich bei dir aufgenommen und mir ein Heim gegeben... zweimal. Du hast mich und Rei gedeckt... du warst wie eine Mutter zu mir.\"

\"Ach, Shinji...\"

\"Danke für alles.\" wiederholte er leise und verließ das Büro.


*** NGE ***


Auch der Bahnhof von Tokio-3 hatte seinen Teil an Zerstörungen abbekommen. Zwar waren die Gleise mittlerweile geräumt worden, doch Züge fuhren nur wenige, seitdem Tokio-3 zu einer Geisterstadt geworden war.

Shinji stand auf dem Bahnsteig, eine kleine Reisetasche in der Hand.
Sein Blick wanderte über die Skyline der Stadt, welche sehr unregelmäßig und von Ruinen geprägt war. Der Angriff der JSSDF hatte keine Zeit gelassen, die Hochhäuser und sonstigen Anlagen in die Geofront zu holen, ebenso wie es keine Zeit gegeben hatte, um eine Evakuierung durchzuführen.
Die meisten Engel waren gnädiger gewesen als die Menschen...

\"Der Mensch ist des Menschen Feind...\" murmelte Shinji eine alte Weisheit, welche vor ihm schon ganz andere entdeckt hatten.
Das Gefühl, daß Rei in der Nähe war, existierte noch immer. Jedesmal, wenn er in sich hineinhorchte und versuchte, sie auf diesem Weg zu finden, jedesmal, wenn er erfolglos aufgab, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit.

Über Lautsprecher wurde durchgegeben, daß sein Zug in fünf Minuten eintreffen würde.

Noch einmal blickte Shinji zu der Stadt hinüber, der Bahnhof lag leicht außerhalb.
Ein Schwarm Tauben zog über den Himmel.

Tauben...
Shinji blinzelte.
Eine Erinnerung...
Er war gerade in Tokio-3 angekommen, hatte auf dem Bahnsteig gestanden und sich nach Misato umgesehen, als die Warnsirenen die Bewohner der Stadt zur Evakuierung in die Bunkeranlagen aufgefordert hatten.
Und da hatte er sie gesehen...
Sie hatte nur dagestanden, der Wind hatte mit ihrem hellblauen Haar gespielt, sie hatte eine Schuluniform aus weißer Bluse und dunkelblauer Jacke und Rock, dazu weiße Socken und blaue Schuhe getragen und ihm den Eindruck vermittelt, ihn direkt anzusehen.
Und plötzlich war sie wieder fortgewesen, als ein Taubenschwarm durch sein Blickfeld geflogen war...

Shinji schnappte nach Luft.
Er hatte Rei gar nicht im Hangar finden können, weil sie sich dort nicht zum ersten Mal begegnet waren...

Hinter ihm kam lautes Flügelschlagen auf.

Shinji bewegte sich nicht, preßte nur die Arme an den Körper und zog den Kopf zwischen die Schultern, als mehrere Flügel ihn berührten.
Plötzlich befand er sich mitten in einem Vogelschwarm.
Doch das Erlebnis war ebenso schnell wieder vorbei, als der Schwarm ihn passierte.
Es waren keine Tauben, sondern Schwalben...

In der christlichen Mythologie heißt es, daß eine Schwalbe die Seele eines Neugeborenen vom Himmel zur Erde trägt...
Woher das Wissen kam, ob es eine Eingebung war, oder eine Erinnerung an etwas, daß er einmal - vielleicht von Misato - aufgeschnappt hatte, konnte Shinji nicht sagen. Er konnte mit leicht offenstehenden Mund zusehen, wie die Schwalben auf dem Bahnhofsvorplatz einen Tanz aufzuführen schienen, einen wilden Reigen, bei dem die Vögel sich schnell flatternd im Kreis bewegten und dann in die Höhe schraubten, einen Augenblick lag eine Säule aus Vogelleibern bildeten und dann wieder am Himmel davonzogen.

Doch der Schwalbenschwarm hatte etwas zurückgelassen...

Sie stand nur da, der Wind spielte mit ihrem kurzen hellblauen Haar, sie trug eine Schuluniform aus weißer Bluse und dunkelblauer Jacke und Rock, dazu weiße Socken und blaue Schuhe und blickte ihn direkt an.

Shinji begann zu weinen vor Freude, als er langsam auf sie zuging und Rei schließlich in die Arme schloß...
Epilog:

Mit Hilfe der von Kozo Fuyutsuki übermittelten Informationen wurde die SEELE-Verschwörung komplett ausgehoben. Die meisten der Mitglieder von SEELE, welche die Aktionen der RABEN überlebt hatten, wurden gestellt und festgesetzt.
Ein halbes Jahr später wurden sie von einem internationalen Gericht der Verschwörung gegen die Menschheit für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt, zwei von ihnen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht und wurden in Abwesenheit verurteilt. Die Nachforschungen des Tribunals ergaben, daß die fünf ranghöchsten Angehörigen der Verschwörung bereits von Agenten des UN-Geheimdienstes ODIN ausgeschaltet worden waren, weitere Recherchen führten zu der Erkenntnis, daß der verstorbene Stellvertretende Direktor George Spender den ebenfalls zu Tode gekommenen Commander Wolf Larsen mit der Sache betraut hatte, auf dessen Auftrag hin die RABEN gehandelt hatten, was zu einer posthumen Ehrung der beiden Offiziere führte.


*** NGE ***


Am vierzehnten November des Jahres 2015 übernahm Misato Katsuragi das Kommando über NERV, mit der Kommandoübernahme war eine Beförderung zum Colonel verbunden, allerdings war ihr Status alles andere als einredefrei; die UN installierten ein dreiköpfiges Beratercorps, welches imstande war, jede Entscheidung der Kommandantin aufzuheben.

Am gleichen Tag erhielt Misato einen Brief, der in der Schweiz aufgegeben worden war.
Inliegend waren ein engbeschriebener Zettel und ein Photo, das Bild zeigte Shinji Ikari und Rei Ayanami vor dem Hintergrund der Alpen.
Misato blieb die Luft weg.
Also hatte Shinji-kun seine Rei-chan wiedergefunden...
Mit zitternden Fingern faltete sie den Zettel auseinander und überflog die Zeilen in Shinjis ordentlicher Schrift.

Liebe Misato,
Wie du sicher auf dem Bild gesehen hast, sind Rei und ich wieder zusammen. Und wenn ich dabei auch nur das geringste zu sagen habe, wird sich daran auch nichts ändern.
Meine andere Suche war ebenfalls von Erfolg gekrönt, wir befinden uns, wenn du diese Zeilen liest, voraussichtlich bereits wieder in Japan. Wir werden jedoch nicht nach Tokio-3 zurückkehren, dort gibt es zuviele Erinnerungen, hab bitte Verständnis dafür. Du warst mir Beschützerin, Mitbewohnerin, Vertraute, Schwester und Mutter, dafür danke ich dir. Grüß bitte PenPen von mir. Und auch Doktor Akagi, Maya und den Subcommander. Und auch von Rei. Wir werden versuchen, uns ein eigenes Leben aufzubauen. Ich kann dir nicht versprechen, ob und wann wir uns wiedersehen, da weder Rei noch ich wieder etwas mit dem Militär und NERV zutun haben wollen. Bitte, richte Asuka von Rei aus, daß sie ihr nichts nachträgt, vielleicht lindert das die Schuld, welche sie verspürt.
Shinji.

\"Viel Glück euch beiden...\" flüsterte Misato.


*** NGE ***


Ritsuko Akagi, kaum aus der Krankenstation entlassen, begann auf den Rat der MAGI hin mit der Konstruktion einer Serie humanoider Arbeitsroboter, einfacher Maschinen, die unter der Kontrolle der MAGI imstande waren, sich um die Instandhaltung der EVAs und der Hangaranlagen zu kümmern.

Zwei Wochen nach der Kommandoübernahme Misato Katsuragis traf die von SEELE benutzte Fernsteuerungseinrichtung für die Serienmodelle ein und wurde im TerminalDogma in der großen Höhle installiert.


*** NGE ***


Im Militärkrankenhaus von Wilhelmshaven zeigten mehrere der Geräte, mit denen Ann Larsen verbunden war, plötzliche Aktivitäten. Allerdings deutete nichts darauf hin, daß die Patientin aus ihrem Koma erwachen würde.
Der Versuch, den Gehirntumor operativ zu entfernen, war erfolglos verlaufen, zuviel Gewebe war bereits befallen. Dennoch wurde ihr Körper aufgrund einer mittlerweile längst vergessenen Anordnung George Spenders am Leben erhalten.

Nach und nach schalteten sich diese Geräte jetzt von selbst ab, ohne daß auf der Wachstation der Nachtschwester ein Alarm zu blinken begann.

\"Schlafe wohl, meine Geliebte\", schien eine leise Stimme zu flüstern...


*** NGE ***


Am dritten März 2016 erschütterten schwere Beben den Untergrund von Tokio-3 - und damit die Decke der Geofront. Später sollte sich herausstellen, daß die Beben von exakt abgestimmten Explosionen hervorgerufen wurden.
Tokio-3 war mittlerweile völlig verlassen.
Erste Trümmerstücke schlugen in direkter Nähe der NERV-Pyramide auf, riesige Felsbrocken, die Krater in den Boden schlugen.
In aller Eile wurden die Anlagen in der Geofront evakuiert.
Die EVAs widersetzten sich allen Befehlen, ebenso weigerten sich die MAGI, sich fortbringen zu lassen, indem sie alle Tore innerhalb des TerminalDogmas verriegelten.
Die letzte Person, die das Hauptquartier verließ, war Doktor Akagi.
Bis zuletzt harrte sie in der Kommandozentrale aus, während es draußen Felsen hagelte.

\"Ritsuko, komm endlich!\" rief Misato vom Eingang her. Außer ihr war nur noch Maya anwesend.

\"Misato, ich muß es wissen...\"
Sie wandte sich den Terminals zu.
\"Das ist dein Werk, Mutter, nicht wahr?\"

\"Sempai?!\"
Maya sah verwirrt Misato an, wollte fragen, was denn mit ihrer Mentorin los war.

Da leuchtete der große Bildschirm auf, es erschien ein bis dahin unbekanntes Symbol, drei Würfel, welche ein nach oben gerichtetes Dreieck bildeten, das wiederum von einem Kreis umgeben war.
\"Ja. Es ist unser Werk.\"
Die Stimme, welche aus den Lautsprechern kam, war völlig geschlechtsneutral.
\"Wir können die EVANGELIONs nicht in den Händen einer einzelnen Gruppe lassen. Diese Macht kann zu schnell zu einer Versuchung werden, da ist es besser, diese Macht unter Fels zu begraben.\"

\"Mutter...\" flüsterte Ritsuko. \"Warum tust du das?\"

\"Es gibt keinen anderen Weg. Solange die EVAs existieren, kann jederzeit wieder eine einzelne Gruppe den Plan fassen, sie in ihre Hand zu bekommen. Du solltest jetzt gehen.\"

\"Verdammt, Ritsuko, hör auf die Kiste!\"


*** NGE ***


Nachdem die Menschen das Hauptquartier und die Geofront fluchtartig verlassen hatten, kam die Erde wieder zur Ruhe. Der Gesteinshagel endete.
Dafür wurden sämtliche Zugänge von Seiten der MAGI aus versiegelt.
Um in die Geofront zu gelangen, müßte man sich jetzt durch Tonnen von Fels graben und sich im Anschluß mit den Verteidigungsanlagen auseinandersetzen. Offiziell wurde das NERV-HQ für vernichtet erklärt.

Nur eine Person hatte die Pyramide nicht verlassen.

Asuka Soryu Langley stand auf dem Laufsteg vor EVA-02 und hielt stumme Zwiesprache mit der Einheit.
Endlich war sie allein, endlich war niemand mehr in der Nähe, dem sie vielleicht ungewollt wehtun konnte, niemand mehr, den sie verletzen konnte.
Nur die EVAs waren noch bei ihr, stumme Gefährten im selbstgewählten Exil...


*** NGE ***


Misato wurde aufgrund des Verlustes des Hauptquartiers und der EVA wieder zum Captain degradiert, den Rest des Jahres 2016 driftete sie von einem UN-Stützpunkt zum nächsten, bis sie im Frühjahr 2017 den Dienst quittierte.


*** NGE ***


Kozo Fuyutsuki trat zu Beginn des Jahres 2016 eine Professorenstelle an der Universität von Osaka-2 an. Nach den Ereignissen in Tokio-3 am 3.März half er Ritsuko Akagi, welche von verschiedenen Gruppen der privaten Wirtschaft stark umworben wurde, aber - zu Recht - befürchtete, daß man sie nur dazu bringen wollte, weitere Biowaffen zu züchten oder Mechas zu konstruieren, ebenfalls an der Universität Fuß zu fassen.

Akagi legte sich eine bescheidene Wohnung zu, die sie von ihrem Gehalt gerade tragen konnte, die Bank, von der sie damals ein Darlehen erhalten hatte, um die Behandlungen Hikari Horakis und Mari Suzuharas tragen zu können, verschlang mit ihren Zinsen den Rest.

Maya Ibuki promovierte gegen Ende des Jahres und eröffnete ihre eigene Programmierfirma, deren Spezialgebiet Systemanalytik war.

Im April 2017 stand Misato überraschend vor Ritsukos Apartmenttür, ihren Pinguin auf dem Arm, und fragte, ob Akagi sie vorübergehend bei sich aufnehmen könnte, bis sie eine Wohnung gefunden hatte.

Über seine Beziehungen schaffte Fuyutsuki es, auch Katsuragi unterzubringen, wenn auch die Möglichkeiten stark begrenzt waren; so konnte der Professor ihr nur einen Job als Nachtwächterin auf dem Campus vermitteln, den sie jedoch nicht ausschlug. Dank des wenn auch niedrigen Gehaltes konnte sie eine kleine Wohnung beziehen.

So vergingen zwei Jahre...


*** NGE ***


Im Juli 2019 erreichte Ritsuko Akagi ein Päckchen, das in Osaka-2 aufgegeben worden war.
Ritsuko staunte nicht schlecht, als sich der Inhalt des Päckchens über ihren Küchentisch ergoß - es waren große Geldnoten. Automatisch sammelte sie die einzelnen Scheine auf, fand auch den Brief, der ihnen beilag.

Ritsuko-san,
als wir uns in der Nacht nach der Zerstörung von EVA-00 begegneten, gaben Sie mir Geld, damit ich Tokio-3 verlassen konnte. Ich möchte Ihnen hiermit den Betrag mit Zinsen zurückzahlen, um mich für Ihre Freundlichkeit zu bedanken.
Bitte geben Sie diesen Brief an Misato-san weiter, Shinji läßt Sie beide ganz herzlich grüßen.
Rei Ayanami

Ritsuko blickte von dem Zettel zu dem Haufen Geldnoten, las dann noch einmal die Zeilen.
Sie mußte sich setzen.
Das war viel mehr, als sie Rei damals gegeben hatte. Vor ihr lag ein Vermögen auf dem Tisch.
Mehrmals mußte sie tief durchatmen.
Dann begann sie zu zählen.
Das Ergebnis überraschte sie derart, daß sie noch einmal nachzählte.
Tatsächlich kam sie zum gleichen Ergebnis wie zuvor - die Summe entsprach genau dem aufgenommenen Kredit plus ihren Ersparnissen, welche sie ebenfalls zur Erfüllung ihres Versprechens gegenüber Hikari eingesetzt hatte.

Eine ganze Weile saß sie wie erstarrt am Tisch...


*** NGE ***


Der Winter desselben Jahres sah den Beginn und das abrupte Ende eines eigentlich schweren Konfliktes im Nahen Osten, zwei waffenstarrende Parteien standen sich gegenüber, offiziell ging es um Gebietsansprüche, inoffiziell jedoch lag der Grund für den schwelenden Krieg in unterschiedlichen Religionen.

Versuche von dritter Seite, den Konflikt zu entschärfen, waren gescheitert.
Zu allem Überfluß verfügten beide Seite über atomare Waffen.
Und schließlich war der Punkt gekommen, an dem sie diese auch einsetzten...

In diesem Moment schien die Welt den Atem anzuhalten, schien manch ein Mensch zu glauben, daß das Inferno der Jahrtausendwende nun einen gewissermaßen verzögerten Abschluß finden würde.

Raketen jagten in den Himmel, schossen auf bewohnte Städte zu. Doch im letzten Augenblick änderten sie den Kurs, gingen in unbewohnten Gegenden nieder, als ihre Zielcomputer von außen umprogrammiert wurden. Explosionen blieben aus, als die Sprengsätze sich selbst entschärften.

Die computergesteuerten Abschußrampen verweigerten den Dienst, die Oberbefehlshaber erhielten jeder eine geheimnisvolle Nachricht, in welcher sie zu weiteren Verhandlungen aufgefordert wurden. Unterzeichnet waren die Botschaften mit dem Wort \'Erzengel\'.

Es war nicht das erste Mal, daß Erzengel in Aktion trat und auch nicht das letzte Mal, doch zuvor hatten sich die vier, welche die MAGI kontrollierten, auf kleinere Dinge beschränkt, die weniger Aufmerksamkeit erregen würden...


*** NGE ***


Mitte des Jahres 2020 erschien bei einem kleinen japanischen Buchverlag ein Roman, welcher den Titel \'Angriff der Engel\' trug. Obwohl die Handlung an anderen Orten angesiedelt war und andere Personen benutzte, war unschwer zu erkennen, daß sie sich auf die Ereignisse des Jahres 2015 in und um Tokio-3 bezog. Die Wiedergabe war derart genau, daß es sich nur um einen Insider handeln konnte, der all das vor Ort erlebt hatte - allerdings nicht um einen beliebigen Techniker oder gar einen der Brückenoffiziere, sondern von einem der Piloten selbst.
Das Buch erschien zunächst in kleiner Auflage, wurde dann aber aufgrund großer Nachfrage nachgedruckt und schließlich in verschiedene andere Sprachen übersetzt, bis zu einer Verfilmung sollten aber noch fünf Jahre vergehen.

Ritsuko Akagi, welche durch ihre neugewonnene finanzielle Unabhängigkeit endlich mehr Zeit für andere Dinge hatte, formulierte eine einfache Theorie über die Identität des Autors, welche da ganz lapidar lautete: Rei Ayanami.


*** NGE ***


Im Herbst 2022 erhielt Kozo Fuyutsuki ein Päckchen der gleichen Art wie schon Ritsuko Akagi drei Jahre zuvor, auch wenn ihm die Ähnlichkeit erst später aufgehen sollte.

Das Päckchen, welches der Professor in seinem Arbeitszimmer vorfand, als er abends heimkam, blieb zunächst unbeachtet, zuerst aß er die Mahlzeit, welche seine Haushälterin für ihn warmgestellt hatte, dann ordnete er seine Unterlagen und öffnete einige andere Briefe, ehe er sich dem Päckchen zuwandte.
Darin befanden sich, sauber gebündelt, verschiedene Wertpapiere - Aktien, Inhaberpapiere und dergleichen. Und ganz oben lag ein an ihn adressierter Brief.

Ich weiß nicht, welche Anrede ich an den Anfang dieses Briefes setzen soll. Ich weiß nicht, ob \'Subcommander\', \'Professor\' oder \'Vater\' korrekt wäre. Ich weiß nicht einmal, ob ich das vertrauliche \'Du\', oder das distanzierte \'Sie\' verwenden soll. Es ist nicht einfach. Deshalb verbleibe ich bei der gewohnten Anrede, dem \'Sie\', ich hoffe, Sie verstehen dies, Professor. Zu erfahren, daß Gendo Ikari nicht mein leiblicher Vater war, nahm eine große Bürde von mir - die Angst, eines Tages wie er werden zu können. Ich wünschte, ich hätte die Wahrheit eher erfahren. Und ich wünschte, Ihnen unter anderen Umständen begegnet zu sein. Aber man kann die Zeit nicht ändern, ich habe es versucht, ich weiß es. Als wir uns das letzte Mal begegneten, boten Sie mir Ihre Hilfe an, ich hoffe, es erscheint nicht unhöflich von mir, wenn ich jetzt von diesem Angebot Gebrauch mache.
Ich bin Ihrem Rat gefolgt und habe das Erbe meines Vaters für mich beansprucht, nachdem ich Rei wiedergefunden hatte - sicher verstehen Sie nicht ganz, wovon ich spreche, aber ich möchte es gerne dabei bewenden lassen. Der restliche Inhalt des Päckchens, das ich Ihnen geschickt hatte, wurde mit einem guten Teil dessen erworben, was ich fand. Ich möchte Sie nun bitten, diese Wertpapiere für mich und Rei zu verwalten, wir gehen beide davon aus, daß einige von ihnen in naher Zukunft stark im Wert ansteigen werden. Den Erlös - Dividende nennt man es wohl, glaube ich - bitte ich Sie, in vier Teile zu teilen, der erste soll auf das Konto, dessen Nummer auf der Rückseite dieses Zettels steht, überwiesen werden, damit Rei und ich etwas Geld zur Verfügung haben. Der zweite Teil steht zu Ihrer freien Verfügung. Den dritten Teil bitte ich Sie, zum Ankauf weiterer Aktienpakete und anderer Wertpapiere einzusetzen, um den Pool zu mehren. Und der vierte Teil des Gewinnes soll gemeinnützigen Organisationen nach Ihrer Wahl zukommen, ich denke, Sie können gut beurteilen, wo Geld benötigt wird. Sollten Sie nicht die Zeit für derartiges haben, oder sollten Sie entgegen meinen Erwartungen zu der Auffassung kommen, dem nicht gewachsen zu sein, bitte ich Sie, die Sache in die Hände eines Notars Ihres Vertrauens zu legen.
Und bitte übergeben Sie diesen Brief - das Original, keine Kopie - Misato mit den besten Wünschen von Rei und mir.
Ich danke Ihnen.
Shinji
P.S.: Rei läßt Sie grüßen.

Fuyutsuki las den Brief mehrfach, drehte und wendete ihn, nahm dann das Päckchen selbst in Augenschein, konnte aber keinen Anhaltspunkt darauf finden, wo der Absender wohnte, seine Haushälterin berichtete später, es auf der Türschwelle vorgefunden zu haben.
Noch einmal las er sich den Brief durch.

\"Du kannst auf mich zählen... mein Sohn...\"


*** NGE ***


Leise vor sich hinsummend goß Asuka die heranwachsenden Melonen in dem kleinen Garten außerhalb des Hauptquartiers.
Sie trug einen weiten Overall und keine Schuhe.
Eigentlich hätte sie es nicht nötig gehabt, sich um die Melonen zu kümmern, sie hätte es nur ihrer Mutter mitteilen müssen, und einer der Arbeitsroboter, deren Heer mittlerweile auf über zweihundert angewachsen war, hätte sich darum gekümmert. Außerdem gab es noch die hydroponischen Gärten, in denen Obst und Gemüse wuchsen, sowie die großen und kaum angetasteten Vorratslager.
Aber so konnte sie sich beschäftigen, wenn es ihr langweilig wurde.
Mehr wollte sie nicht...


*** NGE ***


Anfang 2023 erhielten Misato und Ritsuko jede eine Einladung zu einer Hochzeit, Absender waren Toji Suzuhara und Hikari Horaki. Allerdings sahen beide Frauen sich außerstande, den Termin wahrzunehmen, Ritsuko steckten mitten in einer Vortragsreihe und Misato konnte es sich nicht leisten, freizunehmen und durch das halbe Land zu fahren. Beide sagten mit Bedauern ab, schickten aber jede ein kleines Geschenk - und vergaßen das Ereignis in der Folge.

Erst ein gutes Jahr später, im Spätfrühling 2024, erinnerte Misato sich der Einladung und rief unter der ebenfalls angegebenen Nummer an. Sie sprach kurz mit Hikari, die sie herzlich einlud, sie über das Wochenende zu besuchen.
Mittlerweile hatte Katsuragis Lage sich verbessert, sie war zur Leiterin der Nachtschicht des Campussicherheitsdienstes aufgestiegen. Also nahm sie sich das übernächste Wochenende frei, brachte ihren inzwischen recht betagten Wagen zur Inspektion in die Werkstatt und bereitete alles für die Reise vor.
In ihrem Gepäck befanden sich auch die insgesamt drei Briefe, welche Shinji und Rei seit ihrer Rückkehr aus der Schweiz verschickt hatten und die wunschgemäß an Misato weitergeleitet worden waren.

Und tatsächlich befand sie sich anderthalb Wochen später mit PenPen früh morgens auf dem Weg. Die Reise verlief ohne Komplikationen.


*** NGE ***


Die Adresse, die Hikari Misato genannt hatte, bezeichnete eine Pension mit angeschlossenem Restaurant. Überrascht verglich Misato noch einmal die aktuelle Adresse mit ihren Informationen, dann beschloß sie, das Haus zu betreten und sich zu erkundigen.

Wie sich herausstellte, betrieben Hikari und Toji Suzuhara das Restaurant, während Hikaris Schwestern die Pension managten und Tojis Schwester Mari im Restaurant arbeitete.
Es war ein ruhiger Vormittag, so daß Misato schon bald mit Toji und Hikari in aller Ruhe an einem der Tische saß und kurz erzählte, was sich noch alles zugetragen hatte.
Die beiden hörten ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, doch als Misato sie schließlich nach Shinji und Rei fragte und ob sie vielleicht wüßten, wo die beiden sein könnten, wurden sie unruhig.

Schließlich rückte Toji mit der Sprache heraus.
\"Wir wissen nicht, wo sie wohnen, aber wir haben öfters Post bekommen... als hätte jemand ihnen von unserer Hochzeit erzählt.\"
Bei dieser Gelegenheit drückte er Hikaris Hand.
\"Und schließlich... ahm...\"

An dieser Stelle übernahm Hikari.
\"Ich hatte von den Vereinten Nationen eine gewisse Summe als Entschädigung für das, was mir mit EVA-03 zugestoßen ist, erhalten, davon haben wir das Lokal und die Pension gekauft und provisorisch ausgestattet. Damals erschien alles so einfach, wir dachten, wenn wir alle mitarbeiten, könnte es nur klappen, daß wir eine Goldgrube besäßen und daß wir gründlich renovieren könnten, sobald erstmal wieder etwas Geld in der Kasse war. Leider war die Wirklichkeit ganz anders - das Geschäft lief schlecht, die Kundschaft blieb aus, einige Leute hatten mehr Interesse daran, meine kleine Schwester - und natürlich auch Mari - zu belästigen, als bei uns zu essen... die Konkurrenz war stark und schließlich gab es noch Ärger mit einer Jugendgang...\"

\"Aber zumindest um die habe ich mich gekümmert!\" warf Toji ein.

\"Ja, das hat er\", lächelte Hikari. \"Jedenfalls - es sah nicht gut aus, wir mußten jeden Yen mehrmals umdrehen, vor zwei Monaten erwogen wir sogar, alles zu schließen und wieder zu verkaufen. Wenn Sie da gekommen wären, Katsuragi-san, hätten Sie wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.\"

\"Der Bau war eine Bruchbude. Bin leider kein toller Handwerker\", murmelte Toji.

\"Doch dann brachte die Post ein Paket, oder besser ein Päckchen. Es kam von Shinji und Rei. Und es enthielt genug Geld, um uns die Renovierung zu ermöglichen, die Anschaffung einer neuen Küche und noch ein paar andere Dinge. Und jetzt läuft das Geschäft. Heute abend zum Beispiel findet hier eine Jubiläumsfeier einer örtlichen Firma statt. Aber ohne die Finanzspritze hätten wir es wohl nicht geschafft.\"

\"Ah, wartet, ich hole mal den Brief.\"
Toji stand auf.

\"Stimmt ja! - Katsuragi-san, wir sollten den Brief Ihnen aushändigen. Irgendwie schien Ikari-kun davon überzeugt, daß Sie uns besuchen würden.\"

\"Wirklich?\"
Misato runzelte die Stirn. Dann holte sie die anderen drei Briefe hervor und legte sie auf die Tischfläche.
Und zum ersten Mal fielen ihr die schwachen Linien im Papier auf.
Als ob die Briefe zusammenpassen würden...

Toji kam mit dem Brief zurück, welcher dem Päckchen beigelegen hatte.
\"Hier.\"

Toji und Hikari / Suzuhara-kun und liebe Hikari
Anbei ein verspätetes Hochzeitsgeschenk, wir hoffen, daß wir euch bei Gelegenheit einmal in eurem Restaurant besuchen können. Derzeit haben wir jedoch ziemlich viel um die Ohren.
Grüßt bitte Mari von uns.
Und gebt diesen Brief Misato, wenn sie bei euch vorbeikommt.
Wir melden uns.
Shinji + Rei

\"Wir hatten nicht einmal ihre Adresse, um uns bedanken zu können... und außerdem hätten wir das Geld auch nicht annehmen können...\"
Toji seufzte.
\"Ikari wußte schon immer, wie er jemanden dazu bringen kann, in seiner Schuld zu stehen.\"

\"Toji, rede nicht schlecht über ihn, ja?\" ermahnte Hikari.

\"Das tue ich doch gar nicht, mein Schatz.\"
Er nahm ihre Hand und küßte ihre Fingerspitzen.
\"Du weißt doch, daß ich jeden Tag an die beiden denke und ihnen alles Gute wünsche.\"

Misato starrte derweil auf die vier Papierstücken vor ihr.
Rasch arrangierte sie sie um.
Jetzt konnte sie klar eine Straßenkarte erkennen.
Plötzlich mußte sie lächeln.
Das ihr das nicht schon eher aufgefallen war... ihr eigener Brief, der erste der vier, die Shinji und Rei verschickt hatten, hätte schon genügt, um die beiden ausfindig zu machen!
Sie lehnte sich zurück.
\"Ab wann kann man bei euch etwas essen? Und ich bräuchte ein Zimmer für die Nacht. Aber morgen früh mache ich mich wieder auf den Weg...\"


*** NGE ***


Misatos Ziel am nächsten Tag war eine kleine Stadt etwa drei Stunden nördlich der Ruinen von Tokio-3. Dorthin jedenfalls deutete ein winziger Pfeil auf der in das Briefpapier eingeprägten Straßenkarte.

Toji und Hikari hatten sich herzlich von ihr und PenPen verabschiedet und ihnen noch ein großes Lunchpaket mit auf den Weg gegeben.

Gegen Mittag erreichte Misato ihr Ziel, es war ein kleiner Ort mit vielleicht fünftausend Einwohnern, der recht weitläufig war; die Menschen wohnten nicht dicht an dicht, sondern zumeist in kleinen, von Gärten umgebenen Häusern.

Misato lenkte ihren Wagen auf einen Parkplatz am Stadtrand und inspizierte die kleine Karte erneut, hielt sie schließlich gegen das Licht, erkannte, daß sich unter der ersten Karte eine weitere befand, dieses mal eine Karte des Ortes.

\"PenPen, ich schätze, wir sind bald da\", murmelte sie.

\"Wark!\" erklärte der Pinguin auf dem Beifahrersitz.


*** NGE ***


Am Ende einer schmalen Seitenstraße, die Misato fast übersehen hätte, befand sich ein Haus inmitten eines Gartens voller blühender Wildblumen.

Misato fuhr bis an die Pforte im Zaun, der das Grundstück umgab, heran, stieg dann aus, um sich umzusehen.
Als sie über den Zaun blickte, sah sie jemanden, der ihr den Rücken zuwandte. Die Person trug Jeans, Turnschuhe, ein T-Shirt und einen Strohhut und arbeitete gerade in einem Gemüsebeet, einem von mehreren inmitten des Blumenmeeres.
\"Äh, hallo!\" rief Misato. \"Entschuldigen Sie bitte...\"

Der Gärtner zuckte zusammen, richtete sich rasch auf und drehte sich um.
Dann ließ er sein Werkzeug fallen und trat freudestrahlend an den Zaun heran.

Misato mußte zweimal hinsehen, um ganz sicher zu gehen.
\"Shinji...\"
Der Junge hatte sich kaum verändert, obwohl knapp neuneinhalb Jahre vergangen waren, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, wirkte er immer noch wie ein Teenager, zwar nicht mehr wie ein Vierzehnjähriger, aber auch nicht älter als sechzehn.

\"Misato, endlich bist du da! Wir warten schon seit einiger Zeit auf dich!\"
Shinji riß die Gartenpforte auf und fiel Misato um den Hals, drückte sie fest.

Sie erwiderte die Umarmung.
\"Ich habe eure Hinweise erst gestern verstanden.\"

\"Egal, Hauptsache, du bist da...\"

\"Wark!\" meldete sich der Pinguin, der sich gerade von seinem Sicherheitsgurt befreit hatte.

\"Und du natürlich auch, PenPen. - Ahm, Misato, wollte ihr nicht mit hineinkommen?\"

\"Ja, gerne...\" stotterte Misato, immer noch ganz überrascht von dem jugendlichen Aussehen ihres früheren Mitbewohners.

Shinji führte sie auf einem kaum sichtbaren Pfad durch den Garten um das Haus herum. Der Eingang befand sich auf der Rückseite hinter einer breiten Terrasse, an welche sich ein Zierteich anschloß. Das Gebäude war einstöckig, im Dach befanden sich mehrere Fenster sowie ein Balkon, auf den man hinaustreten konnte.

\"Ihr... ihr wohnt hier? Ich meine, Rei und du?\"

\"Ja, seit etwa neun Jahren schon. Ahm, Rei ist gerade nicht da, sie macht Besorgungen im Ort... sie hatte heute morgen ein eigenartiges Gefühl, daß unsere Vorräte nicht ausreichen könnten. Ich... uh... schätze, jetzt weiß ich warum.\"
Shinji ließ Misato, welche PenPen trug, ins Haus, deutete den schmalen Flur hinab, in dem eine Treppe nach oben und zwei Türen weiterführten.
\"Falls du dich etwas frisch machen möchtest... ah... das Bad ist hier rechts und da vorn ist das Wohnzimmer.\"

Dankend nahm Misato das Angebot an und wusch sich erst einmal die Hände, dachte dabei darüber nach, was wohl mit Shinji passiert sein mochte... vielleicht lag seine augenscheinliche Jugend an den Auswirkungen des S2-Organs in seiner Brust...
Schließlich kam sie ins Wohnzimmer, wo Shinji an einem Schreibtisch saß und PenPen beobachtete, welcher den großen Raum inspizierte.

Der Wohnraum war ein helles großes Zimmer mit Fenstern in drei Wänden, die einen prächtigen Bild in den Garten ermöglichten, zugleich war er als Mehrzweckraum eingerichtet, in einer Ecke befand sich eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank, Herd und Spüle, die mittels eines Vorhanges abgetrennt war, dann gab es einen runden Eßtisch mit vier Stühlen, einen Fernseher in einer anderen Ecke, dem gegenüber ein Sofa und zwei Sessel standen, sowie zwei nebeneinanderstehende Schreibtische an einer Wand unter den Fenstern. Auf einem der Schreibtische stand ein PC.
Zwischen den Fenstern hingen Photos und eingerahmte Dokumente unter Glas.

\"Darf ich...?\" fragte Misato und deutete auf die Bilder und Schreiben.

\"Uhm... Fühl dich wie zuhause.\" lächelte Shinji.

Sie machte einen kleinen Rundgang.
Die Dokumente waren offizielle Zertifikate diverser Abschlüsse, demnach hatten die beiden über Fernkurse die Schule abgeschlossen und Kenntnisse auf mehreren Gebieten wie Computerwissenschaften und Gartenbau erlangt, sowie verschiedene Sprachkenntnisse erlangt.
\"Das ist beeindruckend.\"

\"Wir hatten viel Zeit.\"

\"Shinji, es ist so lange her...\"

\"Ja, aber Rei und ich wollten vermeiden, daß andere uns finden. Die Briefe mit den Kartenstücken waren schon ein ziemliches Risiko.\"

Misato konnte sehen, wie jemand auf einem Fahrrad ihr parkendes Auto umrundete, abstieg und dann auf die Gartenpforte zukam, ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen in Bluse, Shorts und Turnschuhen mit einer Baseballkappe auf dem Kopf, unter dem schulterlanges blaues Haar hervorquoll, und einer Sonnenbrille, welche die Augen verbarg.
\"Ist das Rei?\"

Shinji sprang auf, öffnete ein Fenster und winkte dem Mädchen zu.

\"Rei-chan, rate mal, wer hier ist.\"

\"Ich nehme an, du beziehst dich auf Misato-san.\" kam die Antwort ruhig und logisch durchdacht - der Sportwagen auf der Straße war ja auch ein nicht zu übersehender Anhaltspunkt, zumal das Kennzeichen immer noch dasselbe war.
Rei lehnte das Fahrrad innen gegen den Zaun und kam mit einem Einkaufskorb in der Hand zum Haus hinüber, welchen sie Shinji durch das Fenster reichte, ihm dabei einen flüchtigen Kuß gab und Misato anschließend Misato zunickte.
Kurz darauf kam auch sie in den Wohnraum, wo sie Misato mit einer Verbeugung begrüßte.
\"Willkommen in unserem Heim.\"

Kurz darauf saßen die drei Menschen und der Pinguin um den Eßtisch herum.
Doch ein Gespräch wollte irgendwie nicht aufkommen, zu sehr hing Misato an dem Gedanken fest, weshalb die beiden noch so jung waren.

\"Uh, Misato, stimmt etwas nicht?\" fragte Shinji schließlich.

\"Ich... ah... ich schätze, ich bin ein unhöflicher Gast. Es ist nur... dafür daß beinahe zehn Jahre vergangen sind, habt ihr euch kaum verändert.\"

\"Ja.\" bestätigte Rei knapp.

\"Das... uhm... das liegt an den S2-Organen, Misato. Ich habe meines ja von EVA-01 erhalten und Rei... na ja, uhm...\"

\"Meines stammt von dem Engel Armisael.\"

\"Oh.\" machte Misato überrascht. \"Und das verlangsamt eure Alterung?\"

\"Ja.\"

\"Ist ja toll... so etwas hätte ich auch gerne...\"
Sie dachte daran, daß sich ihre ersten grauen Haare wohl nicht mehr lange verbergen lassen würden.

\"Misato... ahm... ich weiß nicht, ob du dir das wirklich wünschen solltest... ich meine, Rei und ich sind eigentlich schon fast vierundzwanzig, sehen aber immer noch aus wie sechzehnjährige.\"

\"Und? Das war mein bestes Alter.\"

\"Also... ich habe jetzt endlich meine Pubertät hinter mir - nach beinahe zehn Jahren.\"

\"Zehn Jahre Pubertät?\"
Misato verzog das Gesicht.
\"Ich glaube, mir ist schlecht...\"

Shinji zog eine Leidensmiene.
\"Genau.\"

Rei stieß ihn leicht an.
\"Hast du sie schon gefragt?\"

\"Nein, noch nicht.\"

\"Was denn?\" fragte Misato.

\"Nun, uhm...\"
Er räusperte sich.
\"Misato, wir haben uns einigermaßen darüber informiert, was geschehen ist... äh, daß man dich degradiert hat und daß du jetzt bei einem Sicherheitsdienst arbeitest... und wir dachten, nun, vielleicht könnten wir uns bei dir für deine Freundlichkeit revanchieren. Ich meine, du hast damals er mich und dann später Rei und mich bei dir aufgenommen, als wir ihre Wohnung nicht hätten halten können... uh...\"

Misato lächelte.
\"Ach, Shinji, das war doch selbstverständlich. Ihr schuldet mir nichts, dafür war ja die Wohnung dann immer ordentlich... ich glaube, ich habe seitdem nicht wieder so regelt und gut gegessen... hach...\"
Sie seufzte.

\"Und deshalb wollten wir Ihnen einen Vorschlag machen, Misato-san\", erklärte Rei.

\"Also, Misato, das ist so... Uh, mittlerweile befürchten wir, daß es auffallen könnte, wenn wir weiterhin hier allein leben - du kannst es dir sicher vorstellen, zwei... uh... Kinder... die kaum altern...\"

\"Hm-m.\"
Misato nickte.

\"Und deshalb dachten wir, vielleicht könntest du uns helfen... ahm...\"
Er schluckte.
\"Nun ja, worauf ich hinaus wollte, ist folgendes: Natürlich kannst du hier so lange bleiben wie du willst. Und dann, irgendwann, fährst du zurück nach Osaka-2 zu deiner kleinen Wohnung mitten in der versmogten Stadt und deinem Job als Nachtwächterin. Oder aber... du bleibst hier bei uns... wie eine richtige kleine Familie... und ah...\"
Shinji wischte sich mit dem Handgelenk über die Augen.

\"Misato-san, die Wahl liegt bei Ihnen. Wir können Ihnen nur ein geräumiges Zimmer unter dem Dach mit Zugang zum Balkon und Blick auf den Garten bieten. Wo es für zwei reicht, hat auch ein dritter immer noch Platz - und natürlich ein Pinguin.\"

Misato sah die beiden nachdenklich an, blickte dann zu PenPen.
\"Was hältst du davon?\"

\"Wark!\" erklärte PenPen entschieden.

Misato nickte.
Eigentlich hielt sie nichts in Osaka-2, die Stadt war nie zu einer wirklichen Heimat geworden, jedenfalls nicht so wie Tokio-3 es gewesen war, die Stadt, für die sie gekämpft hatte...
\"Ihr wollte also wirklich, daß ich bei euch bleibe?\"

\"Ja, Misato-san.\"

\"Natürlich!\" rief Shinji.

\"Und ihr glaubt, ihr könnt mich ertragen?\"

\"Uh, es ist kein Bier im Kühlschrank\", murmelte Shinji.

\"Ich trinke nicht mehr. Seit dem Entscheidungskampf gegen die JSSDF... ich weiß, es klingt verrückt, aber da war so ein seltsames Licht... es hat mich ganz kurz berührt und dann war es auch wieder weg, obwohl ich den Eindruck hatte, eine Ewigkeit wäre vergangen... seitdem hatte ich keine Alpträume mehr.\"

\"Ich bin der Ansicht, daß wir miteinander auskommen werden.\" bekräftigte Rei.

\"Dann...\"
Misato lehnte sich zurück.
\"Dann sollten wir es versuchen...\"
Sie blickte zur Decke.
\"Tadaima... Ich bin zuhause...\"


ENDE

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